Das Typische im Individuum | AVENTIN Blog --

Das Typische im Individuum

Das Typische im Individuum – R.M.F – Alltagspsychologie
Das Typische im Individuum 

Das Typische im Individuum – R.M.F – Alltagspsychologie


Vielleicht gibt man zu, dass letztlich jedes Individuum einzig und Gleichheit im tiefsten Sinne nirgends in der Welt zu finden ist. Aber man zuckt die Achseln und fragt, ob solche Erkenntnis nicht jede andere Erkenntnis unmöglich mache, da doch das Ideal des Erkennens ist: aus gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu gewinnen.

Sicherlich, man kann einwenden, dass jene Lehre, konsequent durchdacht, die Welt in ein Chaos verwandeln, eine unendliche Sammlung von Kuriositäten, dass sie vor allem aber unser Bild vom Menschen, das wir zunächst entwarfen, eine überflüssige Spielerei darstellen mag.

Wie auch immer, es ist nicht ganz so schlimm! Gewiss, die absolute Gleichheit der Individuen wie ihre absolute Einzigkeit haben im praktischen Sinn einen geringen Erkenntniswert. Aber jene Gleichheit ist zugegebenerweise ein künstliches Schema, ein vorläufiger Behelf. Die Einzigkeit dagegen ist praktisch insofern gleichgültig, als wir sie im Alltag selten wahrnehmen.

Was wir an den Menschen sehen, ist weder vollkommene Gleichheit noch vollkommene Verschiedenheit, sondern ist eine kaum abgrenzbare Zahl von Zwischenstufen zwischen Gleichheit und Verschiedenheit, von »Ähnlichkeiten«, auf Grund deren sich der Fülle der absoluten Einzigkeiten gewissen »Typen« heraus sondern.

Wenn uns ein Mensch auf der Straße begegnet, so sehen wir in ihm weder ein farb- und charakterloses Klischee der Gattung homo sapiens, noch erfassen wir ihn in seiner absoluten Individualität, sondern wir bemerken vor allem seine Zugehörigkeit zu gewissen Typen: ob er Mann oder Frau, ob er Jüngling oder Greis, ob er Europäer oder Nichteuropäer, ob er vornehmen Kreisen oder den Arbeiterschichten angehörig, ob er brünett oder blond, ob er bartlos oder bebartet ist.

All das erfassen wir in der Regel auf einen Blick, und es ist nicht wenig erstaunlich, was solch ein erster Blick alles aufzunehmen vermag, besonders wenn wir erwägen, dass er auch Wertbeurteilungen einschließt: sympatisch oder unangenehm, schön oder hässlich usw.!

Wir sehen also streng genommen nicht das Individuum als solches, sondern seine Zugehörigkeit zu bestimmten Typen. Aber auch wenn er uns als Herr August Schultze vorgestellt wird, wenn wir uns mit ihm unterhalten, ja, wenn wir ihn, was man so nennt, gründlich kennen lernen, so erkennen wir das Tiefste seiner Individualität doch nicht, nur das Typennetz wird enger.

Das Letzte der Individualität ist unserem Verstand jedenfalls unzugänglich, dem Verstand, der die Wirklichkeit immer schematisiert. Es ist vielleicht intuitiv (mit dem Instinkt oder Gefühl, wie man sagt) erfassbar, jedenfalls ist für unser Gefühl jeder Mensch, den wir kennen, Individualität.

Ob das im gleichen Sinn Erkenntnis ist wie die Verstandeserkenntnis, braucht hier nicht untersucht zu werden. Auf diesen Blättern soll wesentlich von dem die Rede sein, was vom Leben mit dem Verstand zu ergreifen ist.

Mag also die Gefühlserkenntnis die Einzigkeit menschlicher Individualitäten erfassen (je inniger, je tiefer wir einen Menschen lieben, um so mehr fühlen wir gerade seine Einzigkeit und Unersetzbarkeit) — sowie wir diese Einzigkeit mit dem Verstand erkennen wollen, können wir das nur, indem wir sie gleichsam an mehrere sich darin schneidende Typen aufteilen, so wie die Mathematiker die Lage eines Punktes nur durch seine Beziehung zu mehreren Linien bestimmen können.

