Dezember 2019 | AVENTIN Blog --

Im kommenden Jahr - Ignaz Wrobel

Im kommenden Jahr – Ignaz Wrobel – (k)eine Satire
Im kommenden Jahr 

Im kommenden Jahr – Ignaz Wrobel – (k)eine Satire


Im kommenden Jahr werden die deutschen Militärs und die deutschen Wehrverbände weiter rüsten, und die deutschen Politiker werden es ableugnen.

Im kommenden Jahr werden sich die deutschen Richter einbilden, ein bestandenes Assessorexamen berechtige sie, den lieben Gott zu spielen und zu ›strafen‹; insbesondere in den kleinen unkontrollierten Provinzgerichten werden die Proletarier auf den Anklagebänken nichts zu lachen haben.

Im kommenden Jahr werden die Gefangenen in den Zuchthäusern, Gefängnissen und Arrestlokalen sinnlos leiden: unter Sexualnot, unter schlecht bezahlten Aufsehern und unter der ›Hausordnung‹ der Direktoren.

Im kommenden Jahr werden die Börsen mit Wertpapieren handeln, ohne dass sich auch nur einer der Spieler darüber Gedanken macht, womit er eigentlich spielt: mit der Arbeitskraft von Proletariern, die mit sechzig Jahren wenigstens wissen, wofür sie das ganze Leben hindurch geschuftet haben: für eine Tuberkulose.

Im kommenden Jahr wird die Allmacht des amoralischen Staats noch höher hinaus wollen als im vergangenen.

Ich erwarte also vom kommenden Jahr nichts Besonderes.

Im kommenden JahrIgnaz Wrobel (Kurt Tucholsky)Satire - Silvester

Autor*in: Kurt Tucholsky

Bewertung des Redakteurs:

URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/im-kommenden-jahr.html

    Im kommenden Jahr werden die deutschen Militärs und die deutschen Wehrverbände weiter rüsten, und die deutschen Politiker werden es ableugnen. Im kommenden Jahr werden sich die deutschen Richter einbilden, ein bestandenes Assessorexamen berechtige sie, den lieben Gott zu spielen und zu ›strafen‹; insbesondere in den kleinen unkontrollierten Provinzgerichten werden die Proletarier auf den Anklagebänken nichts zu lachen haben.

    Sagt es niemand, nur den Weisen

    Sagt es niemand, nur den Weisen – Goethe
    Sagt es niemand, nur den Weisen 

    Sagt es niemand, nur den Weisen – Goethe


    Sagt es niemand, nur den Weisen,
    Weil die Menge gleich verhöhnt,
    Das Lebendige will ich preisen,
    Das nach Flammentod sich sehnt.

    In der Liebesnächte Kühlung
    Die dich zeugte, wo du zeugtest,
    Überfällt dich fremde Fühlung,
    Wenn die stille Kerze leuchtet.

    Nicht mehr bleibst du umfangen
    In der Finsternis Beschattung,
    Und dich reißt ein neu Verlagen
    Auf zu höherer Begattung.

    Keine Ferne macht dich schwierig,
    Kommst geflogen und gebannt,
    Und zuletzt, des Lichts begierig,
    Bist du, Schmetterling, verbrannt.

    Und solang du das nicht hast,
    Dieses: Stirb und werde!
    Bist du nur ein trüber Gast
    Auf der dunklen Erde.


    Sagt es nur den Weisen! - Goethe Gedicht

    Autor*in: Johann Wolfgang von Goethe

    Bewertung des Redakteurs:

    URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/sagt-es-niemand-nur-den-weisen.html

      Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnt, das Lebendige will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnt.

      Der Weihnachtskarpfen - Anekdote

      Der Weihnachtskarpfen – Anekdote – Johann Wolfgang von Goethe
      Der Weihnachtskarpfen 

      Der Weihnachtskarpfen – Anekdote – Johann Wolfgang von Goethe


      Der Herzog von Weimar hatte seinem Minister und Geheimen Rat Goethe zu Weihnachten mehrere schöne, große Karpfen geschickt.

      Der Küchenjunge von Goethe dachte sich nun, es würde bestimmt nicht auffallen, wenn einer der delikaten Fische weniger da wäre.

      Dies wäre sicherlich auch nicht bemerkt worden, wenn der Dieb nicht das Pech gehabt hätte, ausgerechnet seinem Herrn zu begegnen, als er mit der Beute nach Hause ging.

      „He, Junge!“ rief ihn Goethe an. „Was befehlen Exzellenz?“, sagte der Küchenjunge.

      „Ich befehle dir, wenn du wieder einmal einen Fisch mitnehmen willst, dann wähle einen kürzeren oder zieh’ dir einen längeren Mantel an!“

      Der Weihnachtskarpfen – Anekdote von Johann Wolfgang von Goethe


      Autor*in: Johann Wolfgang von Goethe

      Bewertung des Redakteurs:

      URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/der-weihnachtskarpfen-anekdote.html

        Der Herzog von Weimar hatte seinem Minister und Geheimen Rat Goethe zu Weihnachten mehrere schöne, große Karpfen geschickt. Der Küchenjunge von Goethe dachte sich nun, es würde bestimmt nicht auffallen, wenn einer der delikaten Fische weniger da wäre.

        Stille Nacht - Heilige Nacht

        Stille Nacht, heilige Nacht – Weltbekanntes Weihnachtslied
        Stille Nacht 

        Stille Nacht, heilige Nacht – Weltbekanntes Weihnachtslied


        Es war am 24. Dezember 1818. In Oberndorf bei Salzburg wirkte Joseph Mohr als junger Hilfspriester. Er hatte noch nicht lange dies Stelle inne, vor einem Jahr war er erst hierhergekommen. Bald hatte er sich mit dem Lehrer Franz Xaver Gruber angefreundet, der ein Jahr früher hierher gekommen war und neben seinem Dienst als Schulmeister auch die Orgel in der großen Schifferkirche St. Nicola spielte.

        Man erzählt, die Orgel sei gerade nicht in Ordnung gewesen und der junge Hilfspriester Joseph Mohr wollte auf keinen Fall die Christmette sang- und klanglos vorübergehen lassen. Kurz vor dem Weihnachtsfest hat er also seinem Freund vorgeschlagen, etwas für die Heilige Nacht zu verfassen. Gesagt, getan. Mohr verfasste den Text und überreichte ihn am 24. Dezember dem Lehrer und Organisten Gruber mit der Bitte, denselben passend für zwei Solostimmen und Chor mit Gitarrenbegleitung zu vertonen.

