Das Unendliche und das Ich - Goethe | AVENTIN Blog --

Das Unendliche und das Ich - Goethe

Das Unendliche und das Ich - Johann Wolfgang von Goethe
Das Unendliche und das Ich 

Das Unendliche und das Ich - Johann Wolfgang von Goethe 


Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt auf die völlig freie Fläche eines runden hohen Turmes heraustreten.

Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum ersten Mal das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte.

Denn im gemeinen Leben, abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel, auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren Beunruhigungen des Gemüts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und Misswetter zu verdüstern, sich hin und her bewegen.

Ergriffen und erstaunt hielt er sich dann beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf, erhaben zu sein, es übersteigt unsere Fassungskraft, es droht, uns zu vernichten. Was bin ich denn gegen das Universum? sprach er in Gedanken zu sich. Wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?

Nach einem kurzen Überdenken jedoch fuhr er fort: Das Resultat unseres heutigen Abends löst ja auch das Rätsel gegenwärtigen Augenblicks.

Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die von vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebenden Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein herrlich Bewegtes um einen reinen Mittelpunkt kreisend hervortut?

Und selbst wenn es dir schwer würde, diesen Mittelpunkt in deiner Brust aufzufinden, so würdest du ihn daran erkennen, dass eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt.

Wer soll, wer kann aber auf sein vergangenes Leben zurückblicken, ohne gewissermaßen irre zu werden, da er meistens finden wird, dass sein Wollen richtig, sein Tun falsch, sein Begehren tadelhaft und sein Erlangen dennoch erwünscht gewesen?

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich nicht jederzeit anders gefunden? Sie aber sind immer dieselben und sagen immer das selbige. Wir bezeichnen, wiederholen sie durch unseren gesetzmäßigen Gang Tag und Stunde.

Frage dich auch, wie verhältst du dich zu Tag und Stunde?

Das Unendliche und das IchJohann Wolfgang von Goethe - Story

Autor*in: Johann Wolfgang von Goethe

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    Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt auf die völlig freie Fläche eines runden hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum ersten Mal das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte.