Juli 2020 | AVENTIN Blog --

Landors Landhaus - Edgar Allan Poe

Landors Landhaus – Edgar Allan Poe - Novelle
Landors Landhaus 

Landors Landhaus  
Edgar Allan Poe - 
Novelle


Während einer Wanderung, die mich letzten Sommer durch einige Flusstäler der Grafschaft New York führte, sah ich mich, als der Tag zur Neige ging, in gewisser Verlegenheit, welchen Weg ich einschlagen sollte.

Das Land war auffallend hügelig, und in der letzten halben Stunde hatte mich der Pfad, bei meinem Bemühen, mich in den Tälern zu halten, so verwirrend um und rundum geführt, dass ich nicht mehr ahnte, in welcher Richtung das reizende Dorf B … lag, wo ich die Nacht zu bleiben gedachte.

Es hatte, genau genommen, den Tag über eigentlich keinen Sonnenschein gegeben, dennoch war es ungewöhnlich warm gewesen. Ein Nebelschleier, wie lauter Altweibersommer, verhängte alle Dinge und vermehrte natürlich meine Unsicherheit. Nicht dass ich die Sache sehr wichtig nahm.

Sollte ich nicht vor Sonnenuntergang, selbst nicht vor Einbruch der Dunkelheit auf das Dorf stoßen, so war es doch mehr als wahrscheinlich, dass irgendein kleines Farmhaus oder dergleichen auftauchen würde, wenn auch die Gegend (vielleicht weil sie sich mehr malerisch als fruchtbar erwies) nur spärlich bewohnt war. Jedenfalls wäre ein Biwak im Freien, mit einem Rucksack als Kissen und meinem Jagdhund als Wächter, so recht nach meinem Geschmack gewesen.

Ich schlenderte daher wohlgemut weiter und hatte meine Flinte Ponto aufgeladen, als ich schließlich, da ich eben Betrachtungen darüber anstellte, ob die zahlreichen kleinen Lichtungen, die hier- und dorthin führten, überhaupt Pfade vorstellen sollten, auf dem verlockendsten von ihnen auf einen richtigen Fahrweg geriet.

Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Leichte Räderspuren waren sichtbar, und obgleich das hohe Strauchwerk und das aufgeschossene Unterholz sich oben zusammenschlossen, gab es am Boden nicht das geringste Hemmnis, selbst nicht für ein virginisches Berggefährt, meiner Meinung nach das anspruchsvollste, hochfahrendste Vehikel seiner Art.

Abgesehen davon, dass der Weg frei in den Wald führte (wenn die Bezeichnung Wald nicht allzu wuchtig ist für dieses Beieinander lichter Bäume) und dass er deutliche Räderspuren aufwies, glich er auch nicht entfernt irgendeinem der Wege, die ich je gesehen hatte.

Die besagten Spuren waren kaum wahrnehmbar auf einer Fläche, die eine lebhafte Ähnlichkeit mit grünem Genueser Samt besaß. Es war Gras, gewiss, aber Gras, wie wir es außer in England selten sehen, so kurz, so dicht, so eben und von so leuchtender Farbe. Nicht das geringste Hindernis fand sich in der Radspur, nicht einmal ein Span oder ein dürrer Zweig.

Die Steine, die einst den Weg gehemmt hatten, waren zur Seite des Weges sorgsam niedergelegt, nicht geworfen worden, so dass sie den Rasen mit einer sozusagen nachlässigen Sorgsamkeit malerisch abgrenzten. Büsche wilder Blumen wuchsen in den Zwischenräumen in verschwenderischer Fülle.

Was ich aus alledem machen sollte, wusste ich natürlich nicht. Hierin lag unzweifelhaft Kunst. Das überraschte mich nicht; alle Wege sind im herkömmlichen Sinn Kunstwerke; auch kann ich nicht sagen, dass lediglich die Übertreibung des Künstlerischen so wundersam erschien; alles, was hier geschehen war, mochte hier, wo soviel natürliche »Anlage« vorlag (wie man das in Büchern über Landschaftsgärtnerei findet) mit sehr wenig Arbeit und Ausgaben getan worden sein.

Nein, es war nicht die Fülle, sondern der Charakter des Künstlerischen, was mich veranlasste, mich auf einen der umblühten Steine niederzulassen und wohl eine halbe Stunde oder länger diese feenhafte Allee voll staunender Bewunderung hinauf und hinunter zu blicken.

Eines wurde mir, je länger ich schaute, mehr und mehr deutlich: ein Künstler, und zwar ein Künstler mit außerordentlich scharfem Blick für Formen, hatte alle diese Anordnungen im voraus überlegt. Man war mit größter Sorgfalt bedacht gewesen, zwischen dem Hübschen und Anmutigen einerseits und dem »Pittoresken«, im wahren Sinne der italienischen Bezeichnung, andererseits die rechte Mitte zu halten.

Es gab wenig gerade und keine auf die Länge ungebrochenen Linien. Dasselbe Bild in Krümmung oder Farbe bot sich, soweit das Auge reichte, meist zweimal, doch nicht öfter. Überall in der Einförmigkeit war Abwechslung. Es war ein Stück »Komposition«, in der selbst der anspruchsvollste kritische Geschmack kaum eine Verbesserung hätte vorschlagen können.

Als ich diesen Weg betrat, hatte ich mich nach rechts gewandt, und nun erhob ich mich und verfolgte dieselbe Richtung. Der Pfad war so gewunden, dass ich seinen Lauf nie mehr als zwei, drei Schritte weit vor mir sah. Seine Anlage erfuhr nicht die geringste Wandlung.

Plötzlich traf das sanfte Murmeln eines Wassers mein Ohr, und einige Augenblicke später, als der Pfad mich noch überraschender als bisher um die Ecke führte, gewahrte ich, dass am Fuß eines dicht vor mir abfallenden sanften Hanges irgendein Gebäude lag. Ich konnte aber infolge des Dunstschleiers, der das ganze kleine Tal drunten erfüllte, nichts deutlich erkennen. Jetzt erhob sich jedoch ein leichter Wind, denn die Sonne war am Untergehen, und während ich auf dem Hügelkamm stehen blieb, zerteilte sich der Nebel in krause Fetzen und flutete über die Szene.

Wie die Dinge so allmählich zum Vorschein kamen, Stück um Stück, hier ein Baum, da ein Wasserblinken und hier wieder ein Stück Schornstein, war mir nicht anders zumute, als sei das Ganze eines jener geschickten Trugbilder, wie sie zuweilen unter der Bezeichnung »Vexierbilder« dargeboten werden.

Mit der Zeit jedoch, als der Nebel sich völlig verzogen hatte, war auch die Sonne hinter die sanften Hänge hinab gesunken, kam nun aber, als habe sie ein leichtes »chassez« nach Süden gemacht, wieder in volle Sicht, indem sie in purpurnem Glanz durch eine Kluft im Westen des Tales herein schimmerte. Plötzlich also und wie mit Zauberhand wurde dieses ganze Tal und alles, was darin war, strahlend sichtbar.

Der erste »coup d’œil«, als die Sonne in die angegebene Stellung glitt, machte mir einen ähnlichen Eindruck, wie ihn mir in meiner Knabenzeit das Schlussbild eines gut inszenierten Schauspiels oder Melodramas hervorrief. Nicht einmal die Ungeheuerlichkeit in der Farbgebung fehlte, denn die Sonne drang durch die Kluft in sattem Orangerot und Purpur, während das lebhafte Grün des Grases im Tal durch den Dunstschleier, der noch immer darüber schwebte, als widerstrebe ihm die Trennung von einem so zauberhaft schönen Bild, mehr oder weniger auf alle Dinge zurückgestrahlt wurde.

Das kleine Tal, in das meine Blicke so unter der Nebelschicht hinabtauchten, konnte nicht mehr als vierhundert Meter Länge haben, die Breite wechselte von fünfzig zu hundertfünfzig oder auch zweihundert Metern. An seinem Nordende war es außerordentlich schmal und verbreiterte sich, aber nicht gerade regelmäßig, nach Süden hin. Die größte Breite erreichte es ungefähr achtzig Meter vor dem südlichen Ende.

Die Hänge, die das Tal umgaben, konnten nicht eigentlich Hügel genannt werden, höchstens an ihrer Nordseite. Hier erhob sich eine steile Felswand bis zu einer Höhe von neunzig Fuß und mehr, und wie ich schon sagte, war das Tal hier nicht breiter als fünfzig Meter. Wer sich aber von diesem Felsenriff nach Süden wandte, der fand zur Rechten und Linken Abhänge, die weniger hoch wie auch weniger steil und weniger felsig waren. Mit einem Wort, nach Süden hin wurde alles schräger und sanfter, und doch war das ganze Tal von mehr oder weniger hohen Erhebungen umgürtet, abgesehen von zwei Punkten.

Von einem dieser Punkte habe ich schon gesprochen. Er lag gegen Nordwesten, und hier war es, wo die Sonne in der geschilderten Weise in das Amphitheater ihren Weg fand, durch eine sauber geschnittene, natürliche Kluft in der granitenen Umfassung. Dieser Einschnitt mochte an seiner breitesten Stelle zehn Meter betragen – soweit das Auge das zu schätzen vermochte. Er schien wie eine natürliche Chaussee sachte aufwärts zu führen, in die Gründe noch undurchforschter Berge und Wälder.

Die andere Öffnung befand sich genau am südlichen Talende. Hier waren die Hügel im allgemeinen kaum mehr als sanfte Wellungen, die von Osten nach Westen in einer Breite von etwa hundertfünfzig Metern verliefen. In der Mitte dieser Strecke lag eine Senkung, die bis auf die Bodenhöhe des Tales herabging. Wie in allem anderen, so bot die Szene auch hinsichtlich der Vegetation ein nach Süden hin niedrigeres und sanfteres Bild.

Nach Norden, an dem steilen Felshang, erhoben sich nicht weit vom Gipfel die prächtigen Stämme vom weißen und schwarzen Walnussbaum, vom Kastanienbaum und vereinzelten Eichen, und die besonders von den Walnussbäumen streng wagerecht gebreiteten Äste sprangen weit über den Felsrand vor.

Nach Süden fortschreitend, sah man zunächst dieselben Baumarten, nur weniger hochgewachsen und majestätisch; dann begegnete man der schlankeren Ulme, dem Sassafras und der Robinie – ihnen folgte die sanftere Linde, der Judasbaum, Trompetenbaum und Ahorn – und schließlich kamen noch anmutigere und bescheidenere Arten.

Die ganze südliche Hügelwelle war nur mit wildem Strauchwerk bedeckt, bis auf ein paar vereinzelte Silberweiden und Silberpappeln. Drunten im Tal selbst (denn man muss beachten, dass die genannte Vegetation nur auf den Felsen oder Hügelwänden wuchs) sah man drei einzeln stehende Bäume.

Der eine war eine Ulme von beträchtlicher Größe und herrlicher Gestalt; sie stand als Wächter am südlichen Eingang des Tales. Der zweite war ein Nussbaum, viel größer als die Ulme und alles in allem ein viel edlerer Baum, wenngleich beide ausnehmend schön waren. Er schien den nordwestlichen Zutritt zu bewachen, wie er da aus einer Felsengruppe seine vornehme Gestalt mitten in den offenen Rachen der Schlucht hinausreckte, in einem Winkel von fast fünfundvierzig Grad, weit hinaus in den Sonnenschein des Amphitheaters.

Etwa dreißig Meter östlich von diesem Baum stand jedoch der Stolz des Tales und ohne Frage der prächtigste Baum, den ich je gesehen habe, ausgenommen vielleicht die Zypressen von Itchiatuckanee. Es war ein dreistämmiger Tulpenbaum – ein Liriodendron tulipiferum – eine der wilden Magnolienarten.

Die drei Stämme trennten sich vom Mutterstamm in etwa drei Fuß Höhe, strebten nur ganz allmählich auseinander und waren dort, wo der breiteste Stamm Laub ansetzte, nicht mehr als vier Fuß auseinander. Das war in einer Höhe von ungefähr achtzig Fuß. Die ganze Höhe des Baumes betrug einhundertzwanzig Fuß.

Nichts kommt an Schönheit dem leuchtkräftigen Grün der Blätter des Tulpenbaumes gleich. Im gegenwärtigen Fall waren sie volle acht Zoll breit; ihre Pracht aber wurde übertroffen von dem schwellenden Prunk üppiger Blüten. Man stelle sich eine Million dicht zusammengedrängter, strahlendster Tulpen vor!

Nur so kann sich der Leser eine Vorstellung von dem Bild machen, das ich ihm vermitteln möchte. Und dann die stolze Anmut der sauberen, zart gekerbten säulenartigen Stämme, deren größter zwanzig Fuß vom Boden einen Durchmesser von vier Fuß hatte. Die unzähligen Blüten erfüllten im Verein mit den Blüten andrer, kaum weniger schöner, allerdings weit weniger majestätischer Bäume das Tal mit Wohlgerüchen, die köstlicher waren als die Wohlgerüche Arabiens.

Der eigentliche Boden des Amphitheaters bestand aus Gras von derselben Beschaffenheit, wie ich es auf dem Weg gefunden hatte, höchstens noch weicher, üppiger und von einem noch wundervolleren, samtartigen Grün. Es war schwer zu fassen, wie all diese Schönheit erzielt werden konnte.