        Franz Xaver Gruber übergab noch am gleichen Abend seine einfache Komposition dem musikalisch wohlgebildeten Auftraggeber. Diesem gefiel die Melodie. Es folgte eine kurze Probe und das Lied ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ wurde sofort bei der Christmette uraufgeführt. Mohr sang Tenor und begleitete mit der Gitarre, Gruber sang die Bassstimme und der Kirchenchor wiederholte die beiden Schlussverse. Die Kirchenbesucher horchten auf, als sie das neue Lied hörten und so mancher dürfte bereits auf dem Heimweg leise vor sich hingesungen haben.

        Jahre vergingen, es wurde still um ‚Stille Nacht‘. Der Hilfspriester Joseph Mohr wurde 1819 an einen anderen Ort versetzt, Franz Gruber versah wohl noch bis 1829 den Schul- und Organistendienst in Oberndorf. Das Lied geriet in Vergessenheit, war doch die Möglichkeit der Verbreitung damals noch bei weitem nicht so gegeben wie heute.

        Jahrzehnte später entdeckte man in Salzburg handgeschriebene Noten mit dem darunter stehenden Text ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘. Man erkannte die Innigkeit, welche dem Lied den tieferen Sinn gab, schrieb es neu mit kleineren Veränderungen der Melodie und brachte es erneut zur Aufführung. Jetzt erst wurde ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ das Weihnachtslied überhaupt, das alle bisherigen kirchlichen Lieder in wenigen Jahren überflügelte. Der Text wurde in viele Sprachen übersetzt, die Melodie kennt die ganze Welt.

        Stille Nacht, heilige Nacht – Weltbekanntes Weihnachtslied - Wissen

        Autor*in: Aventin

        Bewertung des Redakteurs:

        URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/stille-nacht-heilige-nacht.html

          Es war am 24. Dezember 1818. In Oberndorf bei Salzburg wirkte Joseph Mohr als junger Hilfspriester. Er hatte noch nicht lange dies Stelle inne, vor einem Jahr war er erst hierhergekommen. Bald hatte er sich mit dem Lehrer Franz Xaver Gruber angefreundet, der ein Jahr früher hierher gekommen war und neben seinem Dienst als Schulmeister auch die Orgel in der großen Schifferkirche St. Nicola spielte.

          Gibt es einen Weihnachtsmann

          Gibt es einen Weihnachtsmann – Francis Pharcellus Church
          Gibt es einen Weihnachtsmann 

          Gibt es einen Weihnachtsmann – Francis Pharcellus Church


          Im September 1897 fand der Chefredakteur der New Yorker Zeitung »The Sun« auf seinem Schreibtisch folgenden Brief eines achtjährigen Mädchens:

          »Lieber Redakteur! Ich bin acht Jahre alt. Einige meiner Freundinnen sagen immer, es gibt gar keinen Weihnachtsmann. Papa aber sagt: ‘Wenn es in The Sun steht, dann ist es wahr’. Bitte, sag mir doch die Wahrheit, gibt es einen Weihnachtsmann? Viginia O’ Hanlon.«

          Die Beantwortung des Briefes übernahm Francis Pharcellus Church, Redaktionsmitglied und Leitartikler der »Sun«. Die Worte, die er für die kleine Virginia fand, erscheinen seither Jahr für Jahr in der Weihnachtsausgabe, zur Freude von Millionen Leserinnen und Leser aller Altersstufen.

          Virginia, deine kleinen Freunde haben unrecht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. In diesem unserem großen Universum ist der Mensch vom Intellekt her ein bloßes Insekt, eine Ameise, verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an der Intelligenz, die zum Begreifen der Gesamtheit von Wahrheit und Wissen fähig ist.

          Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Er existiert so zweifellos wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und deinem Leben seine höchste Schönheit und Freude geben. Oh weh! Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so öde, als wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keinen kindlichen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die diese Existenz erträglich machen. Wir hätten keine Freude außer durch die Sinne und den Anblick. Das ewige Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht.

          Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Du könntest ebenso gut nicht an Elfen glauben! Du könntest deinen Papa veranlassen, Menschen anzustellen, die am Weihnachtsabend auf alle Kamine aufpassen, um den Weihnachtsmann zu fangen; aber selbst wenn sie den Weihnachtsmann nicht herunterkommen sähen, was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können. Sahst du jemals Elfen auf dem Rasen tanzen? Selbstverständlich nicht, aber das ist kein Beweis dafür, dass sie nicht dort sind. Niemand kann die ungesehenen und unsichtbaren Wunder der Welt begreifen oder sie sich vorstellen.

          Du kannst eine Rassel auseinander reißen und nachsehen, was darin die Geräusche erzeugt; aber die unsichtbare Welt ist von einem Schleier bedeckt, den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinander reißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseite schieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben. Ist das alles wahr? Ach, Virginia, in der ganzen Welt ist nichts sonst wahrer und beständiger.

          Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank! lebt er, und er lebt auf ewig. Noch in tausend Jahren, Virginia, nein, noch in zehnmal zehntausend Jahren wird er fortfahren, das Herz der Kindheit zu erfreuen.

          Gibt es einen Weihnachtsmann? – Francis Pharcellus Church - Story - Weihnachten - Brief


          Autor*in: Francis Pharcellus Church

          Bewertung des Redakteurs:

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            Im September 1897 fand der Chefredakteur der New Yorker Zeitung »The Sun« auf seinem Schreibtisch folgenden Brief eines achtjährigen Mädchens: »Lieber Redakteur! Ich bin acht Jahre alt. Einige meiner Freundinnen sagen immer, es gibt gar keinen Weihnachtsmann. Papa aber sagt: ‘Wenn es in The Sun steht, dann ist es wahr’. Bitte, sag mir doch die Wahrheit, gibt es einen Weihnachtsmann? Viginia O’ Hanlon.«

            Sechsundvierzig Heiligabende

            Sechsundvierzig Heiligabende – Erich Kästner – Weihnachten
            Sechsundvierzig Heiligabende 

            Sechsundvierzig Heiligabende – Erich Kästner – Weihnachten 


            Fünfundvierzigmal hintereinander habe ich mit meinen Eltern zusammen die Kerzen am Christbaum brennen sehen. Als Flaschenkind, als Schuljunge, als Seminarist, als Soldat, als Student, als angehender Journalist und als verbotener Schriftsteller. In Kriegen und in Frieden. In traurigen und in frohen Zeiten. Vor einem Jahr zum letzten Mal. Als es Dresden, meine Vaterstadt, noch gab.

