Stadt der Dunkelheit - Swami Sivananda | AVENTIN Blog --

Stadt der Dunkelheit - Swami Sivananda

Stadt der Dunkelheit – Swami Sivananda – Novelle
Stadt der Dunkelheit - Swami Sivananda 

Stadt der Dunkelheit – Swami Sivananda – Novelle 


Die Welt ist ein Reich der Sinneswahrnehmungen. Der Verstand und die Sinne sind sehr leicht zu täuschen und unzuverlässig. Alle Wahrnehmungen und Erfahrungen, die mit deren Hilfe gemacht werden, können daher irreführend, trügerisch und gefährlich sein. Zuerst scheint alles seinen richtigen Weg zu gehen, aber später stellt sich dann heraus, dass das überhaupt nicht stimmt.

Das Schmerzliche trägt das Gewand des Angenehmen, und das Böse versteckt sich in der Maske des Guten. Dies ist das unergründliche Spiel von Maya (Illusion). Wer tief darüber nachdenkt und es versteht, der wandelt auf dem Pfad des Lichtes. Wer jedoch auf diese Täuschung hereinfällt, wohnt in der »Stadt der Dunkelheit« und führt ein gefahrvolles Leben, das ihm unendlich viele Schwierigkeiten bringen kann.

Die wahre Glückseligkeit liegt im Selbst, der Seele. Die Welt der Sinne ist die direkte Antithese oder der absolute Gegensatz zu diesem inneren Selbst. Nur im Selbst wohnen ewiges Leben und immerwährende Glückseligkeit. Die Befriedigung unserer Sinne hingegen ist ein lebenzerstörendes Gift, wie folgende Geschichte erzählt.

Es war einmal ein weiser und wachsamer Mönch und sein junger Schüler, der noch recht ungestüm und übermütig war. Auf ihrer Wanderschaft gelangten sie einst in die Stadt Andhernagari des Königs Bahadur. Sie ließen sich in einer Herberge nieder und der Mönch, sein spiritueller Lehrer und Guru, schickte seinen Schüler auf den Markt, um ein paar Lebensmittel für ein einfaches Mahl zu kaufen.

Der Schüler ging fort, kehrte jedoch schon bald wieder zurück, tänzelte vor lauter Freude und hielt eine große gefüllte Tüte mit den unterschiedlichsten Esswaren, Süßigkeiten und Früchten in den Händen. Der Mönch fragte ihn, was das alles zu bedeuten habe.

Der Schüler antwortete: »Oh Guruji (mein geistlicher Lehrer), wir sollten uns hier für immer niederlassen. Die Stadt ist der Himmel auf Erden. Hier kostet alles und jedes einheitlich nur ein Pice (kleine Münze) pro Sihr (Gewicht). Alles was man braucht unter Sonne von der kleinsten Stecknadel angefangen, über die Nähnadel, bis hin zur Nähseide und Samt oder Gold und Edelsteine kostet nur einen Pice pro Sihr. Mit ein paar Annas (größere Münzen) können wir hier das Luxusleben von Königen führen. Lasst uns bitte hier bleiben bis ans Ende unseres Lebens.«

Kaum hatte der Guru diese Worte vernommen, da rollte er seine Sachen zusammen, steckte sein Lendentuch hoch, nahm Wanderstab und Schüssel, verließ die Herberge und ging auf die Strasse. Dann sagte er zu seinem Schüler: »Lasst uns diesen unheilvollen Ort sofort wieder verlassen, mein Schüler! Dies ist nicht das Paradies. Dies ist die Stadt des Teufels. Komm, verweile keinen Augenblick länger in dieser Stadt der Dunkelheit. Jede Sekunde die Du zögerst, gefährdet Dein Leben. Wo alles fast umsonst ist, und man nur darum zu bitten braucht, da steht die Welt auf dem Kopf. Vergnügen wird hier bald zur unheilbringenden Gefahr und dein Lächeln wird bitteren Tränen weichen. Komm, lasst uns hier sofort weggehen.«

Das Lächeln entwich dem Schüler aus dem Gesicht. Er war verärgert und enttäuscht von der Vorstellung dieses Fest des paradiesischen Lebens zu verpassen. Seine rosigen Luftschlösser stürzten in sich zusammen. Er flehte seinen Guru deshalb an, doch zu bleiben. Ja er bestand darauf, dass ein solches Leben nur Freuden bergen könne, wenn doch alles nur für eine Kleinigkeit zu haben sei und man das Leben ohne Anstrengung und Mühe genießen könne.