Ich habe von den zwei Öffnungen im Tal gesprochen; aus der ersten gen Nordwesten ergoß sich ein Bächlein, das mit sanftem Murmeln und einigem Schäumen die Schlucht herunterkam, bis es gegen die Felsengruppe prallte, aus der der einzelstehende Walnussbaum aufschoss. Hier umkreiste es den Baum und wandte sich dann etwas nach Nordwesten, den Tulpenbaum einige zwanzig Fuß südlich lassend; nun veränderte es seinen Lauf nicht eher, als bis es etwa die Mitte zwischen der östlichen und westlichen Grenze des Tales erreicht hatte.

An dieser Stelle bog es nach mehreren Krümmungen im rechten Winkel ab und verfolgte eine im allgemeinen südliche Richtung, bis es sich eilig in einem kleinen See von unregelmäßiger, aber ziemlich ovaler Form verlor, der schimmernd nahe am südlichen Talausgang lag. Dieser See hatte vielleicht an seiner breitesten Stelle hundert Meter Durchmesser.

Kein Kristall konnte klarer sein als seine Wasser. Sein Grund, den man deutlich sehen konnte, bestand überall aus strahlend weißen Kieseln. Seine Ufer, von besagtem Smaragdgrün, rundeten sich in den klaren Himmel hinunter, und so klar war dieser Himmel, so vollkommen spiegelte er zuzeiten alle Gegenstände von oben, dass es schwer festzustellen war, wo das wirkliche Ufer aufhörte und das widergespiegelte begann.

Die Forelle und einige andere Fischarten, von denen es im Weiher wimmelte, erweckten alle den Anschein von fliegenden Fischen. Es war schwer, nicht anzunehmen, dass sie einfach in der Luft hingen. Ein leichtes Birkenboot, das friedlich auf dem Wasser lag, wurde von dem so köstlich polierten Spiegel bis in seine feinsten Rippen mit unerhörter Treue wiedergegeben.

Eine kleine Insel im heitern Schmuck voll erblühter Blumen und nur gerade groß genug, um ein malerisches kleines Bauwerk zu tragen, offenbar ein Wasservogelhaus, erhob sich im See, nicht weit von seinem nördlichen Ufer – mit dem sie durch eine unbegreiflich zierlich wirkende und doch ganz primitive Brücke verbanden war. Sie bestand aus einer einzigen, breiten und dicken Planke aus Tulpenholz. Sie war vierzig Fuß lang und überspannte den Raum zwischen Ufer und Ufer in leichtem, doch gut wahrnehmbarem Bogen, der jede Schwankung ausschloss.

Aus dem Südende des Sees ergoß sich wieder der Bach, der sich ungefähr dreißig Meter in Windungen ergötzte und dann schließlich durch die schon beschriebene Niederung in der Mitte der südlichen Hänge hindurch floss und, in eine Tiefe von hundert Fuß hinunter taumelnd, seinen vielfach gewundenen Weg zum Hudson nahm.

Der See war tief – an manchen Stellen bis zu dreißig Fuß, der Bach aber hatte selten mehr als drei, während seine größte Breite etwa acht betrug. Sein Bett und die Ufer glichen denen des Weihers – wenn etwas daran auszusetzen war, so war es dies, dass die malerische Wirkung vielleicht durch übertriebene Sauberkeit beeinträchtigt wurde.

Die Weite des grünen Feldes wurde gelegentlich durch einen Zierstrauch unterbrochen, wie Hortensie, Schneeball oder duftendes Jasmingesträuch; häufiger noch durch eine Geraniumgruppe, die in allen Varietäten üppig blühte. Diese Geranien standen in Töpfen, die sorgfältig in die Erde gegraben waren, um den Eindruck wildwachsender Pflanzen hervorzurufen.

Überdies war der Wiesensamt anmutig von Schafen belebt, die als stattliche Herde das Tal durchstreiften, in Gesellschaft dreier zahmen Rehe und einer beträchtlichen Anzahl strahlend gefiederter Enten. Ein sehr großer Bullenbeißer schien all diesen Tieren, dem einzelnen wie der Gesamtheit, eine wachsame Aufmerksamkeit zu widmen.

An den östlichen und westlichen Felsen – dort, wo die Begrenzung nach den höher gelegenen Teilen des Amphitheaters hin mehr oder weniger steil war – zog sich in verschwenderischer Fülle Efeu hin, so dass man nur hie und da ein Fleckchen nackten Fels hindurchschimmern sah. Der Westabhang war gleicherweise fast vollständig mit selten prächtigen Reben bedeckt, die zum Teil vom Fuße des Felsens aufstrebten, zum Teil am Hange selbst hervor wuchsen.

Die geringe Erhebung, aus der die untere Abgrenzung dieser kleinen Besitzung bestand, wurde von einer sauberen Steinmauer gekrönt, deren Höhe genügte, das Entweichen des Wildes zu verhindern. Nirgends sonst war eine Einfriedigung zu bemerken; denn nirgends sonst war ein künstlicher Abschluss nötig.

Wollte zum Beispiel ein versprengtes Schaf versuchen, sich durch die Schlucht aus dem Tal zu entfernen, so würde es sein Vorwärtskommen nach wenigen Schritten durch den steilen Felsenvorsprung gehemmt sehen, über den der Wasserfall herabstürzte, der gleich, als ich mich der Ansiedlung näherte, meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Kurz, der einzige Ein- und Ausgang bestand aus einem Tor, das einen Felspfad sperrte, wenige Schritte unterhalb der Stelle, auf der ich stehen blieb, um die Szene zu betrachten.

Ich habe geschildert, wie der Bach in seinem Laufe viele unregelmäßige Windungen machte. Seine beiden Hauptrichtungen liefen, wie ich sagte, zuerst von West nach Ost und dann von Norden nach Süden.

Da, wo der Wasserlauf den Bogen machte und wieder nach rückwärts lief, schloss er eine fast kreisrunde Schlinge, so dass eine Halbinsel entstand, die beinahe eine Insel war. Auf dieser Halbinsel stand ein Wohnhaus – und wenn ich sage, dass dieses Haus, gleich der Höllenterrasse, die Vathek sah, »était d’une architecture inconnue dans les annales de la terre«, so meine ich lediglich, dass das Ganze mich durch seine Eigenart wie auch durch seine Zweckmäßigkeit ungemein verblüffte – mit einem Wort, durch »Poesie« – denn ich könnte kaum mit anderen Bezeichnungen als den vorstehend gewählten eine genaue Definition für abstrakte Poesie geben – und ich meine nicht, dass das »outré« in irgendeiner Hinsicht bemerkenswert war.

In der Tat, nichts hätte wohl einfacher – unaufdringlicher wirken können als dieses Landhaus. Sein wundersamer Eindruck lag ausschließlich in seiner künstlerischen, bildhaften Anlage. Während ich hinsah, hätte ich mir vorstellen können, ein hochbedeutender Landschaftsmaler habe es mit seinem Pinsel geschaffen.

Der Aussichtspunkt, von dem aus ich das Tal zum ersten Mal sah, war zur Betrachtung des Hauses nicht der beste, aber doch fast der beste Platz. Ich will es daher so beschreiben, wie es sich mir später bot – von dem Steinwall am Südende des Amphitheaters aus gesehen.

Das Hauptgebäude hatte eine Länge von ungefähr vierundzwanzig Fuß und eine Tiefe von sechzehn – sicher nicht mehr. Seine Gesamthöhe vom Boden bis zur Dachspitze konnte nicht mehr als achtzehn Fuß betragen. An der Westseite dieses Bauwerks war ein zweites angefügt, das in allen seinen Teilen etwa ein Drittel kleiner war: – seine Vorderseite stand etwa zwei Meter hinter der des größeren Hauses zurück, und sein Dach verlief natürlich beträchtlich niedriger als das benachbarte.

In rechtem Winkel zu diesen Gebäuden und am Ende des Hauptbaues – aber nicht genau in der Mitte – erstreckte sich ein dritter, sehr kleiner Bau – im ganzen ein Drittel kleiner als der westliche Flügel. Die Dächer der beiden größeren Bauten waren sehr steil – glitten in einer langen, konkaven Kurve vom First hernieder und griffen mindestens vier Fuß über die Frontmauern hinaus, so dass sie noch die Bedachung zweier Laubengänge bildeten.

Als solche bedurften sie selbstredend keiner Stützen; da sie aber dem Anschein nach Stützen brauchten, so waren nur an den Ecken leichte und völlig glatte Säulen eingeschaltet worden. Das Dach des nördlichen Flügels war nur eine Verlängerung des Hauptdaches. Zwischen dem Hauptgebäude und dem westlichen Flügel erhob sich ein sehr hoher und ziemlich schlanker, viereckiger Schornstein aus harten schottischen Ziegeln, abwechselnd schwarzen und roten – mit einer schmalen Kranzleiste ausladender Ziegel am oberen Ende.

Auch über die Giebel sprangen die Dächer sehr weit vor – am Hauptbau etwa vier Fuß nach Osten und zwei nach Westen. Die Eingangstür befand sich nicht genau in der Mitte, sondern etwas mehr östlich, während die beiden Fenster westlich davon lagen. Sie reichten nicht bis zur Erde, waren aber viel länger und schmaler als üblich – sie hatten einflügelige Fensterladen, die wie Türen aussahen – die Glasscheiben hatten Rautenform, aber von ziemlicher Größe.

Die Tür selbst bestand in ihrem oberen Teil aus Glas, ebenfalls in Rautenform – durch einen beweglichen Schalter nachts verschließbar. Die Tür für den Westflügel befand sich in der Giebelseite und war sehr einfach – ein einziges Fenster wies hier nach Süden. Am Nordflügel gab es keine Außentür, und er hatte auch nur ein Fenster nach Osten.

Die nackte Wand des östlichen Giebels wurde durch eine Treppe mit Geländer gehoben, die schräg daran empor lief – der Aufstieg begann von Süden. Unter dem Schutz des weit vorspringenden Dachbogens führten diese Stufen zu einer Dachkammer, mehr einem Bodenraum – denn er erhielt sein Licht nur durch ein einziges Fenster nach Norden und schien als Speicher gedacht zu sein.

Die Vorplätze des Hauptgebäudes und westlichen Flügels waren nicht, wie sonst üblich, gepflastert. Aber an den Türen und vor jedem Fenster lagen große, flache, unregelmäßige Granitplatten im herrlichen Grasteppich, die ein angenehmes Gehen bei jeder Witterung ermöglichten.

Prächtige Pfade aus dem gleichen Material – nicht zierlich ausgeführt, sondern von dem samtenen Grün unterbrochen, das in Abständen zwischen den Steinen hervorquoll, führten vom Hause hierhin und dorthin, zu einer kristallenen Quelle in fünf Schritt Entfernung, zu dem Weg oder ein paar Nebengebäuden, die hinter dem Bach nach Norden lagen und durch einige Akazien- und Trompetenbäume völlig verborgen wurden.

Nicht mehr als sechs Schritte vom Haupteingang des Landhauses erhob sich der tote Strunk eines phantastischen Birnbaumes, so ganz von Kopf zu Fuß in üppige Bignoniablüten gehüllt, dass es keine Kleinigkeit war, zu ergründen, woraus diese wunderschöne Sache eigentlich bestand. An verschiedenen Ästen dieses Baumes hingen Käfige aller Art. In einem großen, zylinderförmigen Weidengeflecht vergnügte sich ein Spottvogel, in einem anderen ein Pirol, in einem dritten die dreiste Reisammer – während aus drei bis vier zierlicheren Zellen der Gesang von Kanarienvögeln erschallte.

Die Pfeiler der Vorplätze waren von Jasmin und Geisblatt umrankt, und im Winkel, wo Hauptbau und Westflügel sich trafen, erhob sich ein Weinstock von unvergleichlicher Pracht. Alle Hindernisse nehmend, hatte er erst das tieferliegende Dach erklommen, dann das höhere, und am Rande des letzteren wand er sich weiter, nach rechts und nach links Ranken aussendend, bis er schließlich glücklich den Ostgiebel erreichte und sich die Treppe herunter wand.

Das ganze Haus samt seinen Flügeln war mit den altmodischen schottischen Schindeln, die breit und eckig sind, belegt. Es ist eine Eigenart dieses Materials, dass es die Häuser unten breiter als oben erscheinen lässt, gleich den ägyptischen Bauwerken, und hier wurde dieser außerordentlich malerische Eindruck durch zahlreiche Töpfe voll prächtiger Blumen unterstützt, die beinahe den gesamten Bau umringten.

Die Schindeln hatten einen mattgrauen Anstrich, und die glückliche Kontrastwirkung dieser neutralen Tönung zu dem lebhaften Grün der Blätter des Tulpenbaumes, der das Landhaus teilweise überschattete, wird jeder Künstler begreifen.

Von einem Platz am Steinwall aus war der Anblick der Gebäude am vorteilhaftesten, denn der südöstliche Flügel sprang vor, so dass das Auge gleichzeitig die beiden Fronten mit dem malerischen östlichen Giebel umfasste und noch ein Stückchen vom Nordgiebel dazu, ferner etwa die Hälfte einer leichten Brücke, die sich in nächster Nähe des Hauptgebäudes über den Bach spannte.

Ich blieb nicht sehr lange auf dem Hügelkamm, wenngleich lange genug, um das Bild zu meinen Füßen gründlich in mich aufzunehmen. Es war klar, dass ich vom Weg zum Dorf abgekommen war, und ich hatte daher die gute Berechtigung des Wanderers, das Tor vor mir zu öffnen und jedenfalls meinen Weg zu erfragen; so trat ich ohne viel Umstände näher.

Der Pfad schien hinter dem Tor einem natürlichen Felsensteig zu folgen und schlängelte sich allmählich an den nordöstlichen Klippen hinunter. Er führte mich an den Fuß des nördlichen Abhangs hinab und dann über die Brücke, um den östlichen Giebel herum zum Haupteingang. Dabei stellte ich fest, dass von den Nebengebäuden nichts zu sehen war.

Als ich um die Ecke der Giebelseite kam, lief der Bullenbeißer in Sätzen auf mich zu, stumm, aber mit dem Blick und dem Gebaren eines Tigers. Ich streckte ihm jedoch meine Hand hin, als Freundschaftszeichen, und ich habe noch keinen Hund gekannt, der solch einem Appell an seine Höflichkeit widerstanden hätte. Er schloss nicht nur den Rachen und wedelte mit dem Schwanz, sondern bot mir eindringlich die Pfote, um dann auch Ponto seine Begrüßung zu erweisen.

Da keine Klingel zu entdecken war, pochte ich mit dem Stock an die Tür, die halb offen stand. Sogleich näherte sich eine Gestalt – die einer jungen Frau von ungefähr achtundzwanzig Jahren – schlank und etwas über Mittelgröße. Als sie mit einem gewissen nicht zu beschreibenden Schritt von bescheidener Entschiedenheit herantrat, sagte ich zu mir selbst: »Hier habe ich nun die Vollendung der natürlichen im Gegensatz zur künstlerischen Anmut gefunden.«

Der zweite Eindruck, den sie in mir hervorrief, der aber noch weit lebhafter war als der erste, war Begeisterung. Ein so intensiver Ausdruck von Romantik – so sollte ich es vielleicht nennen – oder von Unweltlichkeit, wie er aus ihren tiefliegenden Augen schimmerte, war mir nie vorher ins innerste Herz gedrungen.

Ich weiß nicht, wie das ist, aber dieser besondere Ausdruck im Auge, der gelegentlich auch den Mund kräuselt, ist der mächtigste, wenn nicht der durchaus einzige Zauber, mit dem eine Frau mich fesseln kann. »Romantik« – vorausgesetzt, dass meine Leser begreifen, was ich hier mit dem Wort besagen will – »Romantik« und »Weiblichkeit« sind für mich dieselben Begriffe, und was schließlich der Mann an der Frau wirklich liebt, ist einfach ihre Weiblichkeit. Annies Augen (ich hörte, wie jemand von drinnen rief. »Annie, Liebes!”) waren »geistvoll grau«, ihr Haar war ein lichtes Kastanienbraun; das war alles, was ich beobachten konnte.

Ihrer sehr artigen Einladung folgend, trat ich ein und durchschritt zunächst eine ziemlich weite Diele. Da ich hauptsächlich gekommen war, um zu beobachten, stellte ich fest, dass sich rechts von mir ein solches Fenster befand, wie sie von außen zu sehen gewesen waren, links eine Tür, die in das Hauptgemach führte, während gegenüber eine offene Tür mir Einblick in ein kleines Zimmer gestattete, das, von derselben Größe wie die Diele, als Arbeitszimmer eingerichtet war und ein großes Bogenfenster nach Norden hatte.

Ich trat ins Wohnzimmer und sah mich Mr. Landor gegenüber, denn so war, wie ich später erfuhr, sein Name. Er war höflich, ja kordial von Wesen, aber ich blieb eben jetzt eifriger bedacht, die Einrichtung des Hauses, das mich so ungemein interessierte, zu betrachten, als die persönliche Erscheinung des Besitzers.

Der Nordflügel, den ich nun sah, bestand aus einem Schlafzimmer, dessen Tür in das Wohnzimmer führte. Den Boden bedeckte ein Teppich von prächtigem Gewebe: kleine, grüne, kreisende Figuren auf weißem Grund. An den Fenstern befanden sich Vorhänge aus schneeweißem Jakonettmusselin; sie waren ziemlich schwer und hingen genau, vielleicht etwas steif, in strengen, gleichmäßigen Falten bis auf den Boden – genau bis auf den Boden.

Die Wände waren mit einer sehr zarten französischen Tapete bekleidet, auf deren silbernem Grund ein blassgrüner Faden in Zickzacklinien hindurch lief. Sie wurde in ihrer ganzen Ausdehnung nur von drei kostbaren Lithographien Juliens »à trois crayons« unterbrochen, die ungerahmt an der Wand befestigt waren. Eine der Zeichnungen war eine Szene voll orientalischer Pracht oder besser Üppigkeit, eine andere ein Karnevalsbild, unvergleichlich geistvoll, die dritte bot den Kopf einer Griechin: ein so göttlich schönes und dabei so herausfordernd unentschiedenes Antlitz hatte ich nie vorher gesehen.

Die gegenständliche Einrichtung bestand aus einem runden Tisch, ein paar Stühlen (darunter ein großer Schaukelstuhl) und einem Sofa oder besser einem »Kanapee«; es war aus glattem, gelblich-weiß lackiertem Ahornholz mit zarten, grünen Streifen, der Sitz war Rohrgeflecht. Die Stühle und der Tisch »passten« dazu, aber ganz offenbar war die Form eines jeden Gegenstandes von demselben Kopf entworfen, der »die Landschaft« angelegt hatte – man kann sich nichts Anmutigeres denken.

Auf dem Tisch lagen ein paar Bücher, stand eine große, eckige Kristallflasche mit einem eigenartigen Parfüm, eine Astral- (nicht Solar-) Lampe aus glattem Milchglas mit einer italienischen Glocke und eine große Vase strahlend blühender Blumen. Blumen in verschwenderischer Farbenpracht und zarten Düften bildeten tatsächlich den einzigen Schmuck des Zimmers. Der Kamin war fast ausgefüllt von einer Vase mit leuchtenden Geranien. Ein dreieckiges Wandbrett in jeder Zimmerecke trug je eine ähnliche Vase, nur ihr lieblicher Inhalt wechselte. Ein paar kleinere Sträuße zierten den Kaminsims, und späte Veilchen umdrängten die offenen Fenster.

Es liegt nicht in der Absicht dieser Erzählung, mehr zu geben als eine eingehende Schilderung von Mr. Landors Wohnsitz, wie ich ihn fand.

Landors Landhaus – Edgar Allan Poe - Novelle


Autor*in: Edgar Allan Poe

Bewertung des Redakteurs:

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    Während einer Wanderung, die mich letzten Sommer durch einige Flusstäler der Grafschaft New York führte, sah ich mich, als der Tag zur Neige ging, in gewisser Verlegenheit, welchen Weg ich einschlagen sollte.

    Unsere Erde - Arche Schiff Kosmos

    Unsere Erde – Arche Schiff Kosmos
    Unsere Erde 

    Unsere Erde – Arche Schiff Kosmos


    Unsere Erde ist wie ein Schiff oder eine Arche. Es ist unser Einziges. Es ist unser Alles, mehr haben wir nicht.

    Es war, bevor wir waren. Wir, die Menschen, brachten dazu nur Segel, Ruder, unseren Geist und unser Tun ein.

    Segel und Ruder – Geist und Tat, die den ewigen Lauf von Kommen und Gehen verändern.

    Wir verändern – – – Jeder und Jede – – – Rudergänger sind wir. Keiner kann sagen ich nicht!

    Was denken wir, was tun wir? Wohin werden wir uns verändern?

    Wird es einfach über uns geschehen und über uns kommen, oder wollen wir etwas Lenken und Positives beitragen? Aber wohin? Was haben wir alle für ein Ziel?

    Wir stehen am Ruder, Wir, Du und ICH.

    Das Segel treibt das Schiff voran. Wohin wird es uns treiben?

    Unsere Erde – Arche Schiff Kosmos – Verfasser unbekannt - Essay

    Autor*in: N. N.

    Bewertung des Redakteurs:

    URL: https://aventin.blogspot.com/2020/07/unsere-erde.html

      Unsere Erde ist wie ein Schiff oder eine Arche. Es ist unser Einziges. Es ist unser Alles, mehr haben wir nicht.

      Kleine Weisheiten - 16 - Sprüche und Zitate

      Kleine Weisheiten, Sprüche und Zitate aus der ganzen Welt
      Kleine Weisheiten 

      Kleine Weisheiten, Sprüche und Zitate aus der ganzen Welt


      Es gibt nur einen Zeitpunkt, an dem es wichtig ist zu erwachen. Dieser Zeitpunkt ist jetzt.

      Wenn du notwendige Dinge aufschiebst, versäumst du das Leben.

      Perlen liegen nicht am Strand, wenn du eine willst, musst du nach ihr tauchen.

      Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir schaffen sie selbst, sie liegt in unserem Herzen eingeschlossen.

      Es liegt in eurem Willen, nicht an der Zahl der Jahre, ob ihr gelebt habt.

      Kleine Weisheiten | 16 – Sprüche und Zitate aus der ganzen Welt


      Autor*in: Diverse

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        Es gibt nur einen Zeitpunkt, an dem es wichtig ist zu erwachen. Dieser Zeitpunkt ist jetzt.

        Der Mantel - 2 von 2 - Novelle - Gogol

        Der Mantel - 2 von 2 - Nikolai W. Gogol – Novelle
        Der Mantel 

        Der Mantel - 2 von 2 
        Nikolai W. Gogol – 
        Novelle


        Wo der Beamte lebte, der die Gesellschaft gab, das weiß ich leider nicht genau zu sagen; mein Gedächtnis lässt mich jetzt oft im Stich, und Petersburgs Häuser und Straßen gehen alle in meinem Kopf so durcheinander, dass ich mich oft schwer darin zurechtfinde. Nur so viel weiß ich zu sagen, dass er im besten Viertel wohnte, also nicht sehr nahe von Akaki Akakiewitsch.

        Zuerst musste dieser wohl noch durch öde Gassen mit spärlicher Beleuchtung schreiten, doch in dem Maße, als er sich der Wohnung des Gehilfen näherte, wurden die Straßen lebhafter, bewohnter und besser beleuchtet. Blitzschnell eilten Fußgänger an ihm vorbei, er sah schön gekleidete Frauen, die Herren trugen Biberkragen, das Auge begegnete hier nur ganz selten den hölzernen Bauernschlitten mit dem durchlöcherten Boden, hingegen flogen elegante Kutscher mit himbeerfarbenen Sammetmützen, lackierten Schlitten mit Bärendecken durch die Straßen, und die Kufen und Räder knirschten am Schnee.

        Für Akaki Akakiewitsch war das alles neu; schon seit vielen Jahren war er abends nicht auf der Straße gewesen. Neugierig blieb er vor einem hell erleuchteten Laden stehen und sah darin ein Bild, eine hübsche Frau darstellend, die sich den Schuh auszieht und so ihr Bein sehen lässt; hinter ihr steckt ein Herr mit Backenbart und Fliege unter der Lippe den Kopf zur Tür hinein.

        Akaki Akakiewitsch schüttelte den Kopf und lächelte und ging weiter. Und warum lächelte er? Weil er hier einer ihm ganz und gar fremden Welt zum ersten Mal begegnete, für die auch ihm das Gefühl nicht ganz fehlen konnte. Oder dachte er so wie alle anderen Beamten: »Diese Franzosen! Die verstehen das!?« Vielleicht dachte er auch das nicht. Ach, wir vermögen ja dem Menschen nicht in die Seele zu blicken und zu wissen, was er denkt.

        Endlich erreichte er das Haus. Der Gehilfe lebte auf großem Fuß, die Treppe war erleuchtet, die Wohnung im zweiten Stock. Im Vorzimmer sah Akaki Akakiewitsch eine ganze lange Reihe Galoschen. Mitten unter ihnen dampfte ein Samowar. An den Wänden hingen die Mäntel, einige darunter mit Biberkragen oder Sammetaufschlägen. Hinter der Wand hörte man Lärm und Worte, die plötzlich klar und deutlich wurden, da sich die Tür öffnete und ein Diener heraustrat mit leeren Teegläsern, Sahne und einem Korb mit Zwieback auf der Tablett.

        Die Gäste waren also schon einige Zeit beisammen und hatten das erste Glas Tee schon getrunken. Akaki Akakiewitsch ging, nachdem er seinen Mantel eigenhändig an die Wand gehängt hatte, ins Zimmer, und vor seinen Augen glänzten im Nu die Kerzen, die Beamtenuniformen, die Pfeifen und Kartentische, und seine Ohren waren betäubt vom Lärm des Gespräches und des Stuhlrückens.

        Voller Scheu blieb er in der Mitte des Zimmers stehen und versuchte zu überlegen, was er denn weiter jetzt tun sollte. Doch kaum hatten ihn seine Kollegen bemerkt, als sie ihn mit großem Geschrei umringten und gleich auch hinaus ins Vorzimmer stürzten, um den Mantel noch einmal zu besichtigen.