            Diesmal werden meine Eltern am Heiligabend allein sein. Im Vorderzimmer werden sie sitzen und schweigend vor sich hinstarren. Das heißt, der Vater wird nicht sitzen, sondern am Ofen lehnen. Hoffentlich hat er eine Zigarre im Mund. Denn rauchen tut er für sein Leben gern. »Vater hält den Ofen, damit er nicht umfällt«, pflegte meine Mutter früher immer zu sagen. Und mit einem Male wird er »Gute Nacht« murmeln und klein und gebückt, denn er ist fast achtzig Jahre alt, in sein Schlafzimmer gehen.

            Nun sitzt sie ganz einsam und verlassen. Ein paarmal hört sie ihn nebenan noch husten. Schließlich wird es in der Wohnung vollkommen still sein . . . Bei Grüttners oder Ternettes singen sie vielleicht »Oh du fröhliche, oh du selige«. Meine Mutter tritt ans Fenster und schaut auf die weißbemützten Häuserruinen gegenüber. Am Neustädter Bahnhof pfeift ein Zug. Aber ich werde nicht in dem Zug sein.

            Dann wird sie in ihren Kamelhaarpantoffeln leise und langsam durchs Zimmer wandern und meine Fotographien betrachten, die an den Wänden hängen und auf dem Vertiko stehen. In den Büchern, die ich geschrieben habe und die sie auf den Tisch gelegt hat, wird sie blättern. Seufzen wird sie. Und vor sich hinflüstern: »Mein guter Junge.« Und ein wenig weinen. Nicht laut, obwohl sie allein im Zimmer ist. Aber so, dass ihr das alte, tapfere Herz weh tut.

            Wenn ich daran denke, ist es mir, als müsste ich, hier in München, auf der Stelle vom Stuhl aufspringen, die Treppen hinunter stürzen und ohne anzuhalten bis nach Dresden jagen. Durch die Straßen und Wälder und Dörfer. Über die Brücken und Berge und verschneiten Äcker und Wiesen. Bis ich endlich außer Atem vor dem Haus stünde, in dem sie sitzt und sich nach mir sehnt wie ich mich nach ihr.

            Aber ich werde nicht die Treppen hinunterstürzen. Ich werde nicht durch die Nacht nach Dresden rennen. Es gibt Dinge, die mächtiger sind als Wünsche. Da muss man sich fügen, ob man will oder nicht. Man lernt es mit der Zeit. Dafür sorgt das Leben. Sogar von euch wird das schon mancher wissen. Vieles erfährt der Mensch zu früh. Und vieles zu spät.

            Meine liebe Mutter . . . Nun bin ich doch selber schon ein leicht angegrauter, älterer Herr von reichlich sechsundvierzig Jahren. Aber der Mutter gegenüber bleibt man immer ein Kind. Mutters Kind eben. Ob man sechsundvierzig ist oder Ministerpräsident von Bischofswerda oder Johann Wolfgang von Goethe persönlich. Das ist den Müttern, Gott sei Dank, herzlich einerlei!

            Später wird sie sich eine Tasse Malzkaffee einschenken. Aus der Zwiebelmusterkanne, die in der Ofenröhre warm steht. Dann wird sie ihre Brille aufsetzen und meinen letzten Brief noch einmal lesen. Und ihn sinken lassen. Und an die fünfundvierzig Heiligabende denken, die wir gemeinsam verlebt haben. An Weihnachtsfeste besonders, die weit, weit zurück liegen. In längst vergangenen Zeiten, da ich noch ein kleiner Junge war.

            An das eine Mal etwa, wo ich ihr einen großen, schönen feuerfesten Topf gekauft hatte und mit ihm, als sie mich zur Bescherung rief, hastig durch den Flur rannte. Als ich ins Zimmer einbiegen wollte, begann ich strahlend: »Da, Mutti, hast du . . .« ich wollte natürlich rufen: ». . .einen Topf!« Aber nein, Mutters feuerfester Topf kam leider, als ich in die Zielgerade einbog, mit der Tür in Berührung. Er zerbrach, und ich stammelte entgeistert: »Da, Mutti, hast du – einen Henkel!« Denn mehr als den Henkel hatte ich nicht in der Hand.

            Wenn sie daran denkt, wird sie lächeln. Und einen Schluck Malzkaffee trinken. Und sich anderer Weihnachten erinnern. Vielleicht jenes Heiligabends, an dem ich ihr die »sieben Sachen« schenkte. Verlegen überreichte ich ihr eine kleine, in Seidenpapier gewickelte Pappschachtel und sagte, während sie diese unterm Christbaum vorsichtig und gespannt auspackte: »Weißt du, ich habe doch nicht viel Geld gehabt – aber es sind sieben Sachen, und alle sieben sind sehr praktisch!« In der Schachtel fand sie eine Rolle schwarzen Zwirn, eine Rolle weißen Zwirn, eine Spule schwarzer Nähseide, eine Spule weißer Nähseide, ein Briefchen Sicherheitsnadeln, ein Heftchen Nähnadeln und ein Kärtchen mit einem Dutzend Druckknöpfchen. Sieben Sachen! Da freute sie sich sehr, und ich war stolz wie der Kaiser von Annam.

            Oder ihr fällt jener Weihnachtsabend ein, an dem ich nach der Bescherung, noch zu Försters Fritz, meinem besten Freund, lief, um zu sehen, was denn er bekommen hatte. Seinen Eltern gehörte das Milchgeschäft an der Ecke Jordanstraße . . . Ganz plötzlich kam ich wieder nach Hause. Ich stand, als meine Mutter die Tür öffnete, blass und verstört vor ihr. Försters Fritz hatte eine Eisenbahn geschenkt bekommen, und als ich damit hatte spielen wollen, hatte er mich geschlagen!

            Da stand ich nun klein und ernst vor ihr und fragte, was ich tun solle. Zurückschlagen hatte ich nicht können. Er war ja mein bester Freund! Und warum er mich eigentlich geschlagen hatte, begriff ich überhaupt nicht. Was hatte ich ihm denn getan?

            Damals hatte meine Mutter zu mir gesagt: »Es war richtig, dass du nicht zurückgeschlagen hast! Einen Freund, der uns haut, sollen wir nicht auch prügeln, sondern mit Verachtung strafen.«
            »Mit Verachtung strafen?« Ich machte kehrt.
            »Wo willst du denn hin?« fragte meine Mutter.
            »Wieder zurück!« erklärte ich energisch. »Ihn mit Verachtung strafen!« Und so ging ich wieder zu Försters und verbrachte den Rest des Abends damit, meinen Freund Fritz gehörig zu verachten. Leider weiß ich nicht mehr, wie ich das im einzelnen gemacht habe. Schade. Sonst könnte ich euch das Rezept verraten.

