Goethe - Das Mädchen und der Klopfgeist
Goethe - Das Mädchen und der Klopfgeist
Bei einem wackeren Edelmann, meinem Freunde, der ein altes Schloss mit einer großen Familie bewohnte, war eine Waise erzogen worden, die, als sie herangewachsen und vierzehn Jahre alt war, meist um die Dame vom Hause sich beschäftigte und die nächsten Dienste ihrer Person verrichtete.
Man war mit ihr wohl zufrieden, und sie schien nichts weiter zu wünschen, als durch Aufmerksamkeit und Treue ihren Wohltätern dankbar zu sein. Sie war gebildet, und es fanden sich einige Freier um sie ein. Man glaubte nicht, dass eine dieser Verbindungen zu ihrem Glück gereichen würde, und sie zeigte auch nicht das mindeste Verlangen ihren Zustand zu ändern.
Auf einmal begab es sich, dass man, wenn das Mädchen in dem Haus geschäftlich herum ging, unter ihr, hier und da, pochen hörte. Anfangs schien es zufällig, aber da das Klopfen nicht aufhörte und beinahe jeden ihrer Schritte bezeichnete, wurde sie ängstlich und traute sich kaum mehr aus dem Zimmer der gnädigen Frau heraus zu gehen, als in welchem sie allein Ruhe hatte.
Dieses Pochen wurde von jedermann vernommen, der mit ihr ging oder nicht weit von ihr stand. Anfangs scherzte man darüber, endlich aber fing die Sache an unangenehm zu werden. Der Herr vom Hause, der von einem lebhaften Geist war, untersuchte nun selbst die Umstände.
Man hörte das Pochen nicht eher, als bis das Mädchen ging, und nicht sowohl indem sie den Fuß aufsetzte, als indem sie ihn zum Weiterschreiten aufhob. Doch fielen die Schläge manchmal unregelmäßig, und besonders waren sie sehr stark, wenn sie quer über einen großen Saal den Weg nahm.
Der Hausvater hatte eines Tages Handwerksleute in der Nähe und ließ, da das Pochen am heftigsten war, gleich hinter ihr einige Dielen aufreißen. Es fand sich aber nichts, außer dass bei dieser Gelegenheit ein paar große Ratten zum Vorschein kamen, deren Jagd viel Lärm im Hause verursachte.
Entrüstet über diese Begebenheit und Verwirrung griff der Hausherr zu einem strengeren Mittel, nahm seine größte Hetzpeitsche von der Wand und schwor, dass er das Mädchen bis auf den Tod prügeln wolle, wenn sich noch ein einziges Mal das Pochen hören ließe.
Von der Zeit an ging sie ohne Anfechtung im ganzen Haus herum, und man vernahm von dem Pochen nichts mehr weiter.
Das Mädchen und der Klopfgeist – Johann Wolfgang von Goethe - Story
Autor*in: Johann Wolfgang von Goethe
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Bei einem wackeren Edelmann, meinem Freunde, der ein altes Schloss mit einer großen Familie bewohnte, war eine Waise erzogen worden, die, als sie herangewachsen und vierzehn Jahre alt war, meist um die Dame vom Hause sich beschäftigte und die nächsten Dienste ihrer Person verrichtete.