Falscher Freund
Falscher Freund - Offener Feind - Fabel John Gay
Ein Wolf, den der Hunger verwegen und listig gemacht hatte, verließ jede Nacht das schützende Dunkel des Waldes, um über die weiten, grasbedeckten Weiden zu den Herden der Schäfer zu streichen.
Und so geschickt war er, dass er niemals ohne Beute zu seinem Schlupfwinkel zurückkehrte. So viele Fallen die Schäfer auch aufstellen mochten, so wachsam ihre Hunde waren, der Räuber verfing sich nicht in ihren Schlingen, und die Hunde blieben weit zurück, wenn sie ihn jagten.
Tagsüber verbarg sich der Wolf im wildesten, undurchdringlichsten Dickicht eines Waldes und fraß sich satt. Nacht für Nacht ging er auf Raubzug.
Einer der Schäferhunde, schneller, leichtfüßiger und tapferer als die anderen, geriet, als er den Wolf verfolgte, in jenen wilden Teil des Waldes, wo die Höhle des Räubers lag. Der Schäferhund entdeckte den Schlupfwinkel, der verborgen hinter dem dichtesten Gestrüpp lag, zwängte sich durch die Dornen, blieb vor der Höhle sitzen, verschnaufte zuerst — denn die Jagd hatte ihn erschöpft –, und rief dann seinem Feind zu:
»Lass uns für einige Zeit unseren Streit vergessen und miteinander reden wie zwei Freunde!«
»Ein Waffenstillstand?« antwortete der Wolf. »Damit bin ich einverstanden!«
»Wie kommt es«, begann der Hund seine Rede, »dass ein so starkes und furchtloses Tier wie du, Wolf, ausgerechnet die schwächsten und schutzlosesten Geschöpfe verfolgt? Deine kräftigen Beine sollten sich auf der Jagd nach einem edleren Wild müde laufen. Ein wilder Eber oder ein Löwe wären wahrhaft nicht zu gering für dich. Wer großherzig ist, verschließt sich dem Mitleid nicht. Ein Mitleid, das nur der feige Tyrann niemals fühlen kann. Sieh nur, wie harmlos und schwach unsere wolligen Schützlinge sind! Handle also nach deinem edlen Sinn, sei barmherzig und verfolge sie nicht mehr!«
»Freund«, antwortete der Wolf, »das was du gerade gesagt hast, ist wahr. Aber überlege und prüfe zuerst, bevor du richtest. Die Natur hat uns Wölfe als Raubtiere auf die Welt gebracht. Wir taugen zu nichts anderem, und wo ein hungriger Wolf eine Beute findet, da muss er sie fressen. Das mag dir zwar grausam erscheinen, ist für uns aber durchaus notwendig zum Leben.
Mein Freund Hund, wenn dich das Wohl deiner Schützlinge so sehr bewegt — und wie es scheint, sorgst du dich tatsächlich um sie, man muss dich dafür loben! –, wenn es dich also so sehr bewegt, dann geh doch hin zu den unbarmherzigen Menschen, und wiederhole deine Rede.
Es ist wahr, wir Wölfe fressen ab und zu ein Schaf, aber zehntausende Schafe werden täglich von den Menschen für ihren Bedarf an Nahrung hingeschlachtet. Einen offenen Feind mag man verfluchen. Aber ist er nicht besser als ein Feind, der vorgibt, ein Freund zu sein!?«
Falscher Freund - Offener Feind - Fabel John Gay
Autor*in: John Gay
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Ein Wolf, den der Hunger verwegen und listig gemacht hatte, verließ jede Nacht das schützende Dunkel des Waldes, um über die weiten, grasbedeckten Weiden zu den Herden der Schäfer zu streichen. Und so geschickt war er, dass er niemals ohne Beute zu seinem Schlupfwinkel zurückkehrte.