Die Selbsterfahrungsgruppe - Therapie | AVENTIN Blog --

Die Selbsterfahrungsgruppe - Therapie

Die Selbsterfahrungsgruppe - Wolfgang Körner - Therapie
Die Selbsterfahrungsgruppe 

Die Selbsterfahrungsgruppe - Wolfgang Körner - Therapie


Um das wichtigste gleich am Anfang zu sagen, das Selbsterfahrungswochenende kostete viel Geld, und wir hätten niemals daran teilgenommen, wenn uns Hubert nicht erklärt hätte, wie wichtig so was für den Menschen sei.

»Man lernt viele Leute kennen«, sagte er. »Man kann über seine Probleme nachdenken und reden, und man fühlt sich danach wie neugeboren.«

Wenn Hubert so etwas sagt, muss man es ihm glauben, denn er hat von uns allen in Psycho-Angelegenheiten die meiste Erfahrung. Er hat in Kalifornien den Urschrei korrekt auszustoßen gelernt. Er war nicht nur ein halbes Jahr in Poona und danach ein Jahr in Oregon, er hat sogar ein Jahr Gestalttherapie absolviert und kürzlich in der Reinkarnationstherapie herausgefunden, dass er jetzt zwar Hubert ist, aber zuvor schon als Ramses II für die Nilkultivierung gesorgt hat.

Im späten Mittelalter übrigens, aber diese Einsicht verdankt er nur einer ungewöhnlich tiefen Tiefenhypnose, ist er bereits einmal wegen Hexerei auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Auch meine Freundin Renate vertraut ihm.

»Wenn man ihm in psychischen Angelegenheiten nicht trauen kann«, sagte sie, »kann man in solchen Angelegenheiten keinem trauen.« Natürlich folgten wir seiner Anregung, endlich mal etwas für unser seelisches Wohl zu tun.

Das Selbsterfahrungswochenende fand in einem Bildungsforum statt. Der Gruppenleiter begrüßte uns freundlich. Er rauchte nicht nur ungemein wohlriechenden englischen Tabak, sondern er sagte uns auch, dass er zwölf Semester Psychologie, acht Semester Soziologie und fünf Semester Politologie studiert habe. »Zuerst werden wir schweigend durch den Raum schreiten«, erklärte er uns dann, »um uns mit dem Ort unseres Seminars vertraut zu machen!«

Wir schritten schweigend. Der Raum sah so aus wie wahrscheinlich viele Räume in Volkshochschulen. Stühle und Tische standen in strenger Ordnung aufgereiht, und an einer Wandtafel erinnerten die Reste eines Computer-Programms daran, dass dieses Zimmer am Vorabend anderen Zwecken gedient hatte.

Als nächstes forderte uns der Seminarleiter auf, die Nähe jenes Seminarteilnehmers zu suchen, der uns von allen am sympathischsten sei, um ihm zu erklären, wie wir uns fühlten und was wir von ihm hielten. Ich betrachtete unsicher die Seminarteilnehmer und ging dann auf eine sehr schöne Blondine zu, um ihr zu erklären, dass ich mich sehr wohl fühle und sie für eine ungemein sympathische Frau halte.

»Ich fühle mich total frustriert«, sagte die Blondine. »Und dich halte ich für einen schlimmen Chauvi!«

War das die erste Selbsterfahrung? Ich wurde aufgeregt, aber gerade, als ich mich rechtfertigen und auf meine lange feministische Vergangenheit hinweisen wollte, sonderte der Gruppenleiter eine Rauchwolke ab und deutete auf die Stühle, die er inzwischen zu einem Kreis zusammengerückt hatte. Wir setzten uns, und jetzt sollten wir den anderen erklären, weshalb wir uns zu diesem Selbsterfahrungswochenende angemeldet hätten.

»Ich habe Beziehungsschwierigkeiten«, sagte ein Mädchen, das bislang nur stumm an seinem Palästinenser-Halstuch herumgenestelt hatte, und jetzt kam endlich Leben in die Gruppe. Alle hatten Beziehungsschwierigkeiten, aber als eine alte Frau von ihrer Einsamkeit im Altersheim erzählen wollte, schnitt ihr der Gruppenleiter das Wort ab.