Den freilich nur bedingten Wert des Verfahrens geben wir dabei insofern zu, als wir bei der Zuordnung einer Individualität zu bestimmten Typen stets den Vorbehalt machen, dass all diese typisierende Charakteristik das letzte Wesen des Individuums nie ganz erschließt.

Wir mögen sagen, Herr Schultze sei zu gleicher Zeit ein typischer Berliner, ein typischer Kaufmann, ein typischer Choleriker, ein typischer Junggeselle, ein typischer Vereinsmeier oder ein typischer Bierphilister.

Alle diese Bezeichnungen mögen stimmen, und doch ist er für seine Freunde, die vielleicht alle ebenfalls diesen Typen angehören, mehr. Ihnen ist er ein Individuum, das — wie schon die Scholastiker wussten — ineffable, unbegreifbar ist.

Zugegeben also, dass man durch Typenbegriffe eine Individualität nur so erfassen kann, wie man einen Kreis durch angelegte Tangenten erfasst. Zugegeben, dass allen derartigen Charakteristiken die Individualität im Sinn der Einzigkeit entschlüpft, sie sind doch unentbehrlich für das Leben.

Das, was man Menschenkenntnis nennt, ist zum guten Teil der Sinn für das typische Wesen der Menschen, woraus sich auch typische Handlungen voraussagen lassen. Und wenn solche Menschenkenntnis niemals absolute Sicherheit verbürgt, so doch oft hohe Wahrscheinlichkeit, die es gestattet, das Verhalten des Betreffenden auch für Situationen, in denen man ihn nie erblickt hat, voraus zu bestimmen.

Auch ohne besagten Herrn August Schultze aus Berlin als Individuum genau zu kennen, lässt sich mit Bestimmtheit auf Grund jener Typenzuordnung voraussagen, dass er, wenn man ihn auf dem Stadtbahnhof aus Versehen anstößt, wesentlich anders reagieren wird als etwa ein Aristokrat oder eine Ladenmamsell.

Man wird mit ungefährer Sicherheit die Koseworte vorausbestimmen können, mit denen er seinen Gegner bedenkt, den Hinweis auf seine bedrohten Hühneraugen, die grollenden Ermahnungen, der andere möge seine Augen offen halten, indes der Aristokrat mit überlegen-verächtlichem, die Ladenmamsell mit verlegenem oder kokettem Lächeln weiter gegangen wären.

Menschenkenntnis heißt nicht bloß Sinn für das absolut Einzige der Individualität zu haben, sondern ein gefühlsmäßiges oder auf Erfahrungserkenntnis beruhendes Wissen um die Typenzugehörigkeit eines Individuums.

Menschenkenntnis ist niemals eine ganze exakte, sondern höchstens eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber damit doch weit mehr als ein Lotterie- oder Hasardspiel, und wenn es keine unfehlbaren Gesetze dafür gibt, so doch Regeln und Vermutungen, die anzuwenden den ganzen Reiz alles nicht ganz Berechenbaren hat.

Das Leben wäre öde und langweilig, wenn man es immer exakt im voraus berechnen könnte und es wäre ein Chaos, wenn bloßer Zufall herrschte.

Das Leben ist jedoch so interessant wie ein Schachspiel, weil es möglich ist, wenigstens ungefähr die Züge unserer Mitspieler im Voraus ahnen zu können.

Das Typische im Individuum – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie

Autor*in: R.M.F

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    Vielleicht gibt man zu, dass letztlich jedes Individuum einzig und Gleichheit im tiefsten Sinne nirgends in der Welt zu finden ist. Aber man zuckt die Achseln und fragt, ob solche Erkenntnis nicht jede andere Erkenntnis unmöglich mache, da doch das Ideal des Erkennens ist: aus gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu gewinnen.