            Oder meine Mutter wird an einen anderen Heiligabend denken, der nicht ganz so weit zurück liegt. Es ist höchstens zwanzig Jahre her – da gingen wir, nach unserer Bescherung, an den Albertplatz zu Tante Lina, um dabei zu sein, wenn der kleine Franz beschert wird. Franz war das Kind meiner früh verstorbenen Base Dora.

            Ich war damals ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Und plötzlich sagte Tante Lina, der Weihnachtsmann, der zum kleinen Franz hätte kommen sollen, habe in letzter Minute wegen Überlastung abgesagt, und ich müsse ihn jetzt unbedingt vertreten! Sie zogen mir einen umgewendeten Pelz an, hängten mir einen großen weißen Bart aus Watte um, drückten mir einen Sack mit Äpfeln und Haselnüssen in die Hand und stießen mich in das Zimmer, wo Franz, der kleine Knirps, neugierig und etwas ängstlich auf den richtigen Weihnachtsmann wartete. Als ich ihn mit kellertiefer Stimme fragte, ober er auch gut gefolgt habe, antwortete er: Oh ja, das habe er schon getan. Und dann kitzelte mich der alberne Wattebart derartig in der Nase, dass ich laut niesen musste.

            Und der kleine Franz sagte höflich: »Prost, Onkel Erich!« Er hatte den Schwindel von Anfang an durchschaut und hatte nur geschwiegen, um uns Erwachsenen den Spaß nicht zu verderben.

            Meine Mutter in Dresden wird also an vergangene glücklichere Weihnachten denken. Und ich in München werde es auch tun. Erinnerungen an schönere Zeiten sind kostbar wie alte goldene Münzen. Erinnerungen sind der einzige Besitz, den uns niemand stehlen kann und der, wenn wir auch sonst alles verloren haben, nicht weggenommen werden kann. Merkt euch das! Vergesst es nie!

            Während ich am Schreibtisch sitze, werden meiner Mutter vielleicht die Ohren klingen. Da wird sie lächeln und meine Fotographien anblicken, ihnen zunicken und flüstern: »Ich weiß schon, mein Junge, du denkst an mich.«

            Sechsundvierzig HeiligabendeErich Kästner - Story

            Autor*in: Erich Kästner

            Bewertung des Redakteurs:

            URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/sechsundvierzig-heiligabende.html

              Fünfundvierzigmal hintereinander habe ich mit meinen Eltern zusammen die Kerzen am Christbaum brennen sehen. Als Flaschenkind, als Schuljunge, als Seminarist, als Soldat, als Student, als angehender Journalist und als verbotener Schriftsteller. In Kriegen und in Frieden. In traurigen und in frohen Zeiten. Vor einem Jahr zum letzten Mal. Als es Dresden, meine Vaterstadt, noch gab.

              Die höhere Ordnung im Kosmos

              Die höhere Ordnung im Kosmos – Alfred Polgar
              Die höhere Ordnung im Kosmos 

              Die höhere Ordnung im Kosmos – Alfred Polgar


              "Mag alles gehen, wie es gehen mag…"

              "Was schert der Tod des Einzelnen!" sagte der Hauptmann, "wenn nur die Truppe der Fahne Ehre macht!"

              "Was liegt am Schicksal eines Regiments, wenn nur die Stadt genommen und der Feind verjagt wird", sagte der General.

              Der Patriot sagte: "Und ob wir bis auf den letzten Mann sterben müssen, wenn es nur dem Vaterland zunutze kommt."

              Der weitblickende Kulturhistoriker blickte weit und sagte: "Selbst wenn ein paar Staaten zugrunde gingen, sie wären nicht vergeblich zugrunde gegangen. Europa würde sich auf sich selbst besinnen und aus dem Blutbad gereinigt, neu geboren, emporsteigen."

              Der Weise strich mit kühlen Fingern seinen langen Bart: "Nehmen wir an, das alte Europa verfiele dem Chaos: wie wohl täte das in weiterer Folge der ganzen Welt! Als Dünger auf dem Acker der Menschheit geopfert, würde wohl der tote Erdteil diesem Acker zu ungeahnt üppigem Gedeihen verhelfen."

              Der Kosmos sprach: "Für mein Sonnensystem XXVII, arabisch 12, litera F, wird das Verschwinden des Planeten Erde einen großen Vorteil bedeuten. Vielleicht wäre es sogar gut, wenn ich das ganze Sonnensystem im Interesse höherer kosmischer Zweckmäßigkeit…"

              "Mag alles gehen, wie es gehen mag, wenn nur mein Kind jeden Tag wieder gesund nach Hause kommt!" sagte Frau Müller.

              Die höhere Ordnung im Kosmos – Alfred Polgar - Aphorismus - Leben

              Autor*in: Alfred Polgar

              Bewertung des Redakteurs:

              URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/die-hoehere-ordnung-im-kosmos.html

                "Mag alles gehen, wie es gehen mag…" "Was schert der Tod des Einzelnen!" sagte der Hauptmann, "wenn nur die Truppe der Fahne Ehre macht!" "Was liegt am Schicksal eines Regiments, wenn nur die Stadt genommen und der Feind verjagt wird", sagte der General.

                Von der Liebe - Khalil Gibran

                Von der Liebe – Khalil Gibran - Herz und Schmerz
                Von der Liebe 

                Von der Liebe – Khalil Gibran - Herz und Schmerz 


                Da sagte Almitra: Sprich uns von der Liebe.

                Und er hob den Kopf und sah auf die Menschen, und es kam eine Stille über sie. Und mit lauter Stimme sagte er:

                Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch noch so schwer und steil.
                Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.
                Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie, auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettert wie der Nordwind den Garten verwüstet.

                Denn so, wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich.
                So wie sie dich wachsen lässt, beschneidet sie dich.
                So wie sie emporsteigt zu deinen Höhen und die zartesten Zweige liebkost, die in der Sonne zittern, steigt sie hinab zu deinen Wurzeln und erschüttert dich.

                Wie Korngarben sammelt sie dich um sich.
                Sie drischt dich, um dich nackt zu machen.
                Sie siebt dich, um dich von deiner Spreu zu befreien.
                Sie mahlt dich, bis du weiß bist.
                Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist.
                Dann weiht sie dich ihrem heiligen Feuer, damit du heiliges Brot wirst für Gottes heiliges Mahl.

                All dies wird die Liebe mit dir machen, damit du die Geheimnisse deines Herzens kennenlernst und in diesem Wissen ein Teil vom Herzen des Lebens wirst.

                Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst, dann ist es besser für dich, deine Nacktheit zu bedecken und vom Dreschboden der Liebe weg zu gehen in die Welt ohne Jahreszeiten, wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all deine Tränen.

                Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst.
                Liebe besitzt nicht, noch lässt sie sich besitzen, denn die Liebe genügt der Liebe.
                Wenn du liebst, solltest du nicht sagen: »Gott ist in meinem Herzen«, sondern: »Ich bin in Gottes Herzen.«

                Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen Lauf.
                Liebe hat keinen anderen Wunsch, als sich zu erfüllen.

                Aber wenn du liebst und Wünsche hast, sollst du dir immer dieses wünschen:
                Zu schmelzen und wie ein plätschernder Bach zu sein, der seine Melodie der Nacht singt.
                Den Schmerz allzu vieler Zärtlichkeit zu kennen.
                Vom eigenen Verstehen der Liebe verwundet zu sein, und willig und freudig zu bluten.
                Bei der Morgenröte mit beflügeltem Herzen zu erwachen und für einen weiteren Tag des Liebens Dank zu sagen;
                Zur Mittagszeit zu ruhen und über die Verzückung der Liebe nachzusinnen;
                Am Abend mit Dankbarkeit heimzukehren;
                Und dann einzuschlafen mit einem Gebet für die Geliebte oder den Geliebten im Herzen mit einem Lobgesang auf den Lippen.

                Von der LiebeKhalil GibranHerz und Schmerz - Essay

                Autor*in: Khalil Gibran

                Bewertung des Redakteurs:

                URL: https://aventin.blogspot.com/2019/12/von-der-liebe.html

                  Und er hob den Kopf und sah auf die Menschen, und es kam eine Stille über sie. Und mit lauter Stimme sagte er: Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch noch so schwer und steil. Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann. Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie, auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettert wie der Nordwind den Garten verwüstet.

                  Der Narr und die Masken - Parabel

                  Der Narr und die Masken – Parabel – Freiheit und Sicherheit
                  Der Narr   


                  Der Narr und die Masken – ParabelFreiheit und Sicherheit  


                  Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde?

                  Das geschah so: Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden waren. Ich hatte nämlich sieben Masken, welche ich in sieben Leben angefertigt und getragen hatte.

                  Unmaskiert rannte ich sodann durch die vollen Straßen und schrie: “Diebe, Diebe, die verdammten Diebe! Sie haben meine Masken gestohlen!”

                  Die Männer und die Frauen lachten. Einige von Ihnen liefen aus Angst vor mir sogar in ihre Häuser zurück. Andere wendeten sich von mir ab. Als ich zum Marktplatz kam, rief ein Junge von einem Hausdach herunter: “Er ist ein Narr!”

                  Ich blickte empor, um ihn zu sehen: da küsste die Sonne erstmals mein bloßes Antlitz. Zum ersten Mal in meinem Leben küsste sie mein bloßes Antlitz, und meine Seele entflammte zu ihr in Liebe. Darauf hin beschloss ich, in meinem Leben nie mehr eine Maske tragen zu wollen.

                  Wie in Trance rief ich sodann aus: “Segen, Segen über die Diebe, die meine Masken gestohlen haben!”

                  So wurde ich zum Narren. Und in meiner Narrheit fand ich schließlich Freiheit und Sicherheit wieder. Freiheit der Einsamkeit und Sicherheit vor dem Verstanden werden. Denn diejenigen, welche immer vorgeben uns zu verstehen, wollen meistens irgend etwas anderes oder uns nur für ihre Zwecke vereinnahmen, was auch einer Versklavung nahe kommt.

                  Ich will aber nicht zu stolz sein auf meine Sicherheit. Denn auch ein Dieb im Kerker ist nicht sicher vor einem anderen Dieb.

                  Der Narr und die MaskenParabel – Freiheit und Sicherheit

                  Autor*in: N. N.

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                    Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde? Das geschah so: Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden waren. Ich hatte nämlich sieben Masken, welche ich in sieben Leben angefertigt und getragen hatte.

                    Der Bär auf der Tanne - Johann H. Pestalozzi

                    Der Bär auf der Tanne – Fabel von Johann H. Pestalozzi
                    Der Bär auf der Tanne 

                    Der Bär auf der Tanne – Fabel von Johann H. Pestalozzi


                    Ein prahlerischer alter Bär erzählte den jungen Bären, er wisse ein Land, in dem es so viel Honig gäbe, dass dort ein Bär den ganzen Tag nichts weiter tun müsse, als sich hinzusetzen und Honig zu lecken. »Wir möchten nach diesem Land auswandern«, riefen sofort die jungen Bären. »Wann willst du uns in das Honigland führen?«

                    Der alte Bär prahlte: »Das will ich gleich tun. Aber vorher sollt ihr noch sehen, was für ein außerordentlicher Bär ich bin. Seht ihr diese Tanne dort! Soweit sie geschunden und die Rinde von Krallen zerfetzt ist, haben sie schon viele andere Bären erklommen, sind aber nie bis zur Spitze gekommen. Ich will aber jetzt ganz hinauf in den höchsten Wipfel klettern.«

                    Der alte Bär lief also zu der hohen Tanne und kletterte am Stamm hinauf bis zu jener Stelle, an der alle anderen Bären umgekehrt waren, weil sie nicht mehr weiter kamen. Da fing die Tanne gefährlich zu wanken an. Der alte Bär aber klomm vorsichtig und langsam immer höher.

                    Vielleicht wäre auch alles gut gegangen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick ein Sturm losgebrochen wäre, der brausend und fauchend durch die Bäume des Waldes fuhr. Der Sturm warf sich mit solcher Gewalt auf den alten Bären, dass ihm Hören und Sehen verging. Mit letzter Kraft bohrte er seine blutenden Krallen tief in den Stamm.

                    Der Bär überlebte den Sturm, aber er konnte die tief eingebohrten Krallen nicht mehr aus dem Holz heraus ziehen. Es wurde dunkel vor seinen Augen, und er spürte, dass er da oben auf seiner Tanne sterben müsse.

                    Aber auch jetzt konnte er das Prahlen nicht lassen. Den Jungen, die klagend unten um den Baum hockten, rief er zu: »Meine große Tat ist mein Tod! Ich kann euch leider nicht mehr in das versprochene Honigland führen. Aber ihr seht und könnt es jedem bezeugen, dass auf dieser Tanne der Bär, der sich am höchsten über seine Artgenossen erheben konnte, starb!«

                    Der Bär auf der Tanne – Fabel von Johann H. Pestalozzi

                    Autor*in: Johann H. Pestalozzi

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                      Variationen des Menschen

                      Variationen des Menschen – R.M.F – Alltagspsychologie
                      Variationen des Menschen 

                      Variationen des Menschen – R.M.F – Alltagspsychologie


                      So wichtig es für das theoretische Verständnis des Menschenlebens sein mag, dass man sich zunächst ein Bild des Menschen macht: für die Praxis des Lebens wird das wenig helfen. Da gilt es die zahllosen Spielarten, in die sich die Gattung »homo sapiens« spaltet, zu beachten.

