Konventionelle Ausdrucksformen |
Konventionelle Ausdrucksformen – R.M.F – Alltagspsychologie
Man nimmt vielfach an, die Sprache des mimischen Ausdrucks sein ein Esperanto, das alle Menschen verstehen würden.
Und sicherlich ist das, im Hinblick auf die Urgesten, richtig; geht doch deren Verständlichkeit über den Kreis der Menschen hinaus, werden doch auch Hunde von unserem drohenden Blick geschreckt, ja Löwen vom festen Auftreten des Dompteurs gebändigt.
In der Überzeugung, dass bei primitiven Menschen, bei Wilden, Kindern und Geisteskranken der reinste, urtümlichste Ausdruck zu finden sei, studieren unsere Expressionisten, die Künstler, die den möglichst gesteigerten Ausdruck als höchste Macht der Kunst verehren, die Plastiken der Ureinwohner, die Zeichnungen der Kinder und Paranoiker. Hier glauben sie, die reine Natur zu finden.
Und doch irren sie, wenn sie meinen, dort einen ganz reinen und unkonventionellen Ausdruck zu finden. Wo immer eine Gemeinschaft besteht, wird der Ausdruck auch konventionalisiert, wenn auch die meisten dieser Konventionen als Variationen der Urgesten erkennbar bleiben. Aber wir wissen vielfach nicht, was noch Urgeste, was schon konventionell ist.
Die meisten Europäer meinen, dass das Nicken mit dem Kopf als Zeichen der Bejahung, das Schütteln des Kopfes als Zeichen der Verneinung, dass Kuss als Zeichen der liebenden Vereinung »Natur« seinen, jenem Esperanto der Gefühlssprache angehörten. Sie sind aber dann erstaunt zu lesen, dass zum Beispiel die Orientalen vielfach als Zeichen der Bejahung den Kopf zurückwerfen, als Zeichen der Verneinung mit dem Kopf nicken, dass viele Völker den Kuss als Geste der Neigung nicht kennen, statt dessen aber die Nasen aneinander reiben.
Diese Verschiedenheiten beweisen, dass vieles, was wir für »Natur« halten, in Wahrheit Konvention ist, wenn auch die meisten dieser Konventionen doch nur andere Varianten der gleichen Urgeste sind, wie denn sowohl das Küssen wie das Nasenreiben nur symbolische Variationen der Urgeste der Vereinigung sind.
Es ist daher fesselnd, in den mancherlei konventionellen Gesten, die in jeder größeren Gemeinschaft als festes Kulturgut bestehen, die Urgesten aufzuspüren, das Urthema in den buten Variationen, von denen die Völkerkunde berichtet. Außerordentlich durchsichtig sind die Höflichkeitsformen, zum Beispiel die Grußetikette, die in keiner Gemeinschaft fehlt und bei manchen Völkern zu noch geschlossenerem Zeremoniell ausgebildet ist als bei modernen Europäern.
Nehmen wir zunächst die Mimik der Ehrerbietung, die darin besteht, dass man dem anderen ausdrücken will, man stelle dessen Person über die eigene, was allerdings unter Gleichgestellten meist in der Voraussetzung geschieht, dass der andere die gleiche Gefühlsäußerung zurück gibt.
Als Urgeste der Ehrerbietung, das heißt der betonten Herabsetzung des eigenen Selbst gegenüber dem anderen, erkannten wir die Selbstverkleinerung, die im anderen ein Gefühl der Selbsterhöhung hervorruft. Als Varianten dieser Selbstverkleinerung ergeben sich fast alle Ehrerbietigkeiten.
In mannigfachen Gradabstufungen vollzieht sich diese Urgeste. Selbstverkleinerung ist es, wenn der Untergebene sich flach auf den Boden wirft oder in die Knie sinkt, Selbstverkleinerung ist es, wenn wir verehrend uns verneigen, wenn unsere Damen den »Hofknix« ausführen, ja, wenn wir nur das Haupt beugen, die Augen niederschlagen oder den Hut abnehmen.
Bei den Orientalen tritt an Stelle dieser, ihnen unbekannten Geste die Bewegung der Hand von der Stirn oder der Brust erdwärts, eine symbolische Geste des Sichniederwerfens. Auch andere Gesten, so das Ablegen der Waffen vor einem Höhergestellten, kommen vor.
Schlagende Beispiele für ein Zeremoniell der unbedingten Ehrerbietung bietet das preußische Militärsystem.