Der Guru aber war streng, ernst und unerbittlich. Als der Schüler dies sah, beschloss er plötzlich sich von seinem Guru zu trennen und in diesem Paradies, in dem Milch und Honig fließen und Früchte und Süßigkeiten in Unmengen zu haben waren, zu bleiben. Wo sonst würde er jemals wieder eine solche Gelegenheit bekommen?

So dachte er töricht bei sich und sagte zum Guru: »Nur gut, wenn Du gehen willst, gehe! Ich aber werde in dieser Stadt bleiben, auch wenn du gehst.«

»So sei es«, antwortete der Guru und verließ nach einer letzten Warnung den Schüler und die Stadt.

So ließ sich der eigensinnige Schüler in Andhernagari nieder, wo man alles, was man wollte, für ganz wenig Geld kaufen konnte. Tag für Tag war das Leben des Schüler jetzt ein einziges Vergnügen. Er konnte nicht nur nach Herzenslust essen und trinken, er bekam auch alles sonst noch, was sein Herz begehrte. Er konnte sich einfach alles kaufen, wonach seine Sinne dürsteten.

So erfüllten sich die physischen Wünsche der fünf Sinne und seines Verstandes noch ehe er sie überhaupt wahrnahm. Er musste sich nur ein paar Annas erbetteln. Das schaffte er jeden Morgen mit Leichtigkeit innerhalb einer halben Stunde beim Spaziergang durch den wohlhabenden Ort.

Er stopfte sich voll mit den erlesensten Köstlichkeiten, ergötzte sich an feinem Parfüm und gönnte sich sonst was noch alles. Seine Lippen waren ständig vom Saft angenehm gewürzter Betelblätter und Nüsse gerötet. Er sah sehr vornehm aus in seinem seidenen Gewand und eleganten orangeroten Turban. In seinem Zimmer, das er nun in der Herberge bewohnte, stand neben dem großen Bett mit weichem Bettzeug eine schöne »Hukka« (Wasserpfeife) mit Zierbändern aus poliertem Silber auf einem fein geschnitzten Ebenholzschemel. Ein geschmackvoller Teppich bedeckte den Boden.

So vergingen fünf Jahre. Der Schüler hatte nur die Tür etwas erweitern lassen müssen, da ihn das gute Leben mächtig an Gewicht hat zulegen lassen und er ziemlich dick und umfangreich geworden war. Den Guru hatte er vergessen. Auch hatte er vergessen, was er einmal war und womit er sich beschäftigt hatte, bevor er in diese Stadt gekommen war. Tage, Monate und Jahre waren so in einem sanften Strom von Behagen und Vergnügen dahingegangen. Schließlich wurde er nach und nach noch fetter, schwerfälliger, träger und wollüstiger.

Während der Schüler so lebte, gingen die Dinge in dieser kopfstehenden Stadt ihren üblichen Weg. Der Minister des Landes war einer der größten Narren. Nur sein Herr, der König, übertraf ihn noch. Dementsprechend war auch die Rechtsprechung des Landes von ganz besonderer Art. Richter und Gesetzgeber wetteiferten mit dem König und dem Minister.

Eines Tages passierte in dieser herrlichen Stadt ein Unfall. Ein Mann ging in einer engen Straße neben einer neu erbauten Mauer. Als er dort vorbei ging, brach die Mauer zusammen und ein Stück der Mauer fiel auf den Mann und verletzte ihn. Der Mann reichte unverzüglich bei Gericht Beschwerde gegen den Eigentümer der Wand ein.

Es traf sich nun, dass dies an einem Freitag geschah und es Brauch war, dass der König selbst zu Gericht saß. Also wurden alle Streitfälle direkt vor den König gebracht. Der zitternde Eigentümer des Hauses mit der Mauer wurde vor Gericht geschleppt.

Der König sprach: »Nun denn, die Mauer gehört dir?«
Der Eigentümer antwortete: »Ja, mein König.«
König: »Und? Was hast du dazu zu sagen? Warum solltest du nicht für die Verletzungen, die dieser Mann erlitt, bestraft werden?«
Eigentümer: »Oh Sarkar! Sie gehört mir zwar, die Mauer, aber ich weiß nichts über sie. Sie wurde vollständig von einem Bauunternehmer gebaut. Er allein ist verantwortlich für sie, ob sie nun steht oder fällt.«
»Fangt mir den Bauunternehmer und bringt ihn sofort her!« rief der König.

