Traum hinter Gittern
Traum hinter Gittern – Wilhelm Scharrelmann – Fabel - Im Zoo
In einem der größten und festesten Zwinger des Tiergartens wanderte ein längst unverträglich gewordener alter Eisbär, einer der stärksten, die man in zoologischen Gärten jemals gehegt hatte, täglich von früh bis spät hinter den rostigen Stangen seines Käfigs hin und her.
»Welch unnütze Kraftverschwendung!« wunderte sich ein junges Walross, das erst vor kurzem eingeliefert worden war. Glaubte vielleicht der alte Räuber da drüben, im Gitter seines Zwingers unverhofft noch eine Lücke zu entdecken, um sich zu befreien und sich dann auf die Tiere seiner Umgebung stürzen zu können?
Besorgt fragte das junge Walross einen der älteren Genossen seines Beckens danach.
»Nein, das Gitter ist fest genug, und für so töricht musst du auch den Bären nicht halten!« bekam es zur Antwort. »Seine Ruhelosigkeit ist nur eine Erinnerung an die Weite des Ozeans und die Unendlichkeit der Schneefelder, deren Gebieter er einmal war. So kann er bei seinem Umherwandern glauben, noch so unbehindert zu sein wie früher.«
»Die Gefangenschaft hätte ihn wohl sonst längst trübsinnig gemacht, ja, vielleicht schon getötet. Sag nicht, dass es unmöglich ist, von einer Einbildung zu leben. Viele von uns müssen es, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen.«
»Ja, wir haben alle keine große Auswahl in den Mitteln, die uns helfen können, unser Schicksal etwas leichter zu ertragen. Eine glückliche Illusion hilft daher über unser trauriges Schicksal hinweg und ist vielleicht nicht das Schlechteste!«
Das junge Walross glaubte nicht richtig verstanden zu haben. »Eine Illusion? Soll ich unser Wasserbecken hier vielleicht auch für das Polarmeer halten?» fragte es spöttisch.
»Wenn du es vermagst, warum denn nicht?« erwiderte das alte Walross ernst. »Vielleicht würde es dir auch helfen, den alten Einsiedler da drüben besser zu verstehen und nicht nur zu belächeln.«
»Der Weg zum Verständnis anderer führt immer erst durch die Einsicht, die wir in unser eigenes Wesen gewinnen.«
Traum hinter Gittern – Wilhelm Scharrelmann – Fabel - Einsicht - Zoo
Autor*in: Wilhelm Scharrelmann
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In einem der größten und festesten Zwinger des Tiergartens wanderte ein längst unverträglich gewordener alter Eisbär, einer der stärksten, die man in zoologischen Gärten jemals gehegt hatte, täglich von früh bis spät hinter den rostigen Stangen seines Käfigs hin und her.