August 2019 | AVENTIN Blog --

Mit dem Luftschiff unterwegs - Adalbert Stifter

Mit Luftschiff unterwegs – Adalbert Stifter – In der Einöde der Lüfte
Mit dem Luftschiff unterwegs 

Mit Luftschiff unterwegs – Adalbert Stifter – In der Einöde der Lüfte


Hoch am Firmament in der Einöde unbegrenzter Lüfte schwebte der Ballon und führte sein Schiff und die kühnen Menschen darinnen in dem wesenlosen Ozean mit einem sanften Luftstrom westwärts. Rings ausgestorbene Stille, nur zeitweise unterbrochen durch das zarte Knarren des Taffets, wenn der Ostwind an seinen Wänden strich, oder durch ein kaum hörbares Seufzen in dem seidenen Tauwerk.

Drei Menschen, ebenfalls im tiefsten Schweigen, saßen in dem Schiff, bis ans Knie in dichte Pelze gehüllt und doppelte grüne Schleier über die Gesichter. Durch einen derselben schimmerten die sanften Umrisse eines schönen, blassen Frauenantlitzes mit großen, geistvollen, zagenden Augen.

Aber wie sie hier schiffte, war in ihr nicht mehr jene kühne Cornelia zu erkennen, die gleich ihrer römischen Namensschwester, erhaben sein wollte über ihr Geschlecht und gleich den heldenmütigen Söhnen derselben den Versuch wagen, ob man nicht die Bande der Unterdrückten sprengen möge, und die an sich wenigstens ein Beispiel aufstellen wollte, das auch eine Frau sich frei erklären könne von den willkürlichen Grenzen, die der Mann seit Jahrtausenden um sie gezogen hatte – frei, ohne doch an Tugend und Weiblichkeit etwas zu verlieren. Sie war nicht mehr, was sie kaum noch vor einer halben Stunde gewesen; denn alles, alles war anders geworden, als sie sich gedacht hatte.

In frühester Morgendämmerung, um jeder unberufenen Beobachtung zu entgehen, wurde die Auffahrt gestaltet, und mit hochgehobenem Herzen stand die schöne Jungfrau dabei, als der Ballon gefüllt wurde, fast nicht bändigend den klopfenden Busen und die ahnungsreiche Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Dennoch war es ein banger Augenblick für die umstehenden Teilnehmer, als der unscheinbare Taffet zu einer riesenhaften Kugel anschwoll und die mächtigen Taue straff spannte, mit denen sie an die Erde gebunden war.

Seltsame Instrumente und Vorrichtungen wurden gebracht und in die Fächer des Schiffes geschnallt. Ein schöner, großer Mann – sonst war er sanft, fröhlich und wohlgemut, hatte blass und ernst – ging viel mal um die Maschine herum und prüfte sie stellenweise um ihre Tüchtigkeit. Endlich fragte er die Jungfrau, ob sie auf ihrem Wunsch beharre, und auf das Ja sah er sie mit einem seltsamen Blick der Bewunderung an und führte sie ehrerbietig in das Schiff, bemerkend, dass er ihr nicht mit Wiederholung der Warnungen lästig sein wolle, die er ihr schon vor vierzehn Tagen gemacht, da sie dieselben ohne Zweifel wohl überlegt haben würde.

Er wartete noch einige Minuten, und da keine Antwort erfolgte, so stieg auch er ein, und ein alter Mann war der letzte, sie hielt ihn für einen ergrauten wissenschaftlichen Famulus.

Alle waren sie nun in Bereitschaft, die Maschine in Ordnung. Einen Blick noch tat Cornelia auf die Bäume des Gartens, die ins Morgengrau vermummt umher standen und zusahen – dann erscholl aus dem Mund ihres Begleiters der Ruf: »Nun lasst den braven Kondor fliegen – löst die Taue!«

Es geschah, und von den tausend unsichtbaren Armen der Luft gefasst und gedrängt, erzitterte der Riesenbau der Kugel und schwankte eine Sekunde – dann sachte aufsteigend zog er das Schiff los vom mütterlichen Grund der Erde, und mit jedem Atemzug an Schnelligkeit gewinnend, schoss er endlich pfeilschnell senkrecht in den Morgenstrom des Lichts empor, und im Moment flogen auch auf seine Wölbung und in das Tauwerk die Flammen der Morgensonne, dass Cornelia erschrak und meinte, der ganzen Ballon brenne; denn wie glühende Stäbe schnitten sich die Linien der Schüre aus dem indigoblauen Himmel, und seine Rundung flammte wie eine riesenhafte Sonne.

Die zurücktretende Erde war noch ganz schwarz und unentwirrbar, in Finsternis verrinnend. Weit im Westen auf einer Nebelbank lag der erblassende Mond.