Die Wachen wurden sogleich losgeschickt und schon bald wurde der unglückliche Bauunternehmer vor das Gericht gebracht.
»Mann!« donnerte ihre Majestät.
Der Minister lächelte zustimmend.
Der König rief: »Deine Mauer fiel ein und verletzte einen meiner Untertanen. Was hast du dazu zu sagen, ehe ich dich zum Galgen verurteile?«

Der Bauunternehmer antwortete: »Ich habe zwar den Auftrag hierfür angenommen, mein großer König, aber ich schwöre, es war der Maurer, der die gesamte Mauer baute. Nur er hat die Mauer gebaut. Hätte er es ordentlich gemacht, wäre nichts passiert und alles wäre gut gewesen. Aber er hat es offensichtlich schlecht gemacht und so brach die Mauer zusammen und führte zu den Verletzungen.«

Dem König gefiel der Bauunternehmer. Er nickte heftig mit dem Kopf und sagte: »Ja, ja, du hast recht mein Guter. Geh in die königliche Küche und lass dir ein Glas Buttermilch geben.«
An die Wachen gewandt rief er: »Geht sofort, treibt diesen Maurer auf und bringt in her.«

Die Wachen fanden den Maurer, als er gerade eine Brücke reparierte. Sie fielen über ihn her und packten ihn ohne jede Warnung am Genick und eilten mit ihm zum Gerichtshof des Königs.
»Sprich für dich selbst, ehe ich dich aufhängen lasse«, donnerte der König mit fürchterlicher Stimme. »Du abscheulicher Maurer, Mörder meiner Untertanen (hier ließ der König eine Träne fallen und schnäuzte sich), du Erbauer wackliger Mauern! Wie kannst du es wagen, solche Gräueltaten zu vollbringen?«

Der Maurer schluckte und rieb sich mit der linken Hand den Hals. Es war ein älterer Mann mit grauen Haaren. Er wusste, dass er sich in einer schlimmen Lage befand, aber er hatte glücklicherweise auch von der ‘großen’ Weisheit des Königs gehört. Er sagte: »Eure Majestät, es ist nicht meine Schuld. Der Mörtel, der beim Bau der Mauer verwendet wurde, war nicht richtig gemischt und so konnte ich die Mauer nicht ordentlich bauen.«

»Wer war der Mörtelmischer?« fragte der König mit unheilverkündender Stimme.
Der Maurer seufzte erleichter auf. Schnell antwortete er: »Oh mein weiser König! Der Mörtelmischer war ein Mann namens Buddhu Singh Gadbadei.«

Die Wachen hatten inzwischen auch an Weisheit gewonnen und wussten schon was nun kommen würde. Ehe sich der König also an sie wenden konnte, hatten sie sich schon auf den Weg gemacht und nach eifriger Suche fanden sie auch Buddhu Singh, der zu dem Zeitpunkt gerade etwas betrunken war. Betrunken oder nicht, der König wollte ihn haben und so schleppten die Wachen ihn fort von seiner Flasche und vors Gericht.

Buddhu Singh wollte sodann dem König und dem Minister die Hand schütteln und die Wachen hatte alle Mühe, ihm klar zu machen, dass er das nicht tun könne. Buddhu Singh ließ sich aber nicht davon abbringen. Schließlich musste ihm einer der Wachen einen Schlag auf den Kopf versetzen, damit er etwas nüchterner wurde.

»Warum hast du den Mörtel nicht gut gemischt?« fragte der König mit strenger Stimme. Buddhu Singh starrte eine Zeitlang vor sich hin, dann blinzelte er und antwortete: »Welchen Mörtel?«
Der Minister griff nun auch ein und sagte, indem er auf den Maurer zeigte: »Den Mörtel, den du für den Maurer Akkal-lal gemischt hast.«

Buddhu Singh war überrascht als er den Namen des Maurers hörte. Er schien sich nun an etwas zu erinnern. Er starrte den Maurer an und schrie dann »Huzur Sarkar, mein König, dieser Mann schuldet mir zweieinhalb Rupien. Er bat mich darum und ich habe sie ihm geliehen. Er hat sie geborgt und nie zurückgegeben.«
»Trottel!« brüllte der König. »Sprich nicht von deinen Geldangelegenheiten. Sag mir, was mit dem Mörtel war.«

Buddhu Singh erkannte, wo er war. Er fragte erneut: »Welcher Mörtel!«
Nun war das Gericht so schlau als wie zuvor. Erst nachdem die ganze Angelegenheit mit Datum, Ort und Uhrzeit und auch allen anderen Einzelheiten geklärt war, dämmerte es langsam dem Beschwipsten in seinem benebelten Gehirn.

