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Unterhaltung mit Freunden - Sprache

Unterhaltung mit Freunden – Peter Bichsel – Sprache
Unterhaltung mit Freunden 

Unterhaltung mit Freunden – Peter Bichsel – Sprache 


Es gibt Tage, die haben keine Gelegenheit stattzufinden. Sie sind dadurch gelähmt, dass man heute nichts tun kann, weil noch so viel zu tun wäre — morgen, übermorgen oder nächste Woche. Man kann jetzt nichts tun, weil viel anderes dringender zu tun wäre, und nicht alles, was morgen zu tun ist, kann man heute schon tun.

Einmal habe ich am Ende eines solchen langen, langen Tages zwei gute Freunde getroffen. Zwei von jenen Freunden, die man selten sieht, oft monate- oder jahrelang nicht, und an die man immer denkt, nach denen man sich immer wieder erkundigt und sich vornimmt, sie anzurufen. Wir setzten uns in die Abendsonne und redeten und redeten.

Der Tag wurde doch noch zu etwas, zu einem Augenblick, zu einem langen Augenblick. Ich stellte beim Nachhausegehen fest, dass ich doch noch gern lebe!

Ich erzählte meiner Frau von der beglückenden Begegnung, und sie wollte wissen, wie es den beiden denn gehe. Zu meiner Überraschung wusste ich es nicht. Dann wollte sie wissen, was sie denn erzählt hätten. Das wusste ich zwar noch — das Gespräch war mir wichtig und hatte mich beglückt –, aber nun war es plötzlich nicht mehr erzählenswert.

Zwar wusste ich noch, wovon wir gesprochen hatten, aber ich hätte nur den Inhalt des Gesprächs wiedergeben können, und hätte ich es getan, ich hätte mir selbst die Freude an jener Begegnung verdorben.

Warum kann man das später nicht erzählen? Ganz einfach: Eben weil es nicht erzählbar ist!

Ich habe zwei Bücher bekommen, auf denen mein Name steht und die ich nicht lesen kann — eines auf dänisch, eines auf koreanisch. Selbstverständlich freue ich mich, bin ein wenig stolz darauf, und weil ich sie nicht lesen kann, bleibt mir nicht anderes übrig, als sie ein bisschen zu streicheln.

Aber irgendwie sind mir die beiden Bücher peinlich. Ich fürchte, dass sie vielleicht nur übersetzt sind, dass darin nur wiedergegeben ist, was ich geschrieben habe. Ich nehme zwar an, dass der Übersetzer sich über meinen Text gefreut hat — so wie ich mich über das Gespräch gefreut habe –, aber ich fürchte, dass er ihn nur wiedergibt, ohne ihn erzählbar gemacht zu haben.

Was man erzählt, das muss erzählbar sein! Es gibt bestimmt unübersetzbare Texte — Texte, die man nicht noch einmal erzählbar machen kann. Die Fragen meiner Übersetzer nach der Bedeutung einzelner Wörter machen mich skeptisch, die Bedeutung einzelner Wörter hat mit der Erzählbarkeit nichts zu tun.

Es würde mir leichter fallen, über Paris zu erzählen als über New York. Paris kenne ich sehr gut aus literarischen und privaten Erzählungen, auch aus dem Kino. Paris ist für mich von vornherein eine Erzählung, weil ich im wirklichen Paris noch nie war. In New York war ich aber oft und lange. Vorläufig würde mein Bericht darüber heißen: »Ja, ja, New York.« Für mich musste ich es erst erzählbar machen.

Als Kind hat man sich vorgestellt, später einmal die ganze Welt anzuschauen, Afrikaforscher zu werden oder China zu bereisen wie Marco Polo. Ich saß vor der Weltkarte und plante meine Reisen. Auf Australien verzichtete ich im voraus wegen der Hitze, aber Paris hatte erste Priorität.

Inzwischen bin ich durch beruflichen Zufall in Australien gewesen, in Paris nie. Ich werde das auch nicht nachholen. Aber die Möglichkeit einmal hinzufahren, bleibt mir wichtig! Ich bin darauf angewiesen, dass es Paris gibt! Im Kleinen nennt man das Infrastruktur: Alle ärgern sich darüber, dass sonntags fast alle Restaurants geschlossen sind, aber die wenigen in der Stadt, die offen sind, sind leer.

Man geht zwar nicht hin, aber die Vorstellung, überhaupt nicht hingehen zu können, ist unerträglich.

Ich war schon seit Monaten nicht mehr im Kino — trotzdem, ich finde, dass es in meiner Stadt zu wenige Kinos gibt. Ich bin froh, dass es eine ganze Welt gibt. Ich brauche sie als Fluchtmöglichkeit — nicht in Wirklichkeit, aber in meinem Kopf. Ich bin froh, dass Paris am Sonntag offen hat.

Darüber sprachen wir drei an diesem schönen Abend, fiel mir hinterher ein. Und wenn man mich fragt, warum denn das Sprechen über solche Dinge glücklich machen kann, dann kann ich nur hilflos mit den Schultern zucken, denn weil ich es nicht übersetzen kann vom Deutschen ins Deutsche, weil ich es nicht erzählbar machen kann, bleibt es nur ein Inhalt, nur ein Thema.

Sprache hat mit Sprechen zu tun. Hie und da erleben wir Sprache als Glück. Eben, wenn wir sprechen — über irgend etwas –, über Paris zum Beispiel.

Unterhaltung mit Freunden – Peter Bichsel – Sprache - Story 

Autor: Peter Bichsel

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    Es gibt Tage, die haben keine Gelegenheit stattzufinden. Sie sind dadurch gelähmt, dass man heute nichts tun kann.