Mensch und metaphysisches Leben
Mensch und metaphysisches Leben – R.M.F – Alltagspsychologie
Wir schauen zurück auf den Weg, den wir bisher durchwandert haben. Den Menschen wollten wir verstehen, jenes hypothetische Urwesen, das gleichsam in allen Einzelmenschen darinsteckt, und, was wir fanden, war, dass man, um den Menschen zu verstehen, weit mehr kennen muss als ihn selbst, dass er verständlich wird nur, indem wir seine Beziehungen kennen lernen zu seiner Mit- und Umwelt, zur Vergangenheit und zur Zukunft, mag diese auch noch so blass in seinen Träumen und Gedanken verdämmern.
Aber der Mensch, das sahen wir, ist stets mehr als er selbst. Einerlei, ob wir uns von der leiblichen Seite oder von der Bewusstseinsseite ihm nahen, stets ist sein Leben ein Inbeziehungstehen zu Tatbeständen, die außer ihm sind, und nur fiktiverweise dürfen wir ihn isolieren. Er ist nur eine Ausprägung einer metaphysischen Macht, die sich zwar individualisiert ihn ihm, aber selbst überindividueller Natur ist: des Lebens.
Den Menschen verstehen heißt das Leben verstehen, das Leben, das sich in mannigfache, oft heftig sich befehdende Richtungen spaltet und dennoch als Einheit begriffen werden muss.
Wir werden noch nicht an dieser Stelle unserem Gast aus Utopien, der Aufschluss von uns heischte über Sinn und Ziel unseres Tuns und Treibens, Antwort stehen. Wir müssen, um das zu können, den Wegen des Lebens, seinen Wandlungen und Spaltungen weit eingehender nachpürschen, und nur ein Anfang ist gemacht, indem wir das Leben des Menschen in seine sieben Grundrichtungen zerlegten, indem wir die Mittel nannten, mit denen er zur Außenwelt in Beziehung zu treten vermag, indem wir ein wenig hineinleuchteten in die dunklen Untergründe, die unter unserem Bewusstsein am Werk sind, unser Leben zu leiten.
Aber eins dürfte doch jetzt schon deutlich geworden sein: es ist mehr als eine Wortlösung, wenn wir die tausendfältigen Formen menschlichen Wollens und Fühlens, Vorstellens und Denkens zurückzuführen suchten auf den Begriff des Lebens, der sich uns in seinen sieben Urrichtungen leiblich wie seelisch offenbarte.
Hier haben wir jenen Urbegriff, von dem aus uns alle Einzelformen verständlich werden, hier stehen wir bei den »Müttern« des Daseins, zu denen Faust hinab stieg, um den Schlüssel zu erhalten, und dieser Schlüssel, der die Probleme des Lebens löst, ist eben der Begriff des Lebens selbst.
Vielleicht mag es manchem als graue Theorie und leerer Schematismus erscheinen, dass wir die bunte bewegte Menschenwelt gleichsam in eine einzige große Kelter werfen, um eine abstrakte Formel daraus zu pressen, die einen letzten, gemeinsamen Sinn der vielfältigen Strebungen enthüllen soll.
Und doch heißt »erklären« im tieferen Sinne stets: das Einheitliche im Vielfachen zu sehen, eine treffende Formel finden, die es gestattet, die Mannigfaltigkeit zu bändigen und zu beherrschen. Ob eine solche Formel »Theorie« bestehen bleibt, hängt ab von der Art, wie sie in die Praxis übergeführt wird. Eine solche Formel kann richtig sein, selbst wenn sie für keinen Einzelfall völlig zutrifft, wie die Gesetze der Physiker richtig sind, selbst wenn niemals ein Stein genau 4,91 Meter in der Sekunde fällt, oder niemals das Licht genau 300 Millionen Kilometer in der Sekunde zurücklegt.
Und wie die Lehre der Kristallographie wertvoll ist, dass Salz als Würfel, Alaun als Oktaeder, Granat vielfach im Rhombendodekaeder kristallisierten, gesetzt selbst, dass niemals ein Salzkristall im mathematischen Sinne ein Würfel, nie ein Alaunkristall ein exakter Oktaeder gewesen ist, so kann es wertvoll sein, einen schematischen Durchschnittsmenschen zu beschreiben, auch wenn dieses Grundschema nur in höchst mannigfachen Variationen und Komplikationen vorkommt; denn wir werden zu zeigen versuchen, dass das Verständnis aller Abweichungen doch nur von der Basis dieses allgemeinen Schemas aus gewonnen werden kann, und dass die scheinbare Schemata der Schlüssel ist für tausend Einzelprobleme des Alltagsdaseins. Das muss unsere weitere Darlegung zeigen.
Schon jetzt aber sind einige Erkenntnisse gewonnen, die verbreiteten Meinungen entgegenstehen, und die ich noch einmal betone, weil sie Voraussetzung sind für alles Künftige. Weder vom Leib aus noch vom Bewusstsein aus allein lässt sich das Wesen des Menschen erklären, sondern nur von jener sie beide hervor treibenden und doch beide weit übergreifenden metaphysischen Macht; dem Leben.
Weder der Leib noch das Bewusstsein sind der Sinn des Lebens, sondern sie sind dienende Instanzen für dieses überindividuelle Leben, das sie aufbaut und zerstört, um sich selbst zu erhalten und fortzustürmen zu neuen Formen, deren Reihe sich unseren Blicken im Unendlichen verliert. Und wenn sich das Bewusstsein vom Dienst des Lebens zu emanzipieren strebt, wenn es als »Geist« oder als »Lust« selbst Sinn des Lebens zu werden strebt, so ist selbst das verwurzelt im Lebensbegriff, und dieser wird nicht widerlegt durch die Übertreibungen und Pervertierungen, in die zuweilen der Strom des Lebens abirrt.
Mensch und metaphysisches Leben – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie
Autor*in: R.M.F
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Wir schauen zurück auf den Weg, den wir bisher durchwandert haben. Den Menschen wollten wir verstehen, jenes hypothetische Urwesen, das gleichsam in allen Einzelmenschen darinsteckt, und, was wir fanden, war, dass man, um den Menschen zu verstehen, weit mehr kennen muss als ihn selbst, dass er verständlich wird nur, indem wir seine Beziehungen kennen lernen zu seiner Mit- und Umwelt, zur Vergangenheit und zur Zukunft, mag diese auch noch so blass in seinen Träumen und Gedanken verdämmern.