So schwebten sie höher und höher, immer mehr und mehr an Rundsicht gewinnend. Zwei Herzen, und vielleicht auch das dritte, alte, pochten der Größe des Augenblicks entgegen.

Die Erhabenheit begann nun der Luftschiffer seine Pergamente auseinanderzurollen — und der Begriff des Raumes fing an mit seiner Urgewalt zu wirken. Die Schiffenden stiegen eben einem Archipel von Wolken entgegen, die der Erde in demselben Augenblick ihre Morgenrosen sandten, hier oben aber weiß schimmernde Eisländer waren, in den furchtbar blauen Bächen der Luft schwimmend und mit Schlünden und Spalten dem Schiff entgegen starrend.

Und wie sie näher kamen, regten und rührten sich die Eisländer als weiße, wallende Nebel. In diesem Augenblick ging auf der Erde die Sonne auf, und diese Erde wurde wieder weithin sichtbar. Es war noch das gewohnte Mutterantlitz, wie wir es von hohen Bergen sehen, nur lieblich schön errötend unter dem Strahlennetz der Morgensonne…

»Wie weit, Colomann?« fragte der Luftschiffer. »Fast Montblancs Höhe«, antwortete der alte Mann, der am anderen Ende des Schiffchens saß, »wohl über vierzehntausend Fuß, Mylord.« — »Es ist gut.«

Cornelia sah bei dieser Rede behutsam über das Bord des Schiffes und tauchte ihre Blicke senkrecht nieder durch den luftigen Abgrund auf die liebe, verlassene, nunmehr schimmernde Erde, ob sie etwa bekannte Stellen entdecken möge – aber siehe, alles war fremd, und die vertraute Wohnlichkeit derselben war schon nicht mehr sichtbar, und mithin auch nicht die Fäden, die uns an ein teures, kleines Fleckchen binden, das wir Heimat nennen.

Wie große Schatten zogen die Wälder gegen den Horizont hinaus – ein wunderliches Bauwerk von Gebirgen, wie wimmelnde Wogen, ging in die Breite und lief gegen fahle Flecken ab, wahrscheinlich Gefilde. Nur ein Strom war deutlich sichtbar, ein dünner, zitternder Silberfaden, wie sie oft im Spätherbst auf dunkler Heide spinnen. Über dem Ganzen schien ein sonderbar gelbes Licht zu schweben.

Wie sie ihre Blicke wieder zurückzog, begegnete sie dem ruhigen Auge des Lords, an dem sie sich erholte. Er stellte eben ein Teleskop zurecht und befestigte es. Der Ballon zog mit seinem sanften Luftstrom westwärts, ohne weiter zu steigen; denn schon über zwanzig Minuten fiel das Quecksilber in der Röhre gar nicht.

Die beiden Männer arbeiteten mit ihren Instrumenten. Cornelia drückte sich tiefer in ihre Gewänder und in die Ecke ihres Sitzes. Die fließende Luft spielte um ihre Locken, und das Fahrzeug wiegte sich. Von ihrem Herzen gab sie sich keine Rechenschaft.

Die Stille wurde nur unterbrochen durch eintönige Laute der Männer, wie der eine diktierte, der andere schrieb. Am Horizont tauchten jetzt in nebelhafter Ferne ungeheuer schimmernde Schneefelder auf, die sich Cornelia nicht enträtseln konnte.

»Es ist das Mittelmeer, verehrtes Fräulein,« sagte Colomann; »wir wollen hier nur noch einige Luftproben in unsere Fächer schöpfen und die Elektrizität prüfen; dann sollen Sie den Spiegel noch viel schöner sehen, nicht mehr silbern, sondern wie lauter blitzendes Gold.«

Währenddessen hatte der junge Luftschiffer eine Phiole mit starkem Kaffee gefüllt, in ungelöschten Kalk gelegt, hatte Wasser auf den Kalk gegossen und so die Flüssigkeit gewärmt; dann goss er etwas Rum dazu und reichte der Jungfrau einen Becher des heißen und erhitzenden Getränkes.

Bei der großen Kälte fühlte sie die wohltätige Wirkung augenblicklich, wie ein neues Leben, durch ihre Nerven fließen. Auch die Männer tranken. Dann redeten sie leise, und der jüngere nickte. Hierauf fing der ältere an, Säcke mit Sand, die im Schiff standen, über Bord zu leeren. Der Kondor wiegte sich in seinem Bade, und wie mit den prächtigen Schwingen seines Namensgenossen hob er sich langsam und feierlich in den höchsten Äther.

Der Blick Cornelias war wieder auf die Erde gerichtet – diese aber war nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus: in einem fremden, goldnen Rauche lodernd, taumelte sie gleichsam zurück, an ihrer äußersten Stirn das Mittelmeer wie ein schmales, gleißendes Goldband tragend, überschwimmend in unbekannte phantastische Massen.

