Land, Wasser und Luft - Jacquetta Hawkes | AVENTIN Blog --

Land, Wasser und Luft - Jacquetta Hawkes

Land, Wasser und Luft – Fabel von Jacquetta Hawkes
Land, Wasser und Luft 

Land, Wasser und Luft – Fabel von Jacquetta Hawkes 


Ein Hirsch war aus dem Landinneren zur Küste gekommen, um von den Klippen Salz zu lecken. Während er seine Zunge über einen rohen Stein gleiten lies, sah er mit den großen, sanftbraunen Augen hinaus auf das Meer.

Zu seinem Erstaunen bemerkte er im seichten Gewässer der nahen Bucht einen plumpen, dunklen Körper, der vehement hin- und herschnellte. Voller Neugierde kletterte der Hirsch die abfallenden Klippen hinunter zu jenem Teil der Bucht, wo er dem seltsamen Wesen am nächsten war. Am Rand der Bucht, unter einer Gruppen hoher Fichten, blieb er sodann stehen und sah dem Kampf im Wasser zu.

Als der Hirsch zwei kleine Augen und ein großes mit vielen Zähnen bespicktes Maul bemerkte, rief er: »Was tust du da? Bist du auf den Klippen ausgerutscht und ins Meer gefallen? Dort drüben, wo die Küste flach ist, kannst du leicht wieder herauskommen und dich befreien.«

»Ich in das Meer gefallen?« grollte der Hai. »Das Wasser ist gefallen! Das ist alles. Ich stecke hier fest. Aber was machst du dort auf den Klippen? Hat dich diese verfluchte Ebbe etwa auch im Trockenen liegen gelassen?«

»Mich im Trockenen liegen gelassen? Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich kam zur Küste, um Salz zu lecken. Ich lebe am Land, das ist doch natürlich!«

»Ich glaube nicht, dass es ein natürlicher Zustand ist, im Trockenen zu existieren. Nur das Wasser birgt Leben. Du redest verwirrt, du bist dort oben auf den Klippen gestrandet und hast zuviel Luft atmen müssen. Nun kannst du nicht mehr klar denken. Spring sofort herunter in diese Bucht! Von hier aus kannst du das schützende Meer erreichen und dich retten, bevor es zu spät ist!»

»Das schützende Meer?« rief der Hirsch erstaunt aus. »Wovor soll ich mich retten? Ich kam in deine Nähe, um nach dir zu sehen. Beile dich und krieche schnell aus dem Wasser, die Küste ist nahe. Von dieser Bucht aus hast du nicht mehr weit in das Landinnere.«

»Verrückt, verrückt!« ereiferte sich der Hai. »Du verwechselst alles, und bringst alles durcheinander. Aber wie es auch sei, kommt so schnell wie möglich herunter, denn die Zeit ist gewiss nicht mehr fern, da das Meer über seine Grenzen steigen und alles Land auf der Erde bedecken wird.«

»Das ist doch alles unwissendes Geschwätz! Es besteht kein Zweifel, dass die Kontinente sich längst über die Meere hinweg vereinigt hätten, wenn nicht ein gewisser Wasservorrat auf der Erde nötig wäre, damit es von Zeit zu Zeit regnen kann. Die Meere sind nichts anderes als eine Ansammlung von Wasser, damit die Kontinente darin ihre Grenzen abzeichnen können.«

»Die Grenzen der Kontinente? Ich habe noch nie solchen Unsinn gehört! Jedermann weiß doch, dass nur die sieben Ozeane das Aussehen der Erdkugel bestimmen. Nur die Meere zählen, das Land füllt nur die leeren Stellen aus. Land ist ein nutzloser und unappetitlicher Stoff . . . nur Schmutz, wertloser Schmutz!«

Und der Hai schlug so aufgebracht mit seiner Schwanzflosse auf das Wasser, dass der Hirsch ganz mit salzigen Tropfen bedeckt wurde. Der Hirsch wiederum stampfte mit seinen scharfen Hufen so zornig auf die Erde am Rand der Klippe, dass es Erde und Steinchen auf den Hai regnete.

In diesem Augenblick begannen die Wipfel der Fichten, unter denen der Hirsch stand, sacht hin- und herzuschwanken. Ein Zapfen viel nieder, und über den glatten, reglosen Wasserspiegel der Bucht zogen sich zarte, feine Linien wie eine dunkle Spur. Das Wasser kräuselte sich sanft und von hoch oben, aus den Wipfeln, hörten die Streitenden ein leises Flüstern, sanft wie ein Hauch.

»Hört auf mich, ihr Geschöpfe des Landes und des Meeres. Seid gewiss, dass die Ozeane glücklich sind, dass die Erde sie trägt, und seid auch gewiss, dass die Kontinente glücklich sind, dass das Meer ihre Küsten umschließt und ihnen so Gestalt und Form gibt. Denkt aber auch einmal über mein Schicksal nach!

Ich habe keine Grenzen, ich bin frei. Ungehindert kann ich über diese riesige Kugel im All, die Erde, wandern und wehen, und doch ist es, als hätte ich kein Sein, als wäre ich das Nichts. Unsichtbar bin ich, mein Leben kann ich nur auferwecken mit Hilfe von anderen. Ich wehe sodann in den Bäumen, ich küsse das Wasser, dass es sich bewegt und sich kräuselt. Stumm wäre ich für immer, wenn ich nicht durch diese flüsternden Blätter, nicht durch diese flüsternden Wellen sprechen könnte. Seid dankbar, dass der eine sein Meer und der andere sein Land hat. Denn eines wäre nicht ohne das andere. Nur der Gegensatz macht beides einmalig und gibt ihm seine Größe. Ich beneide euch so sehr, ich beneide euch . . .«

Die Stimme der Luft erstarb, und wiederum standen die Fichten ganz ruhig, ohne sich zu bewegen. Das Meer glättete sich, und reglos lag das Wasser in der Bucht.

Langsam und unmerklich war inzwischen die Flut gestiegen, und mit einem gewaltigen Sprung konnte sich der Hai ins tiefere Wasser schnellen und retten. Der Hirsch aber lief zurück ins Landesinnere zu seiner Herde.

Land, Wasser und LuftFabel von Jacquetta Hawkes

Autor*in: Jacquetta Hawkes

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    Ein Hirsch war aus dem Landinneren zur Küste gekommen, um von den Klippen Salz zu lecken. Während er seine Zunge über einen rohen Stein gleiten lies, sah er mit den großen, sanftbraunen Augen hinaus auf das Meer.