Clown Maurer oder Dichter |
Clown Maurer oder Dichter - Reiner Kunze - Aufgabe Zukunft und Beruf
Ich gebe zu, gesagt zu haben: Kuchenteller. Ich gebe ebenfalls zu, auf die Frage des Sohnes, ob er allen Kuchen auf den Teller legen solle, geantwortet zu haben: allen! Und ich stelle nicht in Abrede, dass der Kuchen drei Viertel der Fläche des Küchentischs einnahm.
Kann man denn aber von einem zehnjährigen Jungen nicht erwarten, dass er weiß, was gemeint ist, wenn man Kuchenteller sagt? Das Händewaschen hatte ich überwacht, und dann war ich hinausgegangen, um meine Freunde zu begrüßen, die ich zum Kuchenessen eingeladen hatte. Frischer Kuchen von unserem Bäcker ist eine wahre Delikatesse.
Als ich in die Küche zurückkehrte, kniete der Sohn auf dem Tisch. Auf einem jener Kuchenteller, die nur wenig größer sind als eine Untertasse, hatte er einen Kuchenturm errichtet, neben dem der schiefe Turm zu Pisa senkrecht gewirkt hätte. Ich sparte nicht mit Stimme.
Ob er denn nicht sähe, dass der Teller zu klein sein.
Er legte sich mit der Wange auf den Tisch, um den Teller unter diesem völlig neuen Gesichtspunkt zu betrachten.
Er müsse doch sehen, dass der ganze Kuchen nicht auf diesen einen Teller passe.
Aber der Kuchen passe doch, entgegnete er. Das eine Blech lehnte am Tischbein, und auch das andere war fast leer.
Ich begann, mich laut zu fragen, was einmal aus einem Menschen werden solle, der einen Quadratmeter Kuchen auf eine Untertasse stapelt, ohne auch nur einen Augenblick daran zu zweifeln, dass sie groß genug sein könnte.
Da standen meine Freunde bereits in der Tür.
„Was aus dem Jungen werden soll?“ fragte der erste, meine Worte aufnehmend. Er peilte den Turm an. „Der Junge offenbart ein erstaunliches Gefühl für Balance. Entweder er geht einmal zum Zirkus, oder er wird Maurer.“
Der zweite ging kopfschüttelnd um den Turm herum. „Wo hast du nur deine Augen?“ fragte er mich. Erst jetzt entdeckte ich, dass die von mir geschnittenen Kuchenstücke gevierteilt waren, als wären wir zahnlose Greise.
Mein Freund sah die größeren Zusammenhänge: „Siehst du denn nicht, dass in dem Jungen ein Künstler steckt?“ sagte er. „Der Junge hat Mut zum Nie da Gewesenen. Er verknüpft die Dinge so miteinander, dass wir staunen. Er hat schöpferische Ausdauer. Vielleicht wird aus ihm sogar einmal Dichter, wer weiß.“
„Eher ein richtiger oder ein genialer Soldat“, sagte der dritte, den ich jedoch sogleich unterbrach. „Soldat? Wieso Soldat?“ fragte ich auf die Gefahr hin, dem Sohn die Wörter wieder abgewöhnen zu müssen, die zu erwarten waren, sobald sich dieser Freund seiner Armeezeit erinnerte.
Er antwortete: „Ein richtiger Soldat, weil er auch den idiotischsten Befehl ausführt. Und ein genialer Soldat, weil er ihn so ausführt, dass das Idiotische des Befehls augenfällig wird. Ein Mensch wie er kann zum Segen der ganzen Truppe werden.“
Ich hoffte, der Sohn würde das meiste nicht verstanden haben. Am Abend hockte er sich jedoch zu Füßen seiner Schwester aufs Bett und fragte sie, was zu werden sie ihm denn rate: Clown, Maurer oder Dichter. Soldat zu werden, zog er nicht in Betracht, weil er es dann mit Vorgesetzten wie seinem Vater zu tun haben könnte.
Seitdem bedenke ich, wer bei uns zu Gast ist, bevor ich eines meiner Kinder kritisiere.
Clown Maurer oder Dichter - Reiner Kunze - Aufgabe Zukunft Beruf
Autor*in: Reiner Kunze
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Ich gebe zu, gesagt zu haben: Kuchenteller. Ich gebe ebenfalls zu, auf die Frage des Sohnes, ob er allen Kuchen auf den Teller legen solle, geantwortet zu haben: allen! Und ich stelle nicht in Abrede, dass der Kuchen drei Viertel der Fläche des Küchentischs einnahm.