                      Wir brauchen, um diese zu finden, nicht zu fernen Zonen und Zeiten zu pilgern, es genügt, wenn wir mit Lesages hinkendem Teufel über die Dächer unserer eigenen Städte steigen und hineinblicken in die Säle und Gemächer, in die Büros und die Werkstätten, in die Wohnstuben und Totenkammern, auf all die Freude und den Jammer, den Zorn und die Liebe, die sich meist an erbärmliche Kleinigkeiten klammern und oft auf Trug und Torheit beruhen.

                      Würden wir all das sehen, würde uns unsere Kenntnis der allgemeinen Struktur der Seele und die Formel »Leben« als Deutung dafür recht wenig sagen. Wir würden finden, dass sich die Menschen, die wir zunächst als »gleich« ansehen wollten, in den »gleichen« Situationen höchst ungleich benehmen, dass die einen stolz und kühl bleiben, wo andere ächzen und wimmern, dass die einen edel, die anderen gemein handeln, ja wir würden schließlich zum Ergebnis gelangen, die Menschen seien so verschieden, dass nicht zwei Gleiche sich unter ihnen finden.

                      Wir würden ferner erkennen, dass zwei Menschen, die stolz oder feige sind, doch nicht in gleicher Weise stolz oder feige sind; wenn zwei Menschen das gleich sehen, hören, schmecken, sie doch niemals das gleiche sehen, hören und schmecken und dass sie bei gleichen Worten unendlich Verschiedenes denken. Kurz, wenn wir in die Herzen der Menschen hineinsehen könnten, so würden wir staunen über die Fülle der Möglichkeiten, die innerhalb jener grundsätzlichen Strukturgleichheit bestehen.

                      Wenn Schopenhauer die Menschen als Fabrikware der Natur gescholten hat, wovon er nur sich und ein paar auserlesene Geister ausnahm, so konnte er es nur, weil er sich nicht die Mühe genommen hatte, die Menschen wirklich aus der Nähe zu betrachten. Gewiss ist es theoretisch möglich, die Menschen als Abzüge der gleichen Platte anzusehen; aber selbst wenn das ganz der Wirklichkeit entspräche, so wäre doch zu bedenken, was jeder Kenner weiß: dass die Abzüge des gleichen Klischees sehr verschiedenartig und verschiedenwertig sein können. Für die Praxis des Lebens jedenfalls käme man mit einer Menschenkenntnis, die nur das Klischee kennt, nicht eine Tagesreise weit.

                      So sehr sich dem aufmerksamen Beobachter die tiefe Verschiedenheit der Menschen auch aufdrängt, hat man sie doch keineswegs immer beachtet. Selbst Dichter und Künstler, die doch offenen Blick besitzen sollten für die Buntheit des Lebens, haben oft nur allgemeine Typen statt lebendiger Individualitäten darin erschaut, und scharfe individuelle Charakteristik pflegt in der Entwicklung der Künste vielfach (es gibt daneben auch einen primitiven Naturalismus) erst in Spätzeiten aufzutreten.

                      Man suchte den Reiz künstlerischer Darstellung vielfach wesentlich in dem, was allen Menschen gemeinsam ist, nicht in der schillernden Vielfältigkeit der Wirklichkeit, und man hat sogar eine Theorie, die Theorie des Klassizismus, aus diesem schematischen Sehen gemacht. Ich habe hier nicht zu richten, ob das ästhetisch berechtigt war oder nicht; wir sind gewiss fähig, das »Rein-menschliche« in den Tragödien des Sophokles und den Statuen des Phidias zu sehen.

                      Wir lieben auch die edle Humanität, die »reine Menschlichkeit«, in Goethes »Iphigenie« (deren Vorbild bei dem Griechen Euripides übrigens keineswegs so »human« war, sondern unbedenklich ihre Menschenopfer brachte), und wir sehen es auch mit wohlwollendem Humor, wenn Dürer oder Hans Sachs die heilige Familie aus Nazareth der augusteischen Zeit unbedenklich als biedere Bürger aus Nürnberg des sechzehnten Jahrhunderts auffassen. Aber wir sind heute empfindlicher geworden und vertragen es nicht mehr, wenn ein moderner Autor ägyptischen Königstöchtern die Gefühle deutscher Backfische unterlegt.

                      Ja wir sehen heute, oder sollten es zumindest sehen, nachdem wir alle, ohne es vielleicht zu wissen, durch die historische und ethnologische Schulung des letzten Jahrhunderts hindurchgegangen sind, sogar in der allgemeinen Menschlichkeit griechischer Klassiker das eigentümlich Griechische und in der Humanität der Goetheschen Iphigenie typische Zeitideale der späten Aufklärungsepoche. Wir wollen auch in der Kunst nicht mehr allein den Menschen sehen, sondern gerade die Menschen in all ihrer Besonderheit.

                      Wenn man behauptet, im Grunde seien die Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten wesensgleich, so würde das bedeuten, ihre Kulturen, Künste und Religionen, die so verschieden sind, seien nur äußerlich umgehängte Maskeraden. Zugegeben selbst, dass die Kultur nicht immer weit in die Tiefe reicht, dass man beim »Kulturmenschen« oft nicht allzuviel europäische Schminke abzukratzen braucht, um darunter den Barbaren, ja das Tier zu finden.

                      Dennoch unterscheidet sich ein moderner »Kulturmensch« sehr wesentlich von einem »Naturmenschen«, ja auch von den Kulturmenschen der attischen oder der Florentiner Hochkultur. Wenn man darauf hinweist, dass jeder Mensch in gleicher Weise ein Herz und zwei Augen habe, so kann man dagegen betonen, dass jedes Herz im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinn einen anderen Rhythmus pocht, was sich sehr anschaulich durch Apparate darlegen lässt, die die Pulskurve aufzeigen.

                      Man muss fernen wissen, dass die menschlichen Augen nicht nur in ihrer Leistungsfähigkeit, sondern auch in der Art ihrer Struktur verschieden sind, dass im Grunde jeder Mensch das Sonnenspektrum ein wenig anders sieht, was sich dadurch beweisen lässt, dass, wenn derselbe Gegenstand von zwölf Malern »getreu« kopiert wird, nicht zwölf gleiche, sondern zwölf recht ungleiche Bilder herauskommen.