»Das Hauptproblem sind immer die Beziehungsschwierigkeiten«, erklärte er kurz und bündig. »Und deshalb werden wir jetzt Familien bilden. Jeder wird sich einen Vater und eine Mutter suchen!« Wieder begann das große Stühlerücken.

Ich wollte die schöne Blondine zu meiner Mutter machen, aber sie wählte sich gerade Hubert als ihren Vater, also entschloss ich mich, Renate zur Abwechslung mal zu meiner Mutter zu machen und Hubert zu meinem Vater, denn auf diese Weise wurde die schöne Blondine wenigstens meine Tante. Wir umarmten uns alle vier, und dann fragte der Gruppenleiter, wie wir uns fühlten.

»Prima!« sagte Renate und strahlte dabei glücklich wie lange nicht mehr. Der Gruppenleiter zog die Augenbrauen skeptisch zusammen. »Na?« fragte er verärgert. »Wirklich?? – Gib es doch zu, du verdrängst nur deine Probleme!«

Damit war ein wichtiges Stichwort gefallen. Hubert erzählte, dass er immer wieder jene Nacht verdrängen müsse, in der man ihn auf den Scheiterhaufen geschleppt und verbrannt hatte. Die Blondine erklärte, dass sie ständig verdrängen müsse, wie frustriert sie sich fühle, und die alte Frau wollte wieder von ihrem Altersheim erzählen, aber keiner hörte ihr zu, weil alle viel lieber vom Gruppenleiter erfahren wollten, was er verdrängte.

Er überlegte lange, und es sah so aus, als würde er es tatsächlich schaffen, seine Panzerungen zu durchbrechen, aber als er endlich den Mund öffnete, sonderte er nur erneut eine Rauchwolke ab und forderte uns auf, jetzt offen zu erklären, was wir von den anderen dächten.

Ein rothaariger junger Mann mit einer Bhagwan-Mala um den Hals deutete mit seinem spitzen Zeigefinger auf mich: »Der Typ guckt mich dauernd so misstrauisch an!« sagte er, aber Hubert lenkte sofort ab. »Mir gefällt deine Frisur nicht!« sagte er unvermittelt zu der schönen Blondine. »Deine Haare sehen aus, als ob du sie vier Wochen lang nicht gewaschen hättest!«

»Wirklich?« fragte die Blondine erschrocken, und als sie sich in einem Spiegel betrachtet hatte, fing sie an zu weinen.

»Na endlich!« strahlte der Gruppenleiter. »Wir müssen uns völlig öffnen, alles heraus lassen, was wir vor uns und anderen ständig zu verbergen versuchen!«

»Ich habe Beziehungsschwierigkeiten!« wiederholte die Blondine, diesmal weinend, aber als Hubert sie an sich ziehen wollte, stieß sie ihn empört zurück.

»Dann eben nicht!« sagte Hubert. »Du hast wohl vergessen, dass ich dein Vater bin!«

Was soll ich viele Worte machen, das Selbsterfahrungswochenende nahm planmäßig seinen Lauf. Nach zwei Tagen fühlte auch ich mich endlich völlig frustriert, und ich hatte erhebliche Beziehungsschwierigkeiten, weil Renate meinte, ich würde mich viel zu sehr für diese Blondine interessieren. Deshalb machen wir unsere Selbsterfahrungswochenenden auch wieder wie zuvor zu Hause.

»Es wird Zeit, dass du dir mal wieder die Haare wäschst«, sagte Renate beispielsweise, und ich durchbreche ihre psychische Panzerung, wenn sie manchmal zu verdrängen beginnt, dass sie viel besser kochen kann als ich. Die alte Frau aus dem Altersheim übrigens – die haben wir schon ein paarmal zum Essen bei uns eingeladen.

Die Selbsterfahrungsgruppe - Wolfgang Körner - Therapie - Story - Satire

Autor*in: Wolfgang Körner

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    Um das wichtigste gleich am Anfang zu sagen, das Selbsterfahrungswochenende kostete viel Geld, und wir hätten niemals daran teilgenommen, wenn uns Hubert nicht erklärt hätte, wie wichtig so was für den Menschen sei. »Man lernt viele Leute kennen«, sagte er. »Man kann über seine Probleme nachdenken und reden, und man fühlt sich danach wie neugeboren.«