Der Bewusstseinsaspekt
Der Bewusstseinsaspekt - R.M.F - Alltagspsychologie
Der Körper allein ist uns Menschen niemals ein Mensch. Wir sehen in ihm immer etwas, das seinen Bewegungen Sinn gibt, ein Bewusstsein, das als Streben, Wollen und Fühlen die Bewegungen voranzutreiben und zu steuern, ihnen als Wahrnehmung, Vorstellung oder Gedanke gleich einem Scheinwerfer vorauszuleuchten scheint.
Wir sehen all das in den Menschen, weil es in uns selbst sein Wesen treibt, weil es in unserem Körper irgendwie sitzt wie ein unsichtbarer Chauffeur im Automobil und mit unsichtbaren Hebeln und Kurbeln unsere Glieder blitzschnell herumreißt, anspannt und wieder löst.
Wir nennen dies gespenstige Etwas, das wir in unseresgleichen wie in uns selbst hineindenken, das »Bewusstsein« oder die »Seele«. Fragen wir freilich, was das ist, so merken wir erst, dass diese Wörter nur ein Chiffre sind, mit denen wir etwas bezeichnen, was mit den Begriffen und Denkmitteln, die sie uns liefern, schwer zu fassen ist.
Solange es Menschen gibt, haben sie sich eine Seele zugeschrieben; erst in Spätzeiten der Kultur beginnt man an ihrem Vorhandensein zu zweifeln, genauer gesagt, freilich nur an der Art, wie man sich in primitiven Völkern und Zeiten die Seele vorstellte. Hier nämlich gilt als Seele ein hauch- oder schattenhaftes Wesen, eine Art »unkörperlicher Körper«, der im sichtbaren Körper wohnt und ihn im Traum, in Krankheiten und im Tod verlässt, entweder um in andere Körper überzuwandern oder um ein raum- und zeitloses Leben zu führen. Ja, bis in vornehmste Kulturreligionen spielen diese Vorstellungen hinein.
Wir lassen an dieser Stelle solche Fragen beiseite. Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe an, die Unsterblichkeit der Seele zu verteidigen, noch den Glauben daran zu zertrümmern. Aber wir lehnen auf jeden Fall die Meinung jenes Anatomen ab, der da sagte, er habe bei all seinen Sezierleistungen niemals eine Seele in einem menschlichen Körper gefunden.
Solche Äußerungen scheinen uns nicht klüger als die jenes Eingeborenenhäuptlings, der, ein Buch von hinten bis vorne durchblätternd, erklärte, er finde darin nirgends die Spur eines Geistes. Gewiss finden wir in unserem Körper nicht jene primitive Hauch- oder Schattenseele, aber wir finden ein Etwas, das wir unmittelbar erleben: ein »Bewusstsein«, das man heute vielfach mit der Seele gleichsetzt, obwohl die Seele sicherlich mehr ist als nur Bewusstsein.
Wir halten uns an, was wir unmittelbar erleben! Dies ist ohne Zweifel, dass innerhalb des Körpers, den wir als unseren eigenen auffassen, unablässig eine kaleidoskopartig wechselnde Flucht von Stimmungen, Gefühlen, Willensregungen, Vorstellungen und Gedanken geschieht, die uns zum Teil durch äußere Sinne zuzuströmen scheint, ja, die wir zum Teil als Wahrnehmungen außer uns im Raum um uns her, zu erleben vermeinen, obwohl uns das Schließen der Augen oder der Ohren darüber belehrt, dass sie in unserem Innern vor sich gehen.
Ein buntes, phantastisches Geschehen ist es, ungreifbar und doch nicht sinnlos, das man bald einem Strom, bald den aufeinanderfolgenden Bildern eines Kinematographen, bald einem Schattenspiel verglichen hat, und für das doch jeder Vergleich aus der körperlichen Welt vollkommen unzureichend ist, ein Geschehen, von dem wir nur wissen, dass es mit unserem Körper und dessen Teilen in einem höchst rätselvollen Zusammenhang steht, derart, dass gewisse Vorgänge des Körpers sich im Bewusstsein bemerkbar machen, wie denn auch andererseits manche Vorgänge im Bewusstsein die Bewegungen des Körpers zu veranlassen oder zu hemmen vermögen.