        Akaki Akakiewitsch war nicht wenig verlegen, doch konnte er in seiner Einfalt nicht anders als sich freuen, da er sah, dass alle diesen Mantel priesen. Es versteht sich von selber, dass sie seinen Mantel sowie auch ihn sogleich stehen ließen und sich an die Whisttische setzten. Alles, der Lärm, das Reden, die Menge Leute, war für den Titularrat wie ein Traum, und er wusste nicht, wie ihm sei und wohin er mit den Händen und Füßen und überhaupt mit dem ganzen Körper sollte.

        Endlich setzte er sich an einen Whisttisch, sah bald in die Karten, bald von den Spielern dem oder jenem ins Gesicht, begann zu gähnen und fühlte, dass er sich langweile, um so mehr, als schon lange die Zeit gekommen war, da er zu Bett zu gehen pflegte. So wollte er sich verabschieden, doch das ließen sie nicht zu, er sollte noch mit ihnen ein Glas Champagner zu Ehren des neuen Mantels trinken.

        Nach einer Stunde wurde auch das Abendessen serviert: Suppe, kalter Kalbsbraten, Pastete, Kuchen und Champagner. Akaki Akakiewitsch musste zwei Gläser Champagner mittrinken. Wenn er auch nach diesen fühlte, dass im Zimmer die Heiterkeit zunehme, so konnte er dennoch nicht vergessen, dass es schon zwölf Uhr und längst Zeit für ihn sei, nach Hause zu gehen. Damit sie sich aber nicht wieder etwas ausdachten, um ihn zurückzuhalten, ging er ganz leise und unbemerkt aus dem Zimmer und suchte nach seinem Mantel.

        Nicht ohne Mitgefühl sah er diesen am Boden liegen, und so schüttelte er ihn erst durch, nahm jedes Federchen weg, zog ihn an und ging hinaus und die Treppe hinunter auf die Straße. Einige kleine Branntweinläden, diese unvermeidlichen nächtlichen Sammelpunkte für die Türsteher und ähnliche Leute, waren noch offen, andere, die geschlossen waren, ließen dünne Lichtstrahlen durch alle Türritzen und bewiesen damit, dass sie noch nicht leer wären und Bediente hier ihren Klatsch fortsetzten und über die Herrschaft zu Gericht säßen.

        Akaki Akakiewitsch ging in heiterer Seelenstimmung, plötzlich war er sogar ganz von selber hinter einem Dämchen her, die wie ein Blitz an ihm vorbeigeschossen war und deren Körper ihm so merkwürdig beweglich vorkam. Doch blieb er bald zurück und ging wieder langsam weiter und war selber ganz erstaunt, wie er so plötzlich in den Trab gekommen wäre.

        Bald zogen sich vor ihm jene langen, öden Straßen hin, die schon bei Tage uns düster zu stimmen vermögen. Jetzt schienen sie noch tiefer und einsamer; die Laternen kamen immer seltener, immer spärlicher wurde hier anscheinend das Öl ausgebracht. Schon kamen die Häuser und Zäune aus Holz. Nirgends eine Seele. Alles Licht kam vom Schnee auf der Straße, finster kauerten die niedrigen Hütten mit den geschlossenen Fensterläden.

        Akaki Akakiewitsch kam jetzt dorthin, wo eine Straße einen schier endlosen Platz durchschnitt, man konnte die Häuser gegenüber nicht mehr sehen, der Platz glich einer grauenhaften Wüste. Weit, Gott weiß wo, leuchtete ein schwaches Feuer in einer Bude, als welche in einem Kreis von Licht zu stehen schien. Akaki Akakiewitschs gute Laune war weg. Er betrat den Platz nicht ohne ein gewisses Grauen, als ahnte sein Herz Böses.

        Er sah sich um und zurück – das Meer lag um ihn. »Besser nicht umsehen,« dachte er und ging mit geschlossenen Augen weiter, und als er sie wieder öffnete, um zu sehen, wo er denn wäre, sah er vor seiner Nase Leute stehen mit Bärten; mehr konnte er nicht mehr unterscheiden. Da wurde es plötzlich dunkel vor seinen Augen, und er spürte einen Schlag auf seiner Brust. »Das ist ja mein Mantel,« rief einer von den Männern und packte den Titularrat am Kragen.

        Akaki Akakiewitsch wollte nach der Wache schreien, als ihm ein Mann eine riesige Faust in den Mund stieß und rief: »Schrei nur!« Akaki Akakiewitsch fühlte, dass sie ihm den Mantel von den Schultern rissen und ihm eins mit den Knien versetzten, so dass er nach vorn in den Schnee fiel und nichts mehr von sich wusste. Nach einiger Zeit kam er zu sich und stand auf, doch war niemand mehr da. Er spürte, dass der Boden eiskalt und er ohne Mantel sei, und er wollte rufen, doch seine Stimme erreichte nicht einmal das andere Ende des Platzes.

        In seiner Verzweiflung lief er schreiend über den ganzen Platz bis zur Bude. Der Wachtposten stand, auf seine Hellebarde gestützt, da und sah anscheinend nicht ohne Neugierde zu, wer zum Teufel mit solchem Geschrei auf ihn zugelaufen komme. Akaki Akakiewitsch schrie mit erstickter Stimme ihn an, dass er schlafe und gar nicht sehe, wie man die Leute vor seinen Augen beraube. Der Wachtposten bestand darauf, dass er nichts gesehen hätte, zum mindesten nicht mehr, als dass zwei Menschen ihn mitten am Platz stehengelassen hätten, er habe gemeint, es wären Freunde; der Herr sollte nur, statt ihn hier ganz umsonst anzuschreien, morgen zur Polizei gehen, dort werde man schon nach dem Diebe fahnden.

        Akaki Akakiewitsch kam in vollständiger Unordnung zu Hause an; sein Haar, ohnehin nur mehr noch spärlich an der Schläfe und im Nacken, war zerzaust; die Seite, die Brust und die Hosen waren mit Schnee bedeckt. Seine alte Wirtin hörte ihn diesmal anders als sonst an der Tür klopfen, sprang eilig aus dem Bett und lief, nur mit einem Strumpf, ihm die Tür zu öffnen, während sie ihr Hemd keusch an die Brust hielt; doch ließ sie dieses gleich los, da sie den Titularrat in seiner traurigen Verfassung erblickte.

        Und als sie nun vernahm, worum es sich handle, schlug sie die Hände zusammen und meinte, er müsse zum Polizeihauptmann, der Polizeileutnant sei eine Schlafmütze, mache Versprechungen und ziehe die Sache nur hinaus; sie kenne den Hauptmann, weil Anna, die Estin, die früher bei ihr in der Küche gewesen sei, jetzt bei ihm als Amme diene; auch sehe sie ihn selber öfters, wenn er am Haus hier vorbeifahre, im übrigen gehe er jeden Sonntag in die Kirche, sage sein Gebet und sehe dabei alle Leute sehr freundlich an, er sei jedenfalls nach allem, was man beobachten konnte, ein guter Mensch.

        Akaki Akakiewitsch hörte ihr zu und ging, ohne ein Wort zu sagen, in sein Zimmer – wie er dort die Nacht verbracht hat, kann sich jeder denken, der sich an die Stelle eines anderen zu versetzen imstande ist. Am nächsten Morgen machte er sich gleich zum Polizeihauptmann auf. Man sagte ihm dort, der Polizeihauptmann schlafe. Er kam um zehn Uhr wieder: er schläft noch. Um elf Uhr hieß es, er sei nicht zu Hause.

        Akaki Akakiewitsch kam um die Mittagsstunde – doch die Schreiber wollten ihn jetzt nicht einmal hereinlassen und mussten erst wissen, was ihn herbringe und was überhaupt geschehen sei, so dass Akaki Akakiewitsch endlich, wohl das erste Mal in seinem Leben, Mut bewies und in abgerissenen Sätzen erwiderte, er müsse den Polizeihauptmann persönlich sprechen, sie sollten es nur wagen, ihn nicht hereinzulassen, er komme aus dem Ministerium in einer dienstlichen Angelegenheit, er würde über sie alle, wie sie da wären, Beschwerde führen, und sie würden dann das Weitere schon sehen.

        Dagegen konnten die Schreiber nichts mehr erwidern, und einer ging hinaus, den Polizeihauptmann zu holen. Dieser hatte nun eine ganz sonderbare Art, den Bericht entgegen zu nehmen. Statt auf die Hauptsache, den Raub des Mantels, einzugehen, fragte er Akaki Akakiewitsch, warum er so spät nach Hause gegangen sei und ob er nicht vielleicht gar in einem verrufenen Hause gewesen sei? so dass Akaki Akakiewitsch ganz verlegen wurde und hinaus eilte, ohne zu wissen, ob die Angelegenheit nun ihren Weg gehen werde oder nicht.

        Er ging nicht ins Amt (das einzige Mal in seinem Leben); erst am nächsten Tag erschien er wieder dort, bleich, verstört und mit der alten Kapuze, die heute noch trauriger aussah. Die Kunde vom Raub des Mantels rührte wohl die meisten seiner Kollegen – natürlich fehlte es nicht an solchen, die auch diesmal die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen wollten, sich über Akaki Akakiewitsch lustig zu machen.

        Sie beschlossen auch, eine Kollekte zu veranstalten, doch es kam nur eine Kleinigkeit zusammen, weil sie eben große Auslagen gehabt hatten mit dem Porträt des Direktors und einem Buch, das sie auf Betreiben des Abteilungschefs, einem Freund des Verfassers, kaufen mussten.

        Einer von ihnen beschloss, vom Mitleid bewegt, Akaki Akakiewitsch wenigstens mit einem guten Rat beizustehen und meinte, er solle nicht zum Polizeileutnant gehen, denn es könnte vorkommen, dass dieser, um sich beim Hauptmann beliebt zu machen, den Mantel auf die eine oder andere Art finde, dass der Mantel aber trotzdem auf der Polizei liegenbleibe. Nun wäre aber da eine hochstehende Persönlichkeit, an die sollte er sich wenden.

        Vor dieser hochstehenden Persönlichkeit erschien also Akaki Akakiewitsch im allerungünstigsten Augenblick, will sagen: höchst ungünstig für sich selber, denn in einem gewissen Sinne kam er der hochstehenden Persönlichkeit ganz gelegen. Die hochstehende Persönlichkeit war in ihrem Kabinett und unterhielt sich sehr angeregt mit einer alten Bekannten und Jugendgespielin, die vor kurzem hier eingetroffen war und die er lange nicht gesehen hatte.

        Und gerade in diesem Augenblicke musste auch der Diener melden, dass ein gewisser Baschmatschkin draußen warte. Der General fragte sehr scharf: »Wer?« Die Antwort: »Ein Beamter.« »Er soll warten, ich habe jetzt keine Zeit.« Hier muss ich gleich bemerken, dass die hochstehende Persönlichkeit da ganz einfach log, er hatte Zeit; die beiden hatten längst alles durchgesprochen und schon seit einiger Zeit die Unterhaltung mit leeren Phrasen zu füllen gesucht, wie: »Ja, ja, so war es nun einmal!« oder »Stefan, es geht nicht anders auf der Welt,« einander abwechselnd auf die Schultern klopfend.

        Aber trotzdem ließ er den Beamten warten, damit nämlich die Jugendgespielin, die auf dem Dorf lebte, erfahre, wie lange hier die Beamten im Vorzimmer zu warten hätten. Erst nachdem sie sich in den sehr breiten, bequemen Fauteuils satt geredet, vielmehr ausgeschwiegen hatten, fiel der hochstehenden Persönlichkeit wie von ungefähr etwas ein, und er sagte zum Sekretär, der bei der Tür mit Schriften stand: »Draußen, scheint es, steht ein Beamter. Sagen Sie ihm, er kann herein!«

        Da er nun das demütige Gesicht des Akaki Akakiewitsch und dessen abgetragene Uniform sah, kehrte er sich ihm zu und schrie ihn ohne weiteres an: »Was wollt Ihr?« Mit seiner schneidenden, harten Stimme, die er zu Hause im Zimmer ganz allein vor dem Spiegel geprobt hatte, eine Woche schon, bevor er seinen jetzigen Posten und den Generalsrang erhalten hatte.

        Akaki Akakiewitsch fühlte auch so die gebührende Ehrfurcht, war gleich verwirrt und erzählte, soweit Redefreiheit ihm erlaubt war, dass sein Mantel ganz neu, dass er auf eine ganz unmenschliche Weise beraubt worden wäre, dass er sich jetzt an seine Exzellenz wende, damit seine Exzellenz durch seine Fürsprache etwa … damit er sich in Verbindung setze mit dem Herrn Oberpolizeimeister oder sonst jemandem von der Polizei und auf diese Weise nach dem Mantel gesucht werde.