                      Es ist billig, zu sagen, jeder Mensch habe Furcht vor dem Tod. Wird das nicht zu leerer Phrase, wenn man an Helden denkt, die lachend ins Gefecht stürmten, an Märtyrer, die psalmensingend sich zur Arena drängten, an japanische Edle, die kaltblütig vor allem Volk das Harakiri vollzogen, wie der größte Seeheld dieses Volkes, Admiral Nogi?

                      Warum klingt uns die Mär von Liebeslust und -leid immer wieder neu? Wäre sie nichts als die Wiederholung eines immer gleichen Motivs, sie würde bald unerträglich werden wie eine abgespielte Leierkastenmelodie! Nein, wenn schon die Natur sich darin gefällt, ein immer gleiches Motiv in der Menschheitsgeschichte milliardenfach zu variieren, so variiert sie es eben, und es gibt in der Wirklichkeit nur Variationen, während das Urthema nur als Abstraktion besteht. Auf diese Verschiedenheiten, nicht auf das Urthema, wollen wir jetzt lauschen.

                      Gab das, was wir im vorigen Kapitel brachten, die Hauptzüge der allgemeinen Psychologie wieder, so führen wir jetzt in die Wissenschaft der vergleichenden oder differentiellen Psychologie ein.

                      Variationen des Menschen – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie


                      Autor*in: R.M.F

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                        Am See - Melancholie - Robert Walser

                        Am See – Melancholie – Robert Walser
                        Am See - Melancholie 

                        Am See – Melancholie – Robert Walser - Story 


                        Ich ging eines Abends nach dem Abendessen rasch noch zum See hinaus, der, ich weiß nicht mehr deutlich von was für einer regnerischen Melancholie dunkel umhüllt war. Ich setzte mich auf eine Bank, die unter den freien Zweigen eines Weidenbaumes stand, und indem ich mich so einem unbestimmten Sinnen überließ, wollte ich mir einbilden, dass ich nirgends sei, eine Philosophie, die mich in ein sonderbares reizendes Behagen setzte.

                        Herrlich war das Bild der Trauer am regnerischen See, in dessen warmes graues Wasser es sorgfältig und gleichsam vorsichtig regnete. Der alte Vater mit seinen weißen Haaren stand in Gedanken vor mir, was mich zum nichtsbedeutenden, schüchternen Knaben machte, und das Gemälde der Mutter verband sich mit dem leisen, lieblichen Plätschern der zarten Wellen. Mit dem weiten See, der mich anschaute wie ich ihn, sah ich die Kindheit, die auch mich anschaute wie mit klaren schönen guten Augen.

                        Bald vergaß ich ganz, wo ich war; bald wusste ich es wieder. Einige stille Leute spazierten behutsam am Ufer auf und ab, zwei junge Fabrikmädchen setzten sich auf die Nachbarbank und fingen an, miteinander zu plaudern, und im Wasser draußen, im lieben See draußen, wo das holde, heitere Weinen sanft sich verbreitete, fuhren in Booten oder Nachen noch Liebhaber der Schifffahrt, Regenschirme über den Köpfen aufgespannt, ein Anblick, der mich phantasieren ließ, ich sei in China oder in Japan oder sonst in einem träumerischen, poetischen Land.

                        Es regnete so süß, so weich auf das Wasser und es war so dunkel. Alle Gedanken schlummerten, und wieder waren alle Gedanken wach. Ein Dampfschiff fuhr in den See hinaus; seine goldenen Lichter schimmerten wunderbar im blanken, silberdunklen Wasser, das das schöne Schiff trug, als habe es Freude an der märchenhaften Erscheinung.

                        Die Nacht kam bald darauf und mit ihr das freundliche Gebot, aufzustehen von der Bank unter den Bäumen, vom Ufer wegzugehen und den Heimweg anzutreten.

                        Am See – Melancholie – Kurzgeschichte von Robert Walser - Story

                        Autor*in: Robert Walser

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                          Ich ging eines Abends nach dem Abendessen rasch noch zum See hinaus, der, ich weiß nicht mehr deutlich von was für einer regnerischen Melancholie dunkel umhüllt war. Ich setzte mich auf eine Bank, die unter den freien Zweigen eines Weidenbaumes stand, und indem ich mich so einem unbestimmten Sinnen überließ, wollte ich mir einbilden, dass ich nirgends sei, eine Philosophie, die mich in ein sonderbares reizendes Behagen setzte.

                          Winke verstehen - Balthasar Gracian

                          Winke verstehen - Balthasar Gracian - Handorakel
                          Winke verstehen 

                          Winke verstehen - Balthasar Gracian - Handorakel


                          Einst war es die Kunst aller Künste, richtig reden zu können. Heute reicht das aber nicht mehr aus. Erraten muss man heutzutage können, und zwar richtig, um jeglicher Täuschung zu entgehen.

                          Wer sich leicht tut im Denken, wird auch mit Leichtigkeit jede Absicht erkennen, die sich hinter einer Angelegenheit verbirgt. Wer sich hingegen keine echte Mühe macht zu verstehen, wird weder das eine noch das andere richtig erkennen und nur zum Leid für sich selbst und für andere beitragen.

                          Es gibt Schatzgräber der Herzen und Luchse der Absichten. Und anstatt Wahrheit, an welcher uns ja am allermeisten gelegen ist, zu erhalten, werden wir vom Gegenüber über eine Angelegenheit oft in Form einer wohl verpackten Lüge unterrichtet, oder wir erhalten gezielt einseitige Informationen, die wiederum auch nur die halbe Wahrheit beinhalten.

                          Nur der aufmerksame Mensch, der sich immer und immer wieder die Mühe macht, auch über Hintergründe und Absichten nachzudenken, wird imstande sein, Täuschungen zu entgehen.

                          Welche Winke uns auch erreichen mögen, immer stecken irgendwelche Absichten dahinter, gute oder böse.

                          Winke verstehen - Gracian - Handorakel - Weisheit

                          Autor*in: Balthasar Gracian

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                            Frau Holle - Märchen - Brüder Grimm

                            Frau Holle - Märchen - Brüder Grimm
                            Frau Holle - Märchen - Brüder Grimm 

                            Frau Holle - Märchen - Brüder Grimm 


                            Eine Witwe hatte zwei Töchter, die eine war schön und fleißig, und die andere hässlich und faul. Die Frau aber hatte die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Strasse bei einem Brunnen hinsetzen, und musste so viel spinnen, dass ihr schon das Blut aus den Fingern drang.