Erschrocken wandte die Jungfrau ihr Auge zurück, als hätte sie ein Ungeheuer erblickt – aber auch um das Schiff herum wallten weithin weiße, dünne, sich dehnende und regende Leichentücher – von der Erde gesehen – Silberschäfchen des Himmels. Zu diesem Himmel froh nun ihr Blick – aber siehe, er war gar nicht mehr da: das ganze Himmelsgewölbe, die schöne blaue Glocke unserer Erde, war ein ganz schwarzer Abgrund geworden, ohne Maß und Grenze in die Tiefe gehend, – jenes Labsal, das wir unten so gedankenlos genießen, war hier oben völlig verschwunden, die Fülle und Flut des Lichtes auf der schönen Erde.

Wie zum Hohn wurden alle Sterne sichtbar – winzige, ohnmächtige Goldpunkte, verloren durch die Öde gestreut – und endlich die Sonne, ein drohendes Gestirn, ohne Wärme, ohne Strahlen, eine scharf geschnittene Scheibe aus wallendem, blähendem, weiß geschmolzenem Metall: so glotzte sie mit vernichtendem Glanz aus dem Schlund – und doch nicht einen Hauch des Lichtes festhaltend in diesen wesenlosen Räumen; nur auf dem Ballon und dem Schiff starrte ein grelles Licht, die Maschine gespenstig von der umgebenden Nacht abhebend und die Gesichter totenartig zeichnend, wie in einer Laterna magica.

Und dennoch – die Phantasie begriff es kaum – dennoch war es unsere zarte, liebe Luft, in der sie schifften – dieselbe Luft, die morgen die Wangen eines Säuglings fächelt. Der Ballon kam, wie der Alte bemerkte, in den oberen umgekehrten Passatstrom und musste mit fürchterlicher Schnelligkeit dahingehen, was das ungemeine Schiefhängen des Schiffes bewies und das gewaltige Rütteln und Zerren an dem Taffet, der dessen ungeachtet keinen stärkeren Laut gab als das Wimmern eines Kindes; denn auch das Reich des Klanges war hier oben aus – und wenn das Schiff sich von der Sonne wendete, so war nichts, nichts da als die Sterne, wie Geister, die bei Tage umgehen.

Jetzt, nach langem Schweigen, taten sich zwei schneebleiche Lippen auf und sagten furchtsam leise: »Mir schwindelt.« Man hörte sie aber nicht. Sie schlug nun den Pelz dichter um sich, um den schüttelnden Fieberfrost abzuwehren. Die Männer arbeiteten noch an Dingen, die sie nicht verstand; nur der junge, schöne, Mann, deuchte es ihr, schoss zuweilen einen majestätischen Blick in die großartige Finsternis und spielte dichterisch mit Gefahr und Größe – an dem Alten war nicht ein einzig Zeichen eines Affektes bemerkbar.

Nach langer, langer Zeit der Vergessenheit neigte der Jüngling doch sein Angesicht gegen die Jungfrau, um nach ihr zu sehen: Sie aber schaute mit stillen, wahnsinnigen Augen um sich und ihre Lippen waren weiß wie Schnee. »Coloman«, rief der Jüngling, so stark er es hier vermochte, »Coloman, wir müssen niedergehen; der Lady ist nicht wohl.«

Nach diesen Worten tat er einen jähen Zug an einer grünseidenen Schnur – und wie ein Riesenfalke stieß der Kondor hundert Klafter senkrecht nieder in die Luft – und sank dann langsam immer mehr und mehr. Der Lord hielt die ohnmächtige Cornelia in den Armen.

Mit dem Luftschiff unterwegs – Adalbert Stifter - Novelle

Autor*in: Adalbert Stifter

Bewertung des Redakteurs:

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    Hoch am Firmament in der Einöde unbegrenzter Lüfte schwebte der Ballon und führte sein Schiff und die kühnen Menschen darinnen in dem wesenlosen Ozean mit einem sanften Luftstrom westwärts. Rings ausgestorbene Stille, nur zeitweise unterbrochen durch das zarte Knarren des Taffets, wenn der Ostwind an seinen Wänden strich, oder durch ein kaum hörbares Seufzen in dem seidenen Tauwerk.

    Aktiver Frieden - Axel Eggebrecht

    Aktiver Frieden – Essay – Axel Eggebrecht – Journalist und Schriftsteller
    Aktiver Frieden 

    Aktiver Frieden – Axel Eggebrecht – Journalist und Schriftsteller


    Der Friede muss erkämpft werden.

    Nichts wird uns Menschen geschenkt. Alles müssen wir strebend und kämpfend erringen, auch das Natürlichste. Selbst den Frieden, Ja, ihn erst recht, obwohl ein Verlangen danach uns eingeboren ist; obwohl er das Selbstverständliche zu sein scheint.