        Seiner Exzellenz erschien nun diese Sprache zu familiär. »Was heißt denn das, mein Herr,« unterbrach er ihn, »kennen Sie nicht die Vorschrift? Wohin sind Sie denn überhaupt gekommen? Wissen Sie nicht, wie man in einem solchen Fall vorzugehen hat? Sie hätten zuerst ein Bittgesuch in der Kanzlei einreichen sollen, so wäre es zuerst in die Hände des Kanzleivorstehers gekommen, dieser hätte es dem Sekretär übergeben, und der Sekretär hat es dann mir auszuhändigen.«

        »Ach, Eure Exzellenz,« erwiderte Akaki Akakiewitsch, indem er alles, was er an Mut in seiner Seele barg, herausholte und fühlte, dass er ganz entsetzlich schwitze, »ich war so frei, Eure Exzellenz selber damit zu belästigen, weil die Sekretäre … weil sich auf die Sekretäre doch kein Mensch auf der Welt verlassen kann!«

        »Was, was, was?« rief die hochstehende Persönlichkeit. »Woher dieser Geist? Woher solche Gedanken? Welcher Geist des Aufruhrs unter den jungen Leuten gegen ihre Vorgesetzten!« (Die hochstehende Persönlichkeit schien gar nicht zu bemerken, dass Akaki Akakiewitsch schon seine fünfzig Jahre beisammen hatte und dass er nur im Vergleich zu einem Siebzigjährigen etwa noch jung genannt werden konnte.)

        »Wissen Sie überhaupt, zu wem Sie reden? Wissen Sie, wer vor Ihnen steht? Wissen Sie das oder nicht, frage ich?« Hier stampfte die Exzellenz mit dem Fuß auf den Boden und schrie so laut, dass sich auch ein anderer als Akaki Akakiewitsch gefürchtet hätte. Akaki Akakiewitsch verging vor Angst, zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum auf den Beinen halten; wenn die Diener ihn nicht gehalten hätten, wäre er zu Boden gesunken; sie trugen ihn wie leblos hinaus.

        Die hochstehende Persönlichkeit, zufrieden damit, dass der Erfolg seine Erwartungen übertroffen, ja berauscht von dem Gedanken, dass ein Wort von ihm einen Menschen des Bewusstseins zu berauben vermochte, sah die Freundin von der Seite an, um sich zu vergewissern, wie diese sich dabei benehme, und er sah nicht ohne Vergnügen, dass diese Freundin sich äußerst unbehaglich fühlte und seinerseits auch schon Angst zu spüren begann.

        Wie er die Treppe herunter, wie er weiter auf die Straße gekommen sei, daran konnte Akaki Akakiewitsch sich nicht mehr erinnern. Er spürte weder Hand noch Fuß; in seinem ganzen Leben war er noch nicht von einem General angeschrien worden, noch dazu von einem fremden. Auf der Straße wehte der Schnee, Akaki Akakiewitsch ging mit offenem Mund, der Wind blies wie immer in Petersburg von allen vier Seiten, im Nu hatte er sich erkältet, so kam er zu Hause an, ohne die Kraft zu haben, auch nur ein Wort zu sagen. Er fror und legte sich ins Bett.

        Am nächsten Tag lag er im Fieber. Dank dem großmütigen, hilfsbereiten Petersburger Klima schritt die Krankheit schneller voran, als man sonst hätte erwarten dürfen, und nachdem der Doktor ihm den Puls gefühlt hatte, fand er nichts anderes mehr zu tun, als ein Rezept zu schreiben, nur damit der Kranke nicht ganz ohne die wohltätige Hilfe der Medizin sei, und erklärte ihm auch, dass er nicht mehr als höchstens zwei Tage werde zu leben haben. Und sich zur Wirtin kehrend, setzte er hinzu: »Und Ihr, Alte, verliert nur keine Zeit und bestellt lieber gleich einen Sarg aus Fichtenholz; einer aus Eiche ist für ihn sowieso zu teuer.«

        Hatte Akaki Akakiewitsch diese für ihn so überaus trostreichen Worte gehört oder nicht, haben sie ihn zu erschüttern vermocht, bedauerte er jetzt sein sorgenreiches, erbärmliches Leben – niemand vermag es zu sagen, denn Akaki Akakiewitsch befand sich die ganze Zeit über im Delirium. Ein Gesicht nach dem anderen ohne Unterbrechung jagte durch sein Gehirn: Petrowitsch erschien ihm, und er bestellte bei ihm einen Mantel, in- und auswendig voll von Fallen gegen die Diebe; diese lagen unter dem Bett, und er schrie nach der Wirtin, sie sollte einen von ihnen unter seiner Bettdecke, wohin dieser schon geraten sei, hervorziehen.

        Dann fragte er, warum vor ihm die alte Kapuze hänge, da er jetzt doch einen neuen Mantel besäße; auch schien ihm, er stünde vor dem General und ließ sich herunterreißen und sagte nur immer wieder: Verzeihung, Exzellenz, Verzeihung! Dann wieder fluchte er und nahm so entsetzliche Worte in den Mund, dass sich die Wirtin bekreuzigte; noch nie hatte sie solche Worte aus diesem Mund vernommen, und jetzt folgten diese Flüche stets unmittelbar auf: »Eure Exzellenz«. Später sprach er nur mehr noch ganz sinnloses Zeug, man konnte nur unterscheiden, dass sie alle sich um ein und denselben Mantel drehten. Endlich gab der arme Akaki Akakiewitsch seinen Geist auf.

        Weder seine Zimmer noch irgendwelche Sachen darin wurden mit dem staatlichen Siegel versehen, denn erstens hatte er keine Erben und zweitens hinterließ er nur sehr wenig und zwar: ein Bündelchen mit Gänsefedern, ein Buch Amtspapier, drei Paar Socken, zwei bis drei abgerissene Hosenknöpfe und dann die dem Leser bekannte Kapuze. Wem das alles blieb, weiß Gott; ich gestehe, dass ich mich auch weiter darum nicht gekümmert habe.

        Sie trugen Akaki Akakiewitsch heraus und begruben ihn. Und Petersburg blieb nun ohne Akaki Akakiewitsch, als wie wenn er niemals in dieser Stadt gelebt hätte. Mit ihm verschwand und verbarg sich für ewig ein Geschöpf, das keines Menschen Schutz genossen hatte, niemandem teuer und für niemand von irgendwelchem Interesse und nicht einmal die Aufmerksamkeit eines Naturforschers auf sich zu ziehen imstande war, als welcher es ja nicht einmal verschmäht, eine gemeine Fliege aufzuspießen und unter dem Mikroskop zu betrachten.

        Ergeben hatte er den Hohn seiner Kollegen ertragen und stieg, ohne irgendeine außerordentliche Tat verrichtet zu haben, ins Grab hinab. Doch auch er ist einmal, ganz kurz vor seinem Lebensende, im Licht gestanden, und der Mantel hatte für einen Augenblick sein armseliges Leben reich gemacht, und dann fiel ihn das Unglück an, nicht anderes als es die Mächtigen der Erde anfällt.

        Einige Tage nach seinem Tod wurde aus dem Ministerium ein Diener in sein Quartier geschickt mit dem Befehl, sofort zu erscheinen, der Vorstand will es; doch kam der Amtsdiener ohne ihn zurück mit der Antwort, Akaki Akakiewitsch könne nicht mehr kommen. Auf die Frage: warum? erwiderte er: »Darum, er ist tot; vor vier Tagen haben sie ihn begraben.«

        So erfuhren sie im Amt den Tod des Akaki Akakiewitsch, und am nächsten Tag saß schon ein neuer an seiner Statt; dieser war viel größer und schrieb die Buchstaben bei weitem nicht mehr in so gerader Linie, sondern eben viel schiefer.

        Doch wer kann sich vorstellen, dass hier noch nicht alles von Akaki Akakiewitsch gesagt ist, dass dieser vielmehr verurteilt war, noch einige Tage fortzuleben nach seinem Tode, gleichsam zum Ersatz dafür, dass sein Leben so unbemerkt geblieben war. Es hatte sich jedenfalls so zugetragen, und unsere nüchterne Erzählung nimmt jetzt ganz unerwartet ein phantastisches Ende.

        In Petersburg entstand plötzlich das Gerücht, dass in der Umgebung der Kalinkinbrücke sich nachts ein Gespenst zeige, es gleiche einem Beamten, der so tue, als ob er einen Mantel suchte, den man ihm genommen hätte, und nun von allen Schultern, ohne Unterschied des Ranges und Berufes, in der Meinung, es sei sein eigener, alle Mäntel reiße, ob diese nun mit Katzen-, Biber-, Fuchs-, Nerz- oder Bärenfell oder auch nur mit Watte gefüttert wären.

        Ein Ministerialbeamter sah mit eigenen Augen das Gespenst und erkannte in ihm sofort Akaki Akakiewitsch, und er bekam davon einen solchen Schrecken, dass er auf und davon stürzte, das Gespenst nicht genauer betrachten konnte und nur sah, wie dieses ihm mit dem Finger drohte.

        Von allen Seiten liefen Klagen ein, dass nicht nur Titular-, sondern auch Hofräte von einer tüchtigen Erkältung befallen wären, weil ihnen der Pelz von den Schultern gerissen worden wäre. Die Polizei machte Anstalten, des Gespenstes tot oder lebendig habhaft zu werden und hatte den Beschluss gefasst, dieses aufs strengste, anderen zur Warnung, zu bestrafen, doch blieb jede Bemühung ohne Erfolg.

        Der Mantel – 1 von 2 | Der Mantel – 2 von 2


        Der Mantel – Nikolai W. Gogol – Novelle

        Autor*in: Nikolai Gogol

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          Wo der Beamte lebte, der die Gesellschaft gab, das weiß ich leider nicht genau zu sagen; mein Gedächtnis lässt mich jetzt oft im Stich, und Petersburgs Häuser und Straßen gehen alle in meinem Kopf so durcheinander, dass ich mich oft schwer darin zurechtfinde.

          Der Mantel - 1 von 2 - Novelle - Nikolai Gogol

          Der Mantel 1-2  - Novelle - Nikolai W. Gogol
          Der Mantel  

          Der Mantel 1 von 2 
          Nikolai W. Gogol – 
          Novelle


          In einer Ministerialabteilung – besser ich nenne sie nicht, denn es gibt nichts Empfindlicheres als unsere Beamten, Offiziere und Politiker. Heute fühlt wirklich schon jeder Privatmensch in seiner Person die ganze Gesellschaft beleidigt.

          Da soll neulich der Bericht eines Polizeihauptmannes – ich weiß nicht mehr aus welcher Stadt – vorgelegen haben, worin dieser breit ausführt, dass die staatlichen Verordnungen allenthalben nichts mehr gelten und der geheiligte Name eines Polizeihauptmannes mit unverhohlener Verachtung ausgesprochen werde, und zum Beweis legte er dem Bericht einen dickleibigen Roman bei, allwo auf jeder zehnten Seite ein Polizeihauptmann in völlig betrunkenem Zustand erscheint. Um also Unannehmlichkeiten zu vermeiden, nenne ich die Ministerialabteilung, um die es sich hier handelt, lieber eine Ministerialabteilung, irgendeine …

          In einer Ministerialabteilung also diente ein Beamter, irgendeiner. Man kann nicht gut sagen, er hätte herausgeragt aus der Schar der anderen, denn er war klein, pockennarbig, rothaarig, kurzsichtig, hatte eine Glatze und kleine verrunzelte Bäckchen, und aus seiner Gesichtsfarbe konnte man auf Hämorrhoiden schließen.

          Doch dagegen ist nichts zu machen. Schuld trägt das Petersburger Klima. Um seinen Rang nicht zu vergessen, da man bei uns vor allem den Rang angeben muss – er war das, was man einen ewigen Titularrat nennt, über welchen sich bekanntlich hier schon verschiedene Schriftsteller lustig gemacht haben.

          Diese können nun einmal nicht von der Gewohnheit lassen, gerade auf solche Leute loszugehen, die sich nicht wehren können. Er hieß Baschmatschkin, und sein Vorname lautete Akaki Akakiewitsch. Es ist wohl möglich, dass letzterer dem Leser merkwürdig und ein wenig gesucht erscheine, doch ich kann ihm versichern, dass nach diesem Namen in Wirklichkeit nicht gesucht worden war, dass vielmehr Umstände eingetreten waren, die jeden anderen ausschlossen, und das hatte sich so zugetragen.

          Akaki Akakiewitsch wurde, wenn ich mich recht erinnere, in der Nacht des 23. März geboren. Seine selige Mutter, eine Beamtenfrau und eine überaus brave Frau, machte, wie sich das gehört, sofort Anstalten, dass das Kind getauft werde. Sie lag noch im Bett, und rechts von ihr stand der Pate Iwan Iwanowitsch Jeroschkin, Abteilungschef im Senat und ein ganz ausgezeichneter Mann, und die Patin Arina Semenowa Bjelobruschowa, die Gattin eines Polizeileutnants und zudem mit seltenen Tugenden begabt.

          Pate und Patin ließen der Wöchnerin die Wahl zuerst unter folgenden drei Namen: Mokia, Sossia und Chosdadat, der Märtyrer, doch sie wollte nicht: »Nein, das sind alles so Namen.« Um sie zufriedenzustellen, wurde der Kalender an einer anderen Stelle aufgeschlagen, und da kamen die Namen: Trefilius, Dula und Barachassius heraus.

          »Das ist ja wie eine Strafe Gottes!« rief jetzt die Mutter. »Was für schreckliche Namen! Nie noch habe ich diese Namen gehört! Wenn wenigstens Barabas oder Baruch da stünde – aber Trefilius und Barachassius! Ach! Ach!« Noch einmal drehten der Pate und die Patin die Seite um: da standen aber Pafsikachius und Bachtissius.

