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Taliesins Rätsel - Märchen aus Wales

Taliesins Rätsel – Märchen aus Wales – Kelten
Taliesins Rätsel 

Taliesins Rätsel – Märchen aus Wales – Kelten

Ein Edelmann aus Penllyn mit Namen Tegid Voel hatte eine Frau, die hieß Caridwen, und zwei Kinder, Creiwy, das schönste Mädchen unter Sonne, und Afagddu, der hässlichste Knabe auf der Welt.

Da nun Afagddu so abstoßend aussah, beschloss Caridwen, ihm wenigstens große Klugheit zu verleihen. Also stellte sie nach einem Rezept des Zauberers Vergil von Toledo einen Zaubertrank her, der Inspiration und Wissen verleihen sollte. Das Gebräu musste ein Jahr lang in einem Kessel am Kochen gehalten werden.

Zu jeder Jahreszeit warf Caridwen neue Zauberkräuter in den Kessel, die sie zur rechten Stunde gepflückt hatte. Während sie die Kräuter pflückte, stellte sie Gwion an, den Sohn des Gwreang aus dem Sprengel Llanfair in Caereinion und ließ ihn den Kessel umrühren.

Gegen Ende des Jahres aber spritzten drei Tropfen der Flüssigkeit aus dem Kessel und fielen auf Gwions Finger. Der steckte den Finger in den Mund, um die ätzende Flüssigkeit abzulecken. Sofort verstand er die Sprache der Tiere und Pflanzen und hatte Kenntnis von allen vergangenen zu zukünftigen Ereignissen.

So wusste er nun auch, dass er auf der Hut sein musste vor Caridwen, die beschlossen hatte, ihn zu töten, sobald sie seiner zum Umrühren des Zaubertranks nicht mehr bedurfte. Er floh daher, und sie verfolgte ihn in der Gestalt einer schwarzen, kreischenden Hexe.

Durch die Zauberkraft, derer er durch die drei Tropfen teilhaftig geworden war, verwandelte er sich in einen Hasen; sie nahm die Gestalt eines Windhundes an. Er sprang in den Fluss und wurde ein Fisch. Sie verwandelte sich in einen Fischotter. Er stieg auf in die Luft als ein Vogel; sie verwandelte sich in einen Falken. Er wurde zu einem Weizenkorn auf der Tenne. Sie verwandelte sich in eine schwarze Henne, scharrte im Stroh, fand das Korn und verschluckte es.

Als Caridwen darauf wieder ihre ursprüngliche Gestalt annahm, spürte sie, dass sie schwanger war mit Gwion und neun Monate später gebar sie ihn als Kind. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu töten, denn er war sehr schön. Sie ließ ihn in einen Sack einbinden und warf ihn zwei Tage vor dem 1. Mai-Tag ins Meer.

Die Wellen trugen Gwion zu der Reuse Gwyddno Garanhair nahe Dovey und Aberystwyth in der Bucht von Cardigan. Dort wurde er vom Prinzen Elphin, dem Sohn des Gwyddno und dem Neffen des Königs von Nord-Wales, der zum Wasser gekommen war, um nach den Netzen zu schauen, gefunden.

Elphin war nicht traurig darüber, dass er keinen Fisch gefangen hatte. Er war über seinen ungewöhnlichen Fang sehr zufrieden. Er gab Gwion den Namen Taliesin, was soviel bedeutet wie ‘von hohem Wert’ oder ‘schöne Augenbraue’.

Als nun Elphin von seinem königlichen Onkel in Dyanwy gefangen gesetzt wurde, machte sich das Kind Taliesin auf nach der Hauptstadt von Nord-Wales, um ihn zu befreien. Er gedachte, sich dabei nur auf seine Weisheit und sein Wissen zu verlassen, mit dem er alle vierundzwanzig Hofbarden in Mawelgwyn samt ihrem Oberbarden, Heinin, übertreffen wollte.

Zunächst legte er einen Zauber auf die Barden, nach welchem sie nur lallende Laute hervorbringen konnten, wenn sie versuchten, auf den Fingern zu pfeifen. Darauf sagte er ein langes Rätselgedicht auf, das keiner von ihnen zu lösen vermochte.

Das beschämte sie sehr, und sie versprachen ihm, Elphin sollte frei sein, sofern sie noch bei einem weiteren Rätsel die Lösung nicht finden könnten. Sie hielten dies für ausgeschlossen, denn immerhin waren sie die klügsten Männer in ganz Wales, und der ihnen gegenüber stand schien in ihren Augen nur ein unwissendes Kind zu sein. Da sprach Taliesin zu ihnen:


Entdeckt mir, was ist dies:

Die stärkste Kreatur vor der Flut,

ohne Fleisch und ohne Knochen,

ohne Kopf und ohne Füße.

Im Feld und im Wald,

ohne Hand und ohne Fuß.

Es ist weit, wie die Oberfläche der Erde.

Es wurde nie geboren und nie gesehen!


Sie rieten dies und rieten das, aber es war nie die richtige Lösung, und als sie drei Tage und drei Nächte geraten hatten, gaben sie auf. Da sprach Taliesin: “Seht, wie eitel all eure Weisheit und euer Wissen ist. Ihr habt nur aus staubigen Büchern gelernt. Aber das Wesen der Natur ist euch verborgen geblieben, sonst wüsstet ihr, dass des Rätsels Lösung der Wind ist.”

Da waren die hochgelehrten Barden sehr beleidigt, dass ein Kind sie an Wissen und Weisheit übertroffen hatte, und den Gefangenen wollte sie natürlich nicht herausgeben. Doch schon, als Taliesin das Lösungswort ausgesprochen hatte, erhob sich ein Wehen, das stärker und stärker wurde. Es wurde zum Wind, und der Wind wurde zum Sturm, und aus dem Sturm wurde ein Orkan. Der Orkan brach den Turm nieder, der über dem Kerker gebaut war, und hob den Gefangenen, der in einem Zisternenloch in Ketten lag, hoch. Und Taliesin löste die Fesseln mit Zaubersprüchen.

Den Barden aber fuhr der Wind unter ihre Gewänder, hob sie hoch in die Luft, wo sie, von unsichtbarer Hand angerührt, tanzten, bis sie heilige Eide zu Elphins und Taliesins Sicherheit schworen und das zaubermächtige Kind sie erlöste und ihnen gestattete, wieder festen Boden unter ihren Füßen zu spüren.

Taliesins Rätsel – Märchen aus Wales – Kelten - England

Autor*in: Märchen aus Wales

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    Ein Edelmann aus Penllyn mit Namen Tegid Voel hatte eine Frau, die hieß Caridwen, und zwei Kinder, Creiwy, das schönste Mädchen unter Sonne, und Afagddu, der hässlichste Knabe auf der Welt. Da nun Afagddu so abstoßend aussah, beschloss Caridwen, ihm wenigstens große Klugheit zu verleihen.