Die Idee des willenlosen Gehorsams wird dadurch symbolisiert, dass der »Mann« oder die »Frau« tunlichst der Maschine, also dem willenlosen Werkzeug, angenähert wird. Das Strammstehen, das »Hände-an-die-Hosennaht-Legen«, die schroffen, eckigen Bewegungen erinnern durchaus an von Drähten bewegte Puppen, ein Bild, das sich am deutlichsten darstellt, wenn man an den berühmten Parademarsch mit seinen starren, unorganischen geraden Linien denkt.
Diesem Zeremoniell gegenüber ist der Gruß der römischen Legionäre durch freies Aufheben der Hand eher als Ausdruck eines Bekenntnisses zur römischen Staatsidee zu betrachten, was hinüberführt zu den Gesten der Selbsterhöhung.
Die Urgeste des Stolzes ist die Selbstvergrößerung. Diese wird beim Höhergestellten auch im Gruß gewahrt, es kommt nur zur »Herablassung«, das heißt einem geringen Herniedersteigen bei gewahrter Aufrechterhaltung. Solche Gesten der Herablassung sind das leichte Neigen des Kopfes beim Fürsten, die huldvolle Bewegung der Hand von oben nach unten, die Bitte an den sich Unterstellenden, sich zu bedecken, oder die Sitte des Mittelalters, dass der Fürst dem vor ihm knienden Ritter die Hand aufs Haar legte oder ihn emporzog. Auch der Segen des Priesters ist eine mit religiösem Zeremoniell verquickte Form der Herablassung.
Oft ist kaum mehr die Grenze zu ziehen zwischen Urgeste und Konvention. Wenn wir zum Zeichen der Freundschaft die Hände vereinen, uns umarmen, Arm in Arm gehen, so spielen beide Dinge ineinander, während wir die »Blutsbrüderschaft«, das Trinken eines Tropfen Bluts aus dem Arm des anderen bei manchen primitiven Völkern, nur als Konvention empfinden.
Aber die Urgeste der Vereinigung und Angleichung steckt auch hier unverkennbar darin. Wunderliche Blüten treibt besonders die erotische Konvention; doch erübrigt es sich, darauf einzugehen: ein Blick in einen modernen Ballsaal wird der Illustrationen genug erbringen, wie sich dort die sexuelle Urgeste mehr oder weniger verkappt betätigt.
Sobald aber bestimmte Konventionen eintreten, ist die Mimik nicht mehr »allgemein-menschlich«, ist sie nur innerhalb bestimmter Gruppen gültig. Das heißt, die angebliche Allerweltssprache spaltet sich in »Ausdrucksdialekte«. Jedes Volk hat neben gewissen dauernden Urgesten rein dialektische Ausdrucksformen, die freilich von der Wissenschaft kaum erforscht sind.
Immerhin ist man in der Kunstwissenschaft diesen Dingen auf der Spur, und ganz deutlich zeigt sich da, dass jedem Kunststil ein besonderer Ausdrucksdialekt zugrunde liegt. Wir sehen ganz deutlich die Unterschiede der Mimik und Physiognomik zwischen gotischen, zwischen Barock- oder zwischen Rokokostatuen, die, wenn auch die Urgeste des Schmerzes oder Stolzes stets erkennbar bleibt, diese doch in ganz typischer Weise variieren.
Natürlich lassen sich auch typische Gemeinsamkeiten bei anderen Gruppen oder Typen feststellen: die Geschlechter, die Altersklassen, die Völker, die sozialen Schichten haben jede ihre durchgehende Mimik, was zum Teil auf der biologischen Struktur, zum Teil auf sozialen Konventionen beruht.
Indem sich aber der Ausdruck konventionalisiert, ist er bereits nicht mehr reiner Ausdruck, ist er bereits Zwecken untergeordnet, die nicht mehr im Individuum bedingt sind, sondern überindividueller Natur sind, ja sich oft vom Leben ganz ablösen, gesellschaftliche Funktionen werden, die sich sogar dem Leben entgegenstellen.
Konventionelle Ausdrucksformen – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie
Autor*in: R.M.F
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Man nimmt vielfach an, die Sprache des mimischen Ausdrucks sein ein Esperanto, das alle Menschen verstehen würden. Und sicherlich ist das, im Hinblick auf die Urgesten, richtig; geht doch deren Verständlichkeit über den Kreis der Menschen hinaus, werden doch auch Hunde von unserem drohenden Blick geschreckt, ja Löwen vom festen Auftreten des Dompteurs gebändigt.