Er sagte: »Sarkar, im Namen meiner Großmutter, sag mir, wie um Himmelswillen ich meinen Mörtel hätte ordentlich mischen sollen, wenn der Schuft, der mir das Wasser vom nahe gelegenen Wasserhahn auf der anderen Straßenseite liefern sollte, der schlimmste Idiot aller Zeiten war. Er bummelte und trödelte, ich weiß nicht warum; nie brachte er rechtzeitig das Wasser. Die Mischung war daher entweder zu nass oder zu trocken oder noch nicht fertig, wenn der Maurer sie brauchte.«

Der König wurde langsam böse. Die Gerichtsverhandlung verzögerte sich weiter. Sein Essen verspätete sich und es schien nicht leicht zu sein, den Schuldigen, der gehängt werden sollte, ausfindig zu machen. Jeder Angeklagte schien eine perfekte Verteidigung zu haben.

Dennoch musste der Gerechtigkeit Genüge getan werden und so folgte eine eifrige Suche nach dem Wasserträger. Sein Name war Macku Plastri und er wohnte am Rande der Stadt. Er liebte Musik und spielte eine einfache Flöte. Als er gefasst wurde, goss er gerade seinen Garten.

»Bringt ihn zum Galgen!«rief der König.
Der Minister applaudierte. Aber im nächsten Augenblick sagte der König: »Wartet noch einen Moment. Lasst uns dem Verbrecher eine Frage stellen. Warum hast du mit dem Wasser so gebummelt und getrödelt und die Mörtelmischung von Buddhu Singh verdorben?«

Macku Plastri antwortete: »Es ist nicht meine Schuld, oh großer König! Ich musste das Wasser auf der anderen Straßenseite holen, und wie ich es holte, sang eine Tänzerin ein wunderschönes Lied auf ihrem Balkon. Da ich die Musik liebe, blieb ich also stehen und hörte zu.«

»Mein Wasserlederbeutel ist nicht besonders dicht und wie ich so dem Lied der Tänzerin zuhörte, sickerte das ganze Wasser aus dem Beutel. Hätte die Tänzerin nicht auf ihrem Balkon gesungen, hätte ich rechtzeitig und ordentlich meine Pflicht erfüllen können.«

»Lasst den Mann frei!« befahl der König. »Geht und holt mir die Tänzerin.«
Und so befahlen die Wachen der Tänzerin, als sie in ihrem Ankleidezimmer war und sich gerade ihre Haare kämmte, sofort vor Gericht zu kommen.

»Unglückseliges Weib«, fragte der König, »warum singst du auf deinem Balkon?«
Die Tänzerin war vor lauter Angst von Sinnen und wusste daher keine richtige Antwort auf diese Frage zu geben. Sie wurde daher schuldig gesprochen und sollte unverzüglich hingerichtet werden.

Die Wachen brachten sie eilig zum Galgen. Da nun die Arbeit vollendet war, zog sich das Gericht zurück, damit das Urteil vollstreckt werden konnte.

Die Tänzerin stand nun unter dem Galgen. Die Schlinge des Henkers wurde ihr über den Kopf gestülpt. Die unglückliche Frau war schon halb tot vor Angst. Da kam es aber zu einer ganz ungewöhnlichen Situation.

Die Tänzerin war sehr schlank und schmal und die Schlinge des Henkers war viel zu groß. Sie war um einige Male größer als der schmale, schlanke Hals der Frau. Nun herrschte allgemeine Bestürzung.

Am Galgen waren alle Amtspersonen sehr beunruhigt. Wie sollte man sie denn nur hängen? Diese Frage bewegte ihre Gemüter. Ein Mann wurde daher schnellsten zum Minister geschickt. Dieser nahm gerade sein Bad und glitt, eingewickelt in ein Badetuch aus dem Badezimmer. Er legte sodann die Angelegenheit vor den König, der gerade beim Essen war.