          »Ich sehe schon,« schrie jetzt die Alte, »das ist sein Los. Und weil es nicht anders sein kann, so soll er wie sein Vater heißen. Dieser hieß Akaki und darum soll auch sein Sohn so heißen!« So kam es also zu Akaki Akakiewitsch.

          Die Taufe wurde nun vollzogen, und dabei weinte das Knäblein und verzog das Gesicht so, als hätte es vorausgefühlt, dass es einmal Titularrat sein würde. Ich habe das alles ausgeführt, damit der Leser selber sehe, dass es gar nicht anders sein konnte und ein anderer Name unter diesen Umständen rein unmöglich und gänzlich ausgeschlossen gewesen wäre.

          Wann Akaki Akakiewitsch nun ins Ministerium kam und wer ihn dorthin brachte, daran kann sich wohl niemand mehr erinnern. Die Direktoren und Kanzleivorsteher wechselten, doch ihn sah man immer auf demselben Posten, in derselben Haltung, bei derselben Arbeit, so dass einer glauben konnte, Akaki Akakiewitsch wäre so auf die Welt gekommen: in Uniform und mit der Glatze.

          In seiner Abteilung bewies man ihm auch weiter keine Achtung. Die Türsteher standen nicht nur nicht auf, wenn er kam, sondern sie sahen ihn nicht einmal, als wäre da anstatt eines Titularrats eine ganz kleine Fliege herein geflogen gekommen.

          Die Kanzleivorstände behandelten ihn von oben herab. So ein Sekretär hielt ihm einfach den Stoß Papiere unter die Nase hin und nahm sich erst weiter nicht die Mühe hinzuzufügen: Bitte schreiben Sie das ab! oder: Heute gibt es wieder einmal eine hübsche, interessante Arbeit für Sie! oder sonst etwas Verbindliches, wie es sich unter wohlerzogenen Leuten schickt.

          Und Akaki Akakiewitsch nahm auch alles so entgegen, wie man es ihm bot, und hatte nur Augen für das Papier und sah gar nicht erst auf den, der es ihm reichte und ob dieser auch dazu berechtigt wäre; er nahm es entgegen und machte sich sofort an die Arbeit.

          Die jungen Beamten lachten ihn aus und machten Witze mit ihm, wie das solche Kanzleigehirne eben verstehen; so erzählten sie in seiner Gegenwart Geschichten über ihn und seine Wirtschafterin, eine siebzigjährige Frau, und sagten, dass diese ihn prügle, oder fragten, wann Hochzeit sein werde. Auch streuten sie Papierschnitzel auf seine Glatze und meinten, das sei Schnee.

          Doch Akaki Akakiewitsch erwiderte mit keiner Silbe und tat, als sähe er nichts. Es störte ihn auch nicht im geringsten in seiner Arbeit; mitten unter allen diesen Sticheleien machte er nicht einen einzigen Fehler im Brief. Nur wenn sie schon ganz unerträglich waren und diese freundlichen Kollegen etwa seine Hand zu stoßen begannen und ihn also an der Arbeit hinderten, rief er: »So lasst mich doch in Ruhe! Warum müsst ihr mich in einem fort ärgern?«

          Und etwas Fremdes und Fernes lag stets in diesen seinen Worten und in der Stimme, mit der er sie sprach. Ich sage, darin war etwas laut, was in den Menschen das Mitleid erregen musste, so dass wirklich einmal ein junger Mann, der seit kurzem hier angestellt war und nach dem Muster der anderen sich auch allerhand Scherze mit Akaki Akakiewitsch erlaubte, ganz plötzlich davon abließ, als sähe er jetzt alles ganz anders und als hätte sich alles nun vor seinen Augen verkehrt und verwandelt.

          Eine wunderbare Macht trennte ihn für immer von seinen Kollegen, mit denen er sich schon befreundet hatte, in der Meinung, es wären eben liebenswürdige Leute von Welt wie andere auch. Und noch nach Jahren, in Augenblicken des Frohsinns, stand da plötzlich im Geist der kleine Beamte mit der Glatze auf dem Kopf vor ihm und sprach dieselben Worte: Lasst mich doch in Ruhe! Warum müsst ihr mich in einem fort ärgern? Und mit diesen Worten tönten andere mit: Ich bin dein Bruder.

          Und der junge Mann bedeckte sein Gesicht mit den Händen und erschrak jetzt und noch oft und oft in seinem Leben davor, wie viel Unmenschliches im Menschen wohne, wie viel Grausamkeit und Rohheit gerade in diesen feinen, gebildeten Männern von Welt und weiß Gott auch in solchen noch stecke, welche allenthalben für gutmütig und rechtschaffen gelten.

          Es wäre wohl schwer gewesen, einen Menschen zu finden, der mehr in seinem Beruf lebte. Akaki Akakiewitsch diente mit Eifer, doch das ist noch nicht das Wort: er diente mit Liebe. Während er so schrieb, erstand vor seinem Auge eine bunte und ihm liebe Welt, und der Genuss an dieser Welt drückte sich auch in seinem Gesicht deutlich aus.

          Da gab es immer Buchstaben, die er ganz besonders mochte; wenn er die zu Papier brachte, war er wie närrisch, lächelte in sich hinein, zwinkerte mit seinen kleinen Augen und half gleichsam mit den Lippen nach, so dass man aus seiner Grimasse wohl lesen konnte, welchen Buchstaben eben seine Feder produzierte.

          Wenn sie ihn nach seinem Eifer entlohnt hätten, müsste er schon längst Staatsrat sein – wohl auch zu seinem eigenen Erstaunen; so hatte er sich, wie seine Kollegen sich ausdrückten, statt eines kleinen Bandes im Knopfloch die Hämorrhoiden ersessen. Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass seine Vorgesetzten auf ihn nicht aufmerksam geworden wären.

          Einer, ein guter Mensch, wollte ihn auch für seinen langen Dienst belohnen und gab den Auftrag, ihm von nun an eine wichtigere Arbeit anzuvertrauen als das bloße Abschreiben wäre: Akaki Akakiewitsch sollte Berichte für ein anderes Bureau liefern, und die Arbeit bestand schließlich nur darin, dass er den Titel änderte und die erste Person in die dritte verwandelte, doch das machte ihm solche Mühe, dass er ganz in Schweiß geriet, sich die Stirn rieb und endlich bat: Nein, lasst mich lieber wieder abschreiben! Und seitdem schrieb er wieder ab.

          Was nicht zum Schreiben gehört, das existierte für Akaki Akakiewitsch nicht. So vergaß er ganz auf seine Kleidung. Die Uniform war nicht mehr grün, sondern rötlich und wie mit Mehl bestäubt; der Kragen war so eng und niedrig, dass sein Hals, der eigentlich kurz war, ganz lang erschien und der Titularrat jenen Katzen aus Gips glich, welche die Hausierer auf dem Kopf, so ein Dutzend im Korb, herumtragen.

          Und immer blieb etwas an seiner Uniform hängen: ein wenig Heu oder ein Bindfaden; zudem hatte er es darauf abgesehen, unter ein Fenster gerade in dem Augenblick zu treten, da man Kehricht auf das Pflaster warf, und so trug er stets etwas davon auf seinem Hut weiter: Stücke Schale von einer Wassermelone, Brotrinde und ähnliches.

          Man kann wohl behaupten, dass er dem, was täglich auf der Straße vorgeht, auch nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Wohin immer Akaki blickte, überall sah er die sauberen, geraden Linien seiner Handschrift, und erst wenn sich ihm von ungefähr eine Pferdeschnauze auf die Schulter legte und ihn aus seinen großen Nüstern anblies, wurde er gewahr, dass er sich nicht mitten in einer Zeile, sondern mitten auf der Straße befand.

          Zuhause setzte er sich gleich zu Tisch, schlang die Suppe hinunter und aß ein Stück Rindfleisch mit Knoblauch dazu. Er schmeckte nicht, was er aß, und so kam es, dass er auch die Fliegen und was sonst etwa noch auf dem Essen lag, mit herunterschluckte.

          Wenn er fühlte, dass der Magen voll zu werden anfing, stand er auf, nahm Tintenfass und Feder heraus und schrieb nun die Briefe und Schriften ab, die er mit nach Hause gebracht hatte. Gab es zufällig keine Briefe, so hatte er sich Kopien mitgenommen und schrieb sie jetzt zu seinem Vergnügen ab, besonders gerne, wenn sich so ein Schriftstück weniger durch Schönheit des Stils, wie durch die Adresse an eine neue oder wichtige Persönlichkeit auszeichnete.

          Um die Zeit, da Petersburgs grauer Himmel sich völlig verdunkelt und das ganze Beamtenvolk jeder nach seinem Gehalt oder Geschmack abgegessen hat, um die Zeit, da alles sich vom Gekritzel der Federn, von den vielen Gängen für sich und für andere oder sonst welchen Mühen, die sich der Mensch freiwillig aufzwingt mehr als nötig, erholt, um die Zeit, da die Beamten alle sich beeilen, die noch übrige Zeit dem Vergnügen zu widmen:

          Der eilt in ein Theater, dieser auf die Straße, um gewisse kleine Hüte zu begucken, ein dritter in eine Gesellschaft, um sich hier in Komplimenten zu verausgaben an ein zierliches Kind, den Stern eines kleinen Beamtenkreises, ein vierter – und das kommt allerdings am häufigsten vor – kriecht zu seinem Amtsbruder hinauf in den dritten oder vierten Stock.

          Die Wohnung besteht aus zwei kleinen Zimmern mit Vorzimmer und Küche und ist nicht ganz ohne Ansprüche auf Schönheit, es steht da etwa eine Lampe drin nach dem neuesten Geschmack oder sonst ein seltener Gegenstand, der viel Opfer gekostet hat und ganz bestimmt nur um den Preis unterdrückter Mittagessen und unterlassener Theaterbesuche zu erstehen war.

          Ich sage, um die Zeit, da diese Beamten sich in den Wohnungen ihrer Kollegen zerstreuen mit Whist, Tee und Zwieback, und einer sitzt dabei und dampft aus seinem langen Tschibuk, und ein anderer neben ihm erzählt einen Klatsch aus den höchsten Kreisen, ein Vergnügen, dem ein Russe niemals und unter gar keinen Bedingungen entsagen will, und wenn ihm keiner einfällt, so gibt er wohl zum hundertsten Mal die Anekdote zum besten vom Kommandanten, dem gemeldet wird, dass ein Übeltäter dem Pferd am Denkmal Peters des Großen den Schweif abgehauen hätte.

          Ich sage, um die Zeit, da alles die Freude und das Vergnügen sucht, blieb Akaki Akakiewitsch durchaus jeder Art von Zerstreuung fern. Niemand konnte sagen, er hätte ihn jemals abends wo in Gesellschaft gesehen. Sobald er sich satt geschrieben hatte, ging er zu Bett, im voraus schon lächelnd beim Gedanken daran, was Gott ihm wohl morgen zum Abschreiben geben werde.

          So floss friedlich das Leben eines Menschen hin, der mit vierhundert Rubel Gehalt sich in sein Los schicken konnte, und dieses Leben wäre weiter so dahin geflossen in gleichem Frieden bis ins höchste Greisenalter, wenn es nicht böse Zufälle gäbe auf dem Lebensweg nicht nur der Titular-, sondern auch der Geheim-, der wirklichen Geheim- und der Hofräte, ja selbst derer, die niemandem einen Rat geben und auch von keinem einen solchen empfangen.

          Alle die mit einem Jahresgehalt von vierhundert Rubel und darunter haben in Petersburg einen gar argen Feind, und dieser Feind ist kein anderer als unser Winterfrost, trotzdem er natürlich für sehr gesund gilt. So um neun Uhr morgens, um die Zeit, da sich die Straßen füllen mit solchen, die in die Ministerien müssen, beginnt er so kräftige und beißende Nasenstüber auszuteilen, dass die armen Beamten wirklich nicht mehr wissen wohin mit ihren Nasen.

          Und wenn denen in hoher Stellung schon die Stirn vor Kälte brennt und Tränen in die Augen treten, geht es unseren armen Titularräten erst recht schlecht. Das einzige, was diesen zu tun übrig bleibt, ist sich so schnell wie möglich in ihren dünnen Mäntelchen durch die fünf oder sechs Gassen zu schlagen und dann in der Portierloge sich die Füße am Ofen zu wärmen, so lange, bis alle auf dem Weg eingefrorenen Talente und Fähigkeiten zum Dienst wieder aufgetaut wären.

          Akaki Akakiewitsch begann nun schon seit einiger Zeit zu fühlen, dass ihn da was im Rücken und auf den Schultern gar heftig zwicke und beiße, trotzdem er sich bemühte, den Weg ins Bureau so schnell wie möglich zurückzulegen. Und er dachte, ob nicht am Ende sein Mantel die Schuld trüge, und richtig, da er ihn zu Hause genau durchsuchte, entdeckte er, dass an drei oder vier Stellen, gerade am Rücken und an den Schultern, sich der Stoff durchgerieben hatte und ganz durchsichtig geworden und dass auch das Futter zerrissen wäre.

