Vom Irrtum befangen
Vom Irrtum befangen – Johann Wolfgang von Goethe – Leben
Gar oft im Laufe des Lebens, mitten in der größten Sicherheit des Wandels bemerken wir auf einmal, dass wir uns in einem Irrtum befinden, und dass wir uns für Personen bzw. für Gegenstände einnehmen ließen, ein Verhältnis zu ihnen erträumten, das dem erwachten Auge sogleich verschwindet. Und doch können wir uns nicht losreißen, eine Macht hält uns fest, die uns unbegreiflich scheint.
Manchmal jedoch kommen wir zum völligen Bewusstsein und begreifen, dass ein Irrtum so gut als ein Wahres zur Tätigkeit bewegen und antreiben kann. Weil nun die Tat überall entscheidend ist, so kann aus einem tätigen Irrtum etwas Treffliches entstehen, weil die Wirkung jedes Getanen ins Unendliche reicht. So ist das Hervorbringen freilich immer das Beste, aber auch das Zerstören ist nicht ohne glückliche Folge.
Der wunderbarste Irrtum aber ist derjenige, der sich auf uns selbst und unsere Kräfte bezieht: dass wir uns einem würdigen Geschäft, einem ehrsamen Unternehmen widmen, dem wir nicht gewachsen sind, dass wir nach einem Ziel streben, das wir nie erreichen können. Die daraus entspringende tantalisch-sisyphische Qual empfindet jeder nur um desto bitterer, je redlicher er es meint.
Und doch sehr oft, wenn wir uns von dem Beabsichtigten für ewig getrennt sehen, haben wir schon auf unserem Weg irgendein anderes Wünschenswertes gefunden, etwas uns Angenehmes, mit dem uns zu begnügen wir eigentlich geboren sind.
Vom Irrtum befangen – Johann Wolfgang von Goethe - Essay
Autor: Johann Wolfgang von Goethe
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Gar oft im Laufe des Lebens, mitten in der größten Sicherheit des Wandels bemerken wir auf einmal, dass wir uns in einem Irrtum befinden, und dass wir uns für Personen bzw. für Gegenstände einnehmen ließen, ein Verhältnis zu ihnen erträumten, das dem erwachten Auge sogleich verschwindet.