Der König aß soeben sein «Imirthi«. Mit königlicher Geste befahl er dem Minister: »Geh! Überbringe sofort meinen Befehl, wenn der Hals dieser Frau zu klein ist für die Schlinge, dann soll jemand mit einem passenden Hals gefunden werden und vollzieht sodann sofort die Hinrichtung.«

Der Minister zog sich wieder zurück. Der König wandte sich zur Königin. Sie war fett, hatte sehr große Zähne und eine große Schwäche für Butter und Süßigkeiten.
»Schau meine Liebe, alle meine Untertanen von unten bis ganz oben sind absolute Narren!« sagte der König und wandte sich wieder seinem »Imirthi« zu.

Der Befehl des Königs wurde der Gruppe am Galgen überbracht. Sie ließen die Tänzerin wieder frei, warnten sie aber vor weiterem Singen auf dem Balkon und sagten ihr, sie solle heimgehen.

Sofort wurden Wachen ausgeschickt, die einen stattlichen Mann, der in die Schlinge passen würde, suchen sollten. Zwei von ihnen kamen zufällig an der Herberge vorbei, in der der Schüler wohne.

Der Schüler hatte gerade ein üppiges Mal verzehrt, saß gemütlich auf der offenen Veranda in der Sonne und stocherte in den Zähnen. Er hatte einen verträumten Blick in den Augen, denn er überlegte gerade, was er zu Abend essen würde. Auch sinnierte er über die Notwendigkeit eines gemütlichen Nickerchens.

Die Wachen erblickten ihn. Das war ihr Mann, gut genährt, stattlich, mit einem Hals, der die Schlinge perfekt annehmen würde. Mit einem triumphierenden »Hurra!« überrumpelten sie ihn, schleppten ihn von der Veranda auf die Straße und eilten mit ihm davon. Der Schüler protestierte laut, empörte sich und bettelte, vergebens. Sie nahmen ihn mit und setzten ihn am Galgen ab.

Verschreckt fragte er, was sie denn mit ihm vorhätten.
Der Richter vor Ort antwortete: »Du sollst hängen«
Schüler: »Warum? Ich habe nichts getan!«
Richter: »Was kümmert uns das? Dieser Mann wurde verletzt und der Täter muss hängen.«
»Ich bin aber nicht der Täter«, rief der Schüler.
»Aber du hast die richtige Größe. Die Schuldige war zu schmal für diese Schlinge. Du passt aber perfekt, hoch mit dir! Du musst baumeln.«
Dann legte sie die Schlinge um den fetten Hals des Schülers.

Jetzt erinnerte sich der Schüler wieder an die ernste und eindringliche Warnung seines guten Gurus. »Oh Schüler! Dies ist die Stadt des Teufels. Vergnügen wird hier bald zur unheilbringenden Gefahr und dein Lächeln wird bitteren Tränen weichen.«

Und dann weinte er bitterlich. Er bebte vor Angst und Schweiß brach auf seiner Stirn aus und floss seinen Nacken herunter. Er litt Todesqualen und rief: »Oh Meister, rette mich! Oh! Warum habe ich dir nicht gehorcht? Warum habe ich in dieser Stadt der Dunkelheit gegessen und bin dick geworden. Ich vergaß, warum ich ursprünglich zur Welt gekommen war und zu meinem Guru ging. Ich vergaß, dass ein wahrer Schüler zu sein heißt, dem Guru zu gehorchen und eine Leben der Disziplin zu führen.«

»Die Anziehung des Vergnügens verführte mich zum Ungehorsam gegenüber den guten Ratschlägen meines Gurus. Ich habe seine Warnungen nicht beherzigt. Ich vergaß meine Pflicht des Verzichts, der Entsagung und der Disziplin und erlag dem Ruf der Sinne und dem Diktat meines vergnügungssüchtigen Verstandes.«

»Ich habe ein Leben der Exzesse und der Maßlosigkeit geführt. Ich habe mein Sadhana (spirituelle Praxis) aufgegeben und meine Pflicht nicht getan. Aus Vergnügungssucht und Eigenwillen habe ich mich von meinem Guru getrennt. Das ist nun das Ergebnis. Die Vergeltung hat mich eingeholt. Oh Gott! Was soll ich nur tun?« So jammerte und klagte er bitterlich.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge um den Galgen. Jemand drängte sich nach vorne und rief: »Halt! Halt!«

Der Henker zögerte einen Moment. Ein stattlicher Mann, ein Sannyasin (Mönch), stieg die Stufen zum Galgen hinauf und stellte sich neben den Schüler. Es war der Guru. Durch seine Intuition wusste er auch in weiter Entfernung, dass sein Schüler sich in großer Gefahr befand. Er war daher schnellstens zur Stadt geeilt und erreicht gerade noch im kritischsten Moment den Galgen.