          Man muss im übrigen wissen, dass die Kollegen auch diesen Mantel zur Zielscheibe ihres Spottes gewählt, dass sie ihm den ehrenwerten Namen eines Mantels überhaupt genommen und ihn Kapuze getauft hatten. In der Tat hatte er im Laufe der Zeit eine fragwürdige Form angenommen, auch war der Kragen von Jahr zu Jahr schmäler geworden, da er zum Flicken der anderen Teile herhalten musste, und diese Flecken verrieten keineswegs die Kunst eines Schneiders, vielmehr waren sie von höchst ungeübter und grober Hand eingesetzt.

          Da nun Akaki Akakiewitsch mit Augen sah, woran er wäre, beschloss er, den Mantel sofort zu Petrowitsch, dem Schneider, zu tragen. Dieser lebte irgendwo im vierten Stock eines Hinterhauses und befasste sich mit Reparaturen aller Art von Hosen und Fräcken der Beamten und anderer Leute, natürlich nur in Stunden, da er nüchtern und sein Kopf frei war.

          Ich brauchte über ihn natürlich nicht lange zu reden, doch da es nun einmal so Sitte ist, dass in einer Erzählung über den Charakter einer Figur kein Zweifel herrsche, so her mit diesem Schneider. Vor Jahren hieß er noch einfach Grigori und war Leibeigener bei irgendeinem Herrn.

          Petrowitsch begann er sich erst zu nennen, da er freigelassen wurde und sich an allen Feiertagen tüchtig zu betrinken anfing, zuerst nur an den großen, später aber an allen ohne Unterschied, wo immer nur im Kalender sich ein Kreuz fand. Darin war er der Sitte seiner Väter durchaus treu geblieben, und wenn er darob mit seiner Frau zankte, so nannte er sie ein weltliches Geschöpf ohne Sitte und ohne Art und zudem eine Deutsche.

          Da ich nun schon einmal bei seiner Frau bin, so muss ich auch über sie ein paar Worte sagen. Leider ist von ihr nicht viel mehr bekannt, als dass sie eben die Ehefrau des Petrowitsch sei und dass sie eine Haube und nicht ein Tuch um den Kopf trage. Sie konnte sich wohl in keinem Fall rühmen, schön zu sein; höchstens dass Soldaten von der Garde ihr einmal unter die Haube guckten, doch sie drehten sich da jedesmal den Schnurrbart, lachten und sprachen ein nicht wiederzugebendes Wort aus.

          Auf der Stiege zu Petrowitsch – die Wahrheit zu sagen war diese gerade frisch eingeseift und stank, wie alle Petersburger Hintertreppen, stark nach Schnaps – ich sage auf der Stiege überlegte Akaki Akakiewitsch, wieviel Petrowitsch wohl verlangen dürfte, und war in Gedanken fest entschlossen, nicht mehr als zwei Rubel zu geben.

          Die Tür stand offen, denn die Küche, wo des Petrowitsch Frau einen Fisch briet, war so voll Rauch, dass man nicht einmal die Schaben sehen konnte. Akaki konnte also durchgehen, ohne von der Wirtin gesehen zu werden, und trat ins Zimmer des Petrowitsch, welcher an einem breiten ungestrichenen Tisch saß und die Beine wie ein Pascha gekreuzt hatte. Die Füße waren wie bei allen Schneidern bloß, und vor allem musste dem Kunden der Daumen auffallen; Akaki Akakiewitsch kannte ihn gut mit seinem verstümmelten Nagel, der dick und hart wie Schildpatt war.

          Um den Hals hingen ihm Fäden von Zwirn und Seide und auf den Knien hatte er einen alten Fetzen. Schon seit einigen Minuten suchte er den Zwirn in das Nadelöhr zu bekommen, doch es wollte ihm nicht gelingen, und da begann er auf die Finsternis zu schimpfen und auch auf den Zwirn: Er geht nicht hinein, das Luder.

          Akaki Akakiewitsch war es nicht angenehm, gerade in einem Augenblick zu kommen, da Petrowitsch in schlechter Stimmung war: es wäre ihm lieber gewesen, bei Petrowitsch eine Bestellung zu machen, da dieser seine Courage vertrunken hatte und nach Fusel roch. In diesem Zustand ging er nämlich auf alles ein und stand immer wieder von seinem Sitz auf und verbeugte sich in einem fort und war überaus dankbaren Gemütes.

          Freilich später kam dann die Frau und weinte und schrie, der Mann sei betrunken gewesen gestern und hätte nur darum die Arbeit für so wenig übernommen. Doch da legte man ein paar Kopeken zu, und die Sache war gemacht. Heute aber, schien es, war Petrowitsch nüchtern und darum fest, er tat den Mund nicht auf und war also eher geneigt, weiß Gott was für Preise zu verlangen.

          Akaki Akakiewitsch fühlte das sehr deutlich und wollte schon wieder zurück, doch er war schon zu weit gekommen, Petrowitsch hatte ihn erblickt und blinzelte ihn mit seinem einzigen Auge von der Seite an, so dass der Titularrat ganz gegen seinen Willen: »Guten Tag, Petrowitsch!« ausrief. »Gott zum Gruß, Herr!« erwiderte Petrowitsch, und das Auge des Schneiders fiel auf die Hand des Akaki Akakiewitsch und wollte wissen, was für eine Beute dieser ihm heute denn brächte.

          »Ich komme zu dir, Petrowitsch … denn … weil …« Man muss wissen, dass der Titularrat sich meist nur in Umstands- und Beiwörtern und in sonst welchen Silben, die ganz ohne Sinn waren, ausdrückte. Und wenn eine Sache sehr schwierig war, hatte er die Gewohnheit, den Satz überhaupt nicht zu beenden …

          »Was habt Ihr da?« sagte Petrowitsch und musterte inzwischen mit seinem einen Auge die ganze Uniform von oben bis unten, Kragen, Ärmel, Rücken, Falten, Achselschlingen, er kannte das alles sehr gut, denn es war seine eigene Arbeit. Das ist bei Schneidern so Gewohnheit; das erste, was jeder tut.

          »Da hab ich was für dich, Petrowitsch. Den Mantel … Das Tuch … Du siehst, es ist überall noch gut, ganz fest. Er ist nur etwas verstaubt und sieht darum so alt aus, doch er ist noch ganz neu … neu … Nur hier ist so etwas … am Rücken. Und auch noch auf der Schulter ist er ein wenig durchgewetzt, und dann da noch auf dieser Schulter … Siehst du es auch? Das ist alles. Nicht viel Arbeit.«

          Petrowitsch nahm den Mantel, breitete ihn auf dem Tisch aus und prüfte ihn lange. Er schüttelte mit dem Kopf, und seine Hand griff nach einer runden Tabaksdose mit dem Porträt eines Generals darauf – man konnte nicht sehen welches, denn dort, wo das Gesicht hätte sein sollen, war das Holz mit dem Finger durchgedrückt und mit einem Stückchen Papier zugeklebt.

          Petrowitsch schnupfte ein wenig Tabak und hielt jetzt den Mantel gegen das Licht und schüttelte noch einmal sein Haupt; dann kehrte er das Futter heraus und schüttelte wieder mit dem Kopf; noch einmal nahm er die Dose mit dem geköpften General, zog etwas Tabak ein, legte sie aufs Fensterbrett und sagte endlich: »Nein, da ist nichts mehr auszubessern. Der Mantel ist schlecht.«

          Dem Titularrat schlug das Herz. »Warum nicht, Petrowitsch?« fragte er mit der jammernden Stimme eines kleinen Kindes. »Er ist doch nur an den Schultern etwas durchgewetzt. Du hast sicher bei dir noch alte Flecken zum Stopfen.«

          »Die habe ich schon; aber man kann sie nicht mehr aufnähen. Das Tuch ist schon ganz mürbe und hält den Stich nicht mehr: so ist es!«

          »Da nähst du eben einen Lappen darauf!«

          »Worauf denn? Nein, nein, den kann man nicht mehr zusammenflicken, der hat schon zuviel durchgemacht.«

          »Doch, doch, stopf ihn nur!«

          »Nein,« sagte Petrowitsch jetzt ganz entschlossen, »da ist nichts mehr zu stopfen. Am besten, Ihr macht Euch, wenn der Winter kommt, Fußlappen daraus. Strümpfe sind doch nicht warm. Die haben die Deutschen erfunden, um noch mehr Geld zu machen. (Petrowitsch liebte es, gelegentlich auf die Deutschen zu schimpfen.) Den Mantel aber, versteht sich, müsst Ihr Euch neu machen lassen.«

          Bei dem Worte neu wurde es dem Titularrat dunkel vor den Augen, und alles drehte sich ihm im Zimmer, und er sah nur ganz klar vor sich den General mit dem zugeklebten Gesicht auf der Tabaksdose.

          »Wieso einen neuen?« rief er wie aus einem Traum. »Ich habe doch kein Geld dafür.«

          »Ja, einen neuen,« bestätigte Petrowitsch mit grausamer Ruhe.

          »Und wenn es schon ein neuer sein muss, was würde …?«

          »Ihr meint, was er kostet?«

          »Ja.«

          »Nun, so hundertundfünfzig Rubel müsst Ihr darauf schon verwenden,« meinte Petrowitsch und kniff die Lippen zusammen. Er liebte nämlich die starken Effekte. Er liebte es, den Leuten Schrecken einzujagen und dann so von der Seite zuzusehen, was der Geschreckte für ein Gesicht machte.

          »Hundertundfünfzig Rubel für einen Mantel!« schrie Akaki Akakiewitsch auf, vielleicht das erstemal wieder nach seiner Geburt, denn für gewöhnlich war ihm große Stille zu eigen.

          »Ja, gewiß!« sagte Petrowitsch. »Und wenn Ihr den Kragen aus Marder und die Kapuze mit Seide gefüttert haben wollt, so kommt er auf zweihundert.«

          »Petrowitsch, ich bitte dich,« flehte der Titularrat, ohne auf Petrowitsch zu hören und auf dessen Effekte zu achten, »bessere mir den Mantel aus, damit er noch einige Zeit wenigstens hält!«

          »Nein, das geht nicht. Das hieße Arbeit verschwenden und das Geld auf die Straße werfen,« schloss Petrowitsch, und Akaki Akakiewitsch lief hinaus. Petrowitsch jedoch behielt noch lange seine Stellung, kniff höchst bedeutsam die Lippen zusammen und ließ die Hände von der Arbeit, so zufrieden war er damit, dass er diesmal weder sich selber erniedrigt noch die Schneiderkunst verraten hatte.

          Auf der Straße ging Akaki Akakiewitsch wie im Traum. »So etwas. Ich hätte doch nicht gedacht, dass es dazu kommen würde!« Und dann fügte er hinzu nach einigem Überlegen: »So steht die Sache. Das kam dabei heraus. Wer hätte vermuten können, dass es damit so stände.« Und wieder schwieg er, und jetzt noch einmal: »So steht es also mit mir. Das konnte ich doch nicht erwarten, niemals … So etwas …«

          Anstatt nach Hause ging er nun, ohne es zu wissen, genau in der entgegengesetzten Richtung. Auf dem Weg streifte ihn ein Schornsteinfeger, und die Schulter war ganz schwarz davon. Auch fiel eine Kelle mit Kalk auf ihn von einem Haus, an welchem gebaut wurde. Er merkte nichts. Erst als er gegen einen Wachtposten angerannt war, der, die Hellebarde neben sich, aus seinem Beutel Tabak auf die schwielige Hand tat, wachte er auf, denn der Posten schrie ihn an: »Musst du mir denn ins Maul kriechen? Wozu ist denn das Trottoir da?«

          Jetzt sah er auf und ging nach Hause. Und hier erst begann er die Gedanken zu sammeln und klar seine Lage zu übersehen, hier erst begann er mit sich nicht mehr zusammenhanglos, sondern überlegt und offen zu sprechen, als redete er mit einem klugen Freund, dem man eine Herzenssache anvertrauen kann.

          »Nein, nein, heute kann niemand mit Petrowitsch reden. Seine Frau muss ihn durchgeprügelt haben. Ich gehe besser am nächsten Sonntag noch einmal zu ihm. Sonnabend ist er betrunken, und da bekommt er Sonntag darauf die Augen nicht auf und bedarf einer Stärkung. Seine Frau gibt ihm das Geld nicht, und da bin ich dann da und drücke ihm einen Sechser in die Hand, und so wird er mit sich reden lassen, und der Mantel wird dann noch gehen …«

          So schloss der Titularrat, sprach sich Mut zu und wartete auf den nächsten Sonntag. Kaum hatte er gesehen, dass des Schneiders Frau aus dem Haus ging, eilte er schnurstracks zu ihm. In der Tat hatte Petrowitsch Mühe, sein einziges Auge aufzubekommen und war ganz voll Schlaf und ließ den Kopf hängen. Doch kaum hatte er verstanden, worum es sich wieder handle, als er schon wie vom Satan getrieben rief: »Nein, nein, das geht nicht. Ihr müsst einen neuen bestellen!«

          Der Augenblick war da, ihm den Sechser in die Hand zu drücken. »Ich danke Euch, Herr! Da kann ich mich ein wenig stärken gehen auf Eure Gesundheit. Doch den Mantel lasst nun einmal, er taugt wirklich nichts mehr. Ich mache Euch einen neuen, schönen und dabei bleibt es.«

          Der Titularrat fing immer wieder von der Reparatur an, doch Petrowitsch hörte gar nicht auf ihn und rief: »Ich mache Euch einen neuen. Verlasst Euch auf mich, ich werde mir Mühe geben! Ich werde Euch sogar, weil es jetzt so Mode ist, silberne Pfötchen aufs Appliqué nähen.«

          Akaki Akakiewitsch sah nun ganz klar, dass der neue Mantel nicht mehr zu umgehen sei, und sein Mut war weg. Von welchem Geld sollte er sich ihn nur machen lassen? Freilich durfte er auf die Remuneration zu den Feiertagen hoffen, doch die war schon im voraus eingeteilt: er brauchte neue Hosen, musste den Schuster bezahlen fürs Ansetzen von Kappen an den Schuhen, und dann wollte er bei der Näherin drei Hemden bestellen.