Das ist der Tatbestand, den wir freilich bereits überschreiten, wenn wir jene bunte Vielfalt der Bewusstseinsvorgänge als Einheit zusammenfassen. Das aber tun wir, ohne es zu wissen und zu wollen, beständig, wenn wir dieses zerrinnende Schattenspiel als »Bewusstsein«, als »Seele«, als »unsere« Seele, die »Seele unseres zugleich körperlichen Ich« ansprechen.
Denn indem wir das tun, denken wir gleichsam zu den flimmernden Spiegelungen einen Spiegel hinzu, zu den bunten, wechselnden Lichtern eine Lampe, zu den vorüberhuschenden Tönen eine Art Orgel. Wir verräumlichen das Unräumliche, wir verfestigen das Unfeste, wir materialisieren das Immaterielle.
Vor seltsame Widersprüchlichkeit also sind wir gestellt: wir nehmen uns selbst und die Welt als körperlich wahr kraft eines Vermögens, das selbst unkörperlich ist; wir erkennen aber andererseits wiederum, dass dies Vermögen, dies Bewusstsein, nur in Verbindung mit Körperlichem vorkommt. Alle Versuche, die man gemacht hat, um über jene Widersprüchlichkeit hinauszukommen, sind teils absurd, teils unzureichend.
Der »Materialismus« will nur den Körper gelten lassen und erklärt alles Seelische für belanglose Nebenerscheinung des Körperlichen, was sicherlich widersinnig ist, da uns ja alles Körperliche nur durch dies Seelische, das sicher nicht körperlich ist, bekannt ist.
Andererseits will der »Spiritualismus« nur das Seelische gelten lassen und bestimmt alles Körperlich als Inhalt des Bewusstseins, was ebenfalls widersinnig ist, da wir allenthalben »Dingen« gegenüberstehen, die ganz sicher nicht nur in unserem Bewusstsein sind. Und wenn wir als deren logischen Ort ein »Bewusstsein überhaupt« konstruieren, so schaffen wir einen »Deus ex machina«, für den auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit spricht. Wie immer wir die Sache wenden, immer steht diese Zweiheit vor uns: Körperliches einerseits, Seelisches andererseits.
In der neueren Wissenschaft ist man deshalb vorsichtiger geworden, insofern man sich eines endgültigen Urteils über das Wesen der beiden so verschiedenen Seinssphären enthält und, ohne weiterzugehen, nur von einem »Parallelismus« oder »Dualismus« spricht. Man sagt, es liefe gewissen physiochemischen Prozessen in Nerven und Hirn ein Bewusstsein parallel, das jedoch nicht eingriffe in diese Vorgänge, wobei freilich die Frage, warum es denn da sei, recht wenig beantwortet ist.
Andere, die Anhängen der »Wechselwirkungslehre«, vermeiden diese Schwierigkeit, indem sie dem Bewusstsein, wenn auch nicht die Möglichkeit einer Durchbrechung des physischen Kausalzusammenhangs, so doch die Möglichkeit einer »Steuerung« zuschreiben, wobei freilich sowohl die Art, wie diese geschehen soll, als auch die Frage nach dem Wesen des Psychischen im dunkeln bleibt.
Wir halten es für wissenschaftlicher, statt brüchige Vermutungen als letzte Erkenntnis auszugeben, die ungelöste Problematik dieser Dinge einzugestehen. Wir stellen nur fest, dass unser unmittelbares Erleben das Vorhandensein eines Bewusstseins erweist, und dass uns auch das Leben des Körpers nur verständlich wird, indem wir ein solches Bewusstsein hinzudenken.
Wir können den Menschen nur als »Einheit von Leib und Bewusstsein« denken, auch wenn diese Einheit selbst uns rätselhaft bleibt. Immerhin jedoch lässt sich über diese Einheit mancherlei sagen, was geeignet ist, verbreitete Anschauungen in entscheidenden Punkten zu berichtigen.
Der Bewusstseinsaspekt des Menschen – Vom Sinn des Lebens – R.M.F – Alltagspsychologie
Autor: R.M.F
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Der Körper allein ist uns Menschen niemals ein Mensch. Wir sehen in ihm immer etwas, das seinen Bewegungen Sinn gibt, ein Bewusstsein, das als Streben, Wollen und Fühlen die Bewegungen voranzutreiben und zu steuern, ihnen als Wahrnehmung, Vorstellung oder Gedanke gleich einem Scheinwerfer vorauszuleuchten scheint.