Der Schüler unterbrach ihn jetzt und sagte: »Nein, nein!« Tu es nicht! Hängt mich! Schnell!« Der Guru aber wollte nicht hören. Er bestand darauf die Schlinge zu nehmen. Der Henker war hilflos. Er schaute zum Richter und fragte: »Was soll das?«

Aber niemand hörte ihnen zu, denn der Guru und der Schüler waren in einem heftigen Wortgefecht. Jeder wollte gehängt werden und wollte dem anderen den Platz nicht überlassen. Dies war eine ganz außergewöhnliche Situation. Es überstieg die Begriffsfähigkeit des Henkers. Wieder wurde ein neuer Bote zum König geschickt.

Die Angelegenheit war so außergewöhnlich, dass der König nun höchstpersönlich kam. Er wollte vom Guru wissen, warum er selbst gehängt werden wollte.

Der Guru wollte ihm zuerst nicht antworten, aber als der König darauf beharrte, sagte er: »Mein lieber König, es gibt einen guten Grund für meinen Wunsch. Ich bin Experte und Meister der Hindu-Astrologie. Durch meine genauen Berechnungen ist mir zur Kenntnis gekommen, dass heute zu dieser Zeit ein außergewöhnlicher, vielversprechender Muhurta (Moment) ist und dass die Person, die während dieses Muhurta, an diesem Punkt wo sich der Galgen und die Schlinge befinden, an dieser Kreuzung von Breiten- und Längengrad stirbt, dass diese Person in ihrer unmittelbar nächsten Geburt höchster Kaiser des ganzen Landes werden wird. Ich möchte Kaiser werden. Deshalb bin ich hierher geeilt. Nun weißt du und kennst du den Grund. Lass mich also jetzt schnell hängen, ehe der Muhurta vorüber ist!«

Der König war entrüstet. »Absurd!« rief er. »Du! Du willst Kaiser werden? Welche Dreistigkeit! Welche Vermessenheit! Ich soll Kaiser werden. Ich werde jetzt gehängt!«

Mit diesen Worten legte sich König Bahadur die Schlinge um den Hals. Es brach ein großer Tumult aus. Der Guru fasste den Schüler bei der Hand und beide eilten schnellsten von dieser Stelle weg. Schnellen Schrittes erreichten sie bald die Außenbezirke der Stadt. Der Schüler war gerettet.

Der Schüler fiel nun vor dem Guru auf die Knie und umfasste dessen Füße. Er erkannte seinen Fehler, bereute ihn und bat den Guru um Vergebung. Der Guru hob ihn auf, segnete ihn und sagte: »Folge mir.«

Beide kehrten der »Stadt der Dunkelheit«, der Stadt der Vergnügungen und der Fülle den Rücken und begaben sich auf die Straße zum Himalaja, wo die Menschen in Einfachheit und Disziplin leben. Sie erreichten einen kleinen Weiler an den Ufern des Ganges, wo der Schüler ein strenges Leben aus Einfachheit, Disziplin, Sadhana, im Dienste seines Gurus und in Gehorsam und Anbetung Gottes lebte.

Der Schüler verwirklichte bald Gott durch die Gnade seines Gurus und erreichte die immerwährende Wonne, die millionenfach mehr ist als alle Sinnesvergnügen des ganzen Universums zusammen.

Er folgte seinem Guru und kam schließlich aus der Dunkelheit ins Licht.

Stadt der Dunkelheit – Swami SivanandaNovelle


Autor*in: Swami Sivananda

Bewertung des Redakteurs:

URL: https://aventin.blogspot.com/2020/01/stadt-der-dunkelheit.html

    Die Welt ist ein Reich der Sinneswahrnehmungen. Der Verstand und die Sinne sind sehr leicht zu täuschen und unzuverlässig. Alle Wahrnehmungen und Erfahrungen, die mit deren Hilfe gemacht werden, können daher irreführend, trügerisch und gefährlich sein. Zuerst scheint alles seinen richtigen Weg zu gehen, aber später stellt sich dann heraus, dass das überhaupt nicht stimmt.