          Kurz, das Geld war schon verausgabt. Und wenn auch der Direktor so gnädig wäre, ihm statt vierzig Rubel fünfundvierzig oder gar fünfzig zu bewilligen, würde die Kleinigkeit, die übrig bliebe, nur ein Tropfen im Meer sein im Vergleich zu der Summe, die der neue Mantel kosten soll. Natürlich das wusste er schon, dass Petrowitsch, weiß der Teufel warum, bei guter Laune gerne solche verrückte Preise machte, so dass selbst seine Frau sich nicht mehr halten konnte und ihn anschrie: »Bist du närrisch geworden? Einmal arbeitest du für nichts und dann wieder treibt dich der Teufel, einen Preis zu verlangen, den du selber gar nicht wert bist.«

          Wenn der Titularrat auch wusste, dass Petrowitsch den Mantel für achtzig Rubel liefern würde – woher aber die achtzig nehmen? Die Hälfte konnte er noch zusammenkriegen, ja, die Hälfte sogar sicher, vielleicht auch eine Kleinigkeit mehr: aber die andere Hälfte, wer sollte die ihm geben?…

          Doch der Leser muss zuerst erfahren, woher er die erste Hälfte nehmen wollte. Akaki Akakiewitsch hatte nämlich die Gewohnheit, von jedem verausgabten Rubel eine Kopeke in eine kleine Sparbüchse zu geben, die zugeschlossen war und einen schmalen Schlitz enthielt, durch den so eine Kopeke ging. Jedes halbe Jahr zählte er die Summe, die sich angesammelt hatte, und wechselte sie in Silber um. Das hatte er nun seit geraumer Zeit durchgeführt, und auf diese Weise war im Laufe von mehreren Jahren die Summe von vierzig Rubel zusammengekommen.

          Die eine Hälfte war also da, in seinen Händen, woher aber, noch einmal, die anderen vierzig Rubel? Akaki Akakiewitsch überlegte hin und her und beschloss endlich, mindestens ein ganzes Jahr sich einzuschränken.

          Das heißt: keinen Tee mehr am Abend zu trinken, kein Licht mehr anzuzünden und, wenn er abends arbeiten müsse, zur Wirtin zu gehen und dort bei der Kerze zu schreiben; dann auf der Straße so leise und vorsichtig wie möglich aufzutreten, ja auf den Zehen zu gehen, um die Sohlen nicht durchzuwetzen; endlich die Wäsche so selten wie möglich zum Waschen zu geben und sie zu Hause gleich auszuziehen, damit sie nicht abgenützt werde, und im halbwollenen Schlafrock da zu sitzen, der sehr alt sei und dem die Zeit darum nichts mehr anhaben könnte.

          Es fiel ihm ja, um die Wahrheit zu sagen, anfangs schwer, sich an alle diese Entbehrungen zu gewöhnen, doch mit der Zeit wurde es ihm immer leichter, ja allmählich war er ein Meister in der Kunst zu hungern, im Geist sich mit dem Gedanken an den neuen Mantel nährend.

          Und seit diesen Tagen wurde sein ganzes Wesen gleichsam voller, als hätte er geheiratet, als stünde ihm jetzt ein Wesen zur Seite, als wäre er nicht mehr allein und hätte sich eine köstliche Lebensgefährtin endlich entschlossen, den Weg des Lebens mit ihm zu wandeln, und ich sage, diese köstliche Lebensgefährtin war eben der Mantel, innen wattiert und mit starkem Futter versehen.

          Akaki Akakiewitsch wurde in der Tat lebhafter und fester gleich einem Menschen, der ein Ziel hat. Aus seinem Gesicht und aus seinen Schritten waren von selbst aller Zweifel, jegliche Unentschlossenheit, alle die schwankenden und unbestimmten Züge verschwunden. In sein Auge kam zuweilen Feuer und in seinem Hirn blitzten dann kühne, ja freche Gedanken auf: könnte der Kragen am Ende nicht doch aus Marder sein?

          Ich sage, Akaki Akakiewitsch wurde durch solche und ähnliche Gedanken zerstreut, und einmal hätte er beim Abschreiben beinahe einen Fehler gemacht, so dass er laut aufschrie und sich bekreuzte. Jeden Monat mindestens einmal klopfte er bei Petrowitsch an, um über den Mantel zu schwatzen: wo würde man wohl am besten das Tuch kaufen, und welche Farbe sollte es eigentlich haben und wie teuer wird es sein? Und jedesmal kam er, wenn auch nicht ganz ohne Kummer, so doch zufrieden nach Hause bei dem Gedanken, dass nun endlich die Zeit da sein werde, da man alles Notwendige kaufen und der Mantel fertig sein würde.

          Und die Zeit kam schneller als er geglaubt hatte, denn wider alles Erwarten hatte der Direktor ihm nicht nur vierzig, sondern ganze fünfzig Rubel bewilligt. Ob dieser es nun geahnt hat, dass Akaki Akakiewitsch einen neuen Mantel brauchte, oder ob das so von selber gekommen ist, Akaki Akakiewitsch hatte auf einmal zwanzig Rubel mehr. Und dieser Umstand beschleunigte die Sache. Noch zwei, drei Monate hungern, und Akaki Akakiewitsch hatte die achtzig Rubel beisammen.

          Sein sonst so ruhiges Herz begann laut zu schlagen, da er sich mit Petrowitsch zusammen nach dem Laden aufmachte. Sie kauften sehr gutes Tuch, nicht zu teuer, war dieses doch durch ein halbes Jahr hindurch der alleinige Gegenstand ihres Denkens gewesen und hatten sie doch selten einen Monat verstreichen lassen, ohne im Laden um den Preis zu handeln; dafür meinte aber auch Petrowitsch jetzt, dass es bestimmt kein besseres Tuch gebe.

          Als Futter wählten sie Coulaincour, guten, festen, der nach der Aussage des Petrowitsch besser wäre als Seide und auch so aussehe und glänze. Marder kauften sie nicht, das war zu teuer, dafür wählten sie aber ein Katzenfell, das beste, das sie im Laden fanden und das man im übrigen von weitem ganz gut für Marder halten konnte.

          Petrowitsch brauchte im ganzen vier Wochen für den Mantel, denn es gab viel zu steppen, sonst würde er wohl früher damit fertig geworden sein. Für die Arbeit nahm er zwanzig Rubel, billiger ging es schon nicht. Alles war auf Seide genäht, und bei jeder Naht half Petrowitsch noch mit den Zähnen nach.

          Es war nun – ich kann nicht genau sagen, an welchem Tag – es war jedenfalls am glorreichsten Tag in des Akaki Akakiewitsch Leben, dass Petrowitsch den Mantel endlich brachte. Am Morgen, genau um die Stunde, da der Titularrat ins Bureau musste. Auch wäre zu keiner anderen Jahreszeit der Mantel so gelegen gekommen, denn die starken Fröste hatten schon eingesetzt und drohten allem Anschein nach noch heftiger zu werden.

          Petrowitsch erschien mit dem Mantel ganz so, wie sich das für einen guten Schneider gehört. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den Akaki Akakiewitsch an ihm noch nicht wahrgenommen hatte. Es schien, als fühlte er durchaus, dass er keine geringe Sache hier zur Vollendung gebracht hätte und dass er erst jetzt den Abgrund gewahr geworden wäre, der einen Flickschneider von jenem entschieden trenne, der neue Anzüge machte.

          Petrowitsch nahm den Mantel aus dem Tuch heraus, in das er ihn gewickelt hatte. Er blickte ihn stolz an und warf ihn mit beiden Händen sehr leicht Akaki Akakiewitsch um die Schultern; dann zog er ihn ein wenig nach unten mit der Hand; dann musste ihn Akaki Akakiewitsch aufgeknöpft lassen und der Mantel Falten werfen.

          Doch Akaki Akakiewitsch wollte als ein Mann von Erfahrung auch die Ärmel probieren; Petrowitsch half ihm – auch die Ärmel passten. Kurz der Mantel war vollkommen. Petrowitsch unterließ auch nicht die Bemerkung, dass er ihn deshalb nur so billig gemacht hätte, weil er weit vom Zentrum entfernt lebe und Akaki Akakiewitsch schon seit langem kenne; auf dem Newsky Prospekt hätte ihm ein Schneider für die Arbeit allein fünfundsiebzig Rubel genommen.

          Akaki Akakiewitsch wollte mit Petrowitsch darüber jetzt nicht reden, fürchtete er doch überhaupt all die Riesensummen, mit denen der Schneider Staub zu machen liebte. Er zahlte ihn aus, dankte ihm noch und ging sogleich mit dem neuen Mantel ins Bureau. Petrowitsch ging ihm noch nach und sah sich auf diese Weise seinen Mantel aus der Ferne an, er bog auch in eine Seitengasse ein und kam auf derselben Straße Akakiewitsch entgegen, so dass er den Mantel jetzt auch von vorne sehen konnte.

          Inzwischen aber schritt Akaki Akakiewitsch in wahrhaft feiertäglicher Laune weiter. Er fühlte es in jedem Augenblick, dass er jetzt den neuen Mantel anhatte, und zuweilen lächelte er vor innerem Glück. In der Tat brachte ihm der Mantel auch jeden Vorteil, das heißt: er war sowohl warm als auch gut überhaupt. Auf den Weg achtete der Titularrat nicht, und schon war er im Ministerium. Im Vorzimmer nahm er den Mantel ab, betrachtete ihn von allen Seiten und übergab ihn dem Portier zu besonderer Aufsicht.

          Ich weiß nicht, auf welche Weise die Kollegen im Amt erfahren hatten, dass Akaki Akakiewitsch einen neuen Mantel hätte und dass die alte Kapuze nicht mehr existierte: alle stürmten im selben Augenblick ins Vorzimmer hinaus, um den Mantel zu sehen. Dort beglückwünschten und begrüßten sie feierlichst Akaki Akakiewitsch, so dass er anfangs wohl lachte, zuletzt aber ganz verlegen wurde.

          Als nun aber alle in ihn drangen, der neue Mantel müsste eingeweiht werden und er ihnen allen eine Gesellschaft geben, wusste Akaki Akakiewitsch schon gar nicht mehr wohin und was er antworten und wie er sich ausreden sollte, bis er ganz rot im Gesicht ihnen in seiner Einfalt versicherte, dass es doch kein neuer Mantel wäre, sondern ein alter. Doch da rief einer aus der Schar, ein Gehilfe des Chefs, wohl um zu zeigen, dass er nicht hochmütig sei und den Verkehr mit niederen Beamten nicht meide: »So ist es. Ich will an seiner Stelle die Gesellschaft geben und bitte euch alle für heute Abend zu mir; im übrigen trifft es sich, dass heute mein Namenstag ist.«

          Die Beamten gratulierten jetzt dem Gehilfen und nahmen mit Freude die Einladung an. Nur Akaki Akakiewitsch bat um Entschuldigung, er könne nicht kommen; doch da redeten sie alle auf ihn ein, dass das ungezogen sei, ja einfach eine Schande, und so konnte er nicht nein sagen. Ja die Einladung war ihm sogar sehr lieb, da ihm jetzt einfiel, dass er auf diese Weise auch abends den neuen Mantel werde anziehen können.

          Der ganze Tag war nun für Akaki Akakiewitsch ein Fest und ein Triumph. Er ging in der allerglücklichsten Gemütsverfassung nach Hause, nahm dort den Mantel ab und hing ihn mit der größten Vorsicht an die Wand. Immer wieder liebäugelte er mit dem Stoff und dem Futter und nahm auch zum Vergleich die alte Kapuze heraus. Er musste lachen, so groß erschien ihm der Unterschied zwischen beiden.

          Und noch lange nach dem Essen musste er lachen, sooft ihm die überaus traurige Verfassung seiner alten Kapuze einfiel. Sein Mahl verzehrte er mit aller Heiterkeit, und diesmal schrieb er nach dem Essen nicht ab, vielmehr faulenzte er am Bett, bis es dunkel wurde. Doch dann schob er es nicht mehr hinaus, zog den neuen Mantel an und ging auf die Straße.

          Der Mantel – 1 von 2 | Der Mantel – 2 von 2


          Der Mantel – Nikolai W. Gogol – Novelle

          Autor*in: Nikolai Gogol

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            In einer Ministerialabteilung – besser ich nenne sie nicht, denn es gibt nichts Empfindlicheres als unsere Beamten, Offiziere und Politiker. Heute fühlt wirklich schon jeder Privatmensch in seiner Person die ganze Gesellschaft beleidigt.