                            Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war. Da bückte sich das Mädchen in den Brunnen und wollte sie abwaschen. Die Spule aber sprang ihr aus der Hand und fiel hinab in die Tiefe. Das Mädchen weinte nun sehr, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das ganze Unglück. Diese aber schalt sie heftig und war ganz unbarmherzig mit ihr. Sie sprach zu ihr: »Du hast du die Spule hinunterfallen lassen, jetzt hol sie auch wieder herauf!«

                            Da ging das Mädchen wieder zum Brunnen zurück und wusste nicht, wie sie es anfangen sollte. Und in seiner Herzensangst sprang das Mädchen schließlich in den Brunnen hinein, um die Spule wieder zu holen. Sie verlor dabei die Besinnung, und als sie erwachte und wieder zu sich selber kam, lag sie auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Sie stand auf und ging etwas umher und kam zu einem Backofen, der voller Brot war. Das Brot im Ofen aber rief: »Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenne ich noch, bin schon längst ausgebacken.«

                            Da trat das Mädchen hinzu, und holte mit dem Brotschieber alles Brot nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voller Äpfel und rief ihr zu: »Ach schüttle mich, schüttle mich, mir sind bereits alle Äpfel reif.« Da schüttelte das Mädchen fest den Baum, dass die Äpfel herunter fielen, als würde es regnen. Sie schüttelte und schüttelte, bis keiner mehr oben war. Und als sie alle Äpfel in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging sie wieder weiter.

                            Endlich kam sie zu einem kleinen Haus, aus dem eine alte Frau guckte. Und weil diese so große Zähne hatte, wurde ihr gleich Angst und sie wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihr nach: »Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir! Wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll es dir bei mir gut gehen. Du musst nur acht geben, dass du mein Bett immer gut machst und es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen. Dann schneit es nämlich in der Welt. Ich bin die Frau Holle.«

                            Und weil ihr die Alte so gut zusprach, fasste sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Sie besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit, und schüttelte ihr immer das Bett gewaltig aus, dass die Federn wie Schneeflocken umher flogen. Dafür hatte sie aber auch ein gutes Leben bei ihr. Kein böses Wort fiel und alle Tage hatte sie gesundes Essen.

                            Nun war sie aber schon eine lange Zeit bei der Frau Holle, da wurde das Mädchen traurig und wusste anfangs selbst gar nicht, was ihr fehlte. Endlich merkte sie, dass es einfach nur Heimweh war. Obwohl es ihr bei der Frau Holle viel tausendmal besser ging als zu Hause, so hatte sie doch das Verlangen zurück zu kehren. Endlich sagte sie zur Frau Holle: »Ich habe im Herzen den Jammer nach Haus gekriegt. Und wenn es mir bei dir auch noch so gut geht, so kann ich doch nicht länger bleiben. Ich muss wieder mal zu den Meinigen.«

                            Die Frau Holle antwortete: »Es gefällt mir, dass du wieder nach Hause verlangst, und weil du mir so treu gedient hast, will ich dich auch selbst wieder zurück bringen.«

                            Dann nahm Frau Holle das Mädchen bei der Hand und führte sie vor ein großes Tor. Das Tor ging auf, und wie das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen hernieder. Das Gold blieb alles an ihr hängen, so dass sie über und über davon bedeckt war. »Das sollst du haben, weil du immer so fleißig gewesen bist«, sprach die Frau Holle und gab ihr auch die verlorene Spule wieder zurück, die ihr in den Brunnen gefallen war. Darauf war das Tor wieder verschlossen, und das Mädchen befand sich wieder oben auf der Welt, nicht weit weg von zuhaus. Als das Mädchen sodann in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief: »Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.«

                            Dann ging sie ins Haus hinein zu ihrer Mutter, und weil sie mit so viel Gold bedeckt ankam, wurde sie von ihr und der Schwester auch wieder gut aufgenommen.

                            Nun musste das Mädchen alles erzählen, was ihr begegnet war. Und als die Mutter hörte, wie sie zu dem großen Reichtum gekommen war, wollte sie auch der faulen Tochter dasselbe Glück verschaffen. Diese musste sich nun auf den Brunnen setzen und spinnen. Und damit ihre Spule etwas blutig war, stach sie sich mit einem Dorn von der nahen Dornenhecke in den Finger. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang sogleich auch selber mit hinein.

                            So kam sie auch, wie das andere Mädchen, auf die schöne Wiese und ging auf dem beschriebenen Weg weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot: »Ach zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenne ich noch, bin schon längst ausgebacken.« Das faule Mädchen aber antwortete: »Ich habe keine Lust, mich schmutzig zu machen«, und ging einfach fort.

                            Bald kam sie zu dem Apfelbaum, auch der rief wieder: »Schüttle mich, schüttle mich, mir sind alle Äpfel reif geworden.« Die Faule aber antwortete: »Du kommst mir gerade recht. Wenn ich schüttle, könnte mir einer auf den Kopf fallen«, und ging weiter. Als sie vor das Haus der Frau Holle kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie ja von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich sogleich zu ihr.

                            Am ersten Tag bemühte sie sich noch, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte immer an das viele Gold, das sie ihr schenken würde. Am zweiten Tag aber fing sie schon an zu faulenzen, und am dritten Tag noch viel mehr. Da wollte sie morgens schon gar nicht mehr aufstehen.

                            Die Faule machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sie es hätte machen sollen. Sie schüttelte es nicht und keine Federn flogen davon. Das gefiel der Frau Holle nun gar nicht und sagte ihr den Dienst auf.

                            Die Faule war damit wohl zufrieden und meinte nun, jetzt würde endlich der Goldregen kommen. Die Frau Holle führte auch sie zu dem Tor, und als sie darunter stand, wurde statt des Goldes ein großer Kessel voll mit Pech über ihr ausgeschüttet. »Das ist die Belohnung für deine Dienste«, sagte die Frau Holle und schloss das Tor wieder zu.

                            Als die Faule schließlich heim kam, war sie über und über mit Pech bedeckt, und der Hahn, der auf dem Brunnen saß und sie sah, rief: »Kikeriki, unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie.«

                            Das Pech aber blieb fest an der Faulen hängen und wollte, solange sie lebte, nicht mehr von ihr abgehen.

                            Frau Holle - Märchen - Brüder Grimm

                            Autor*in: Brüder Grimm

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                              Eine Witwe hatte zwei Töchter, die eine war schön und fleißig, und die andere hässlich und faul. Die Frau aber hatte die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Strasse bei einem Brunnen hinsetzen, und musste so viel spinnen, dass ihr schon das Blut aus den Fingern drang.