    Der Friede muss erkämpft werden. Diese bittere dialektische Wahrheit haben fünftausend Jahre Geschichte uns unabweislich gelehrt. Und noch vor einigen Jahrzehnten wurden sie uns schmerzhafter denn je eingebleut und eingebrannt. Der Friede muss erkämpft werden.

    Der Friede kann errungen werden.

    »Immer gab es Krieg; also wird es ihn auch immer geben!« So flüstern die Verzagten. So murmeln die Lauen. So klagen die Mattherzigen. So seufzen die Ängstlichen. So reden die Bequemen daher. So rufen die Handfesten. So brüllen die plumpen Gewalttäter. Und so klügeln die Kundigen. So beweisen zum Schein die überklugen Betrachter, die Geschichtsmystiker, die ewig Gestrigen.

    Sie irren! Alle! Goethe antwortet ihnen: »Was ist gestern? Gestern ist nichts!« Der Friede kann errungen werden.

    Zum Ewigen Frieden

    Wer einen allgemeinen und dauernden Frieden, den »Ewigen Frieden« Immanuel Kants, für unerreichbar hält, der hätte einst auch sagen müssen: Sklaverei wird immer sein! (Und sie ist abgeschafft, trotz verspäteten Rückfällen.)

    Folter ist unentbehrlich! (Doch sie ist heute verpönt, wie sich gegenüber manchen Rückschlägen erweist.) Wer den Frieden für eine Utopie hält, der hätte einst behaupten müssen (und das ist behauptet worden!): Seuchen sind gottgewollt und ewig. Immer wird im Kindbett die Hälfte aller Geborenen zugrunde gehen. Bis ans Ende aller Tage werden Pest, Cholera, Lepra, Malaria und Tuberkulose uns in ihren Krallen halten. Aber alle diese Übel sind bekämpft, gemindert, auf einen Bruchteil ihrer Wirkung eingeschränkt worden. Manche sind schon fast von der Erde verschwunden. Wenn sie noch nicht völlig ausgerottet wurden, dann nur deshalb: weil ihre Reste im Schatten des einen, des schlimmsten Übels weiter gedeihen – des Kriegs!

    Ist der Krieg wirklich der Vater aller Dinge?

    Aber halt! Heißt es nicht: »Der Krieg ist der Vater aller Dinge?« Das ist ein Wort des altgriechischen Denkers Heraklit. Kaum ein Zitat wird so gern, so oft, so unbekümmert gebraucht. Und es ist doch nichts als eine Verdrehung, eine bösartige Missdeutung, eine infame Lüge. Heraklit meinte nämlich den Krieg der Geister. Den Streit der Meinungen. Den fruchtbaren Gegensatz, aus welchem Neues entspringt, Entwicklung, Besserung, Fortschritt. Also genau das Gegenteil von dem, was die ewig gestrigen Verfechter des Kriegs behaupten.

    Heraklit hat auch gesagt: »Alles fließt!« Das heißt: wir streben voran. Nichts ist uns Menschen unabänderlich. Wir wollen weiter kommen!

    Gibt es einen frisch-fröhlichen Krieg?

    Es ist ganz und gar nichts mit dem sogenannten frisch-fröhlichen Krieg, der alles belebt, anfacht und befeuert. Ein kluger Mann hat einmal gefragt, weshalb wir eigentlich immer vom frisch-fröhlichen Krieg sprächen – und nie von einer frisch-fröhlichen Cholera-Epidemie. Er hat recht.

    Der Krieg ist die letzte, die größte und die schlimmste aller Seuchen. Er muss ausgetilgt werden, gleich allen anderen Epidemien.

    Der Krieg – natürlich und selbstverständlich?

    Warum aber erscheint den meisten der Krieg immer noch so natürlich, so selbstverständlich? Aus zwei Gründen, glaube ich. Einmal ist der Krieg so entsetzlich bequem. Die meisten Menschen haben ein träges Herz. Es ist für sie leichter zu töten, als zu erschaffen. Im Krieg wird alles Planen und Wirken unnötig. Es ist in doppeltem Sinn so grauenhaft einfach, sich »fallen zu lassen«. Dazu kommt, dass es dem machtlosen einzelnen Menschen auf unklare Art schmeichelt, wenn er sich dunklen Mächten zum Fraß vorgeworfen fühlt. Da spielt irgendein Erbteil aus weit vergangenen Vorzeiten mit. Ein abergläubiger, selbstvernichtender Spuk. Aber die Gespenster sterben, eines nach dem anderen. Weshalb nicht endlich auch dieses?

    Der Krieg – ein Element der Aktivität?

    Zum zweiten wird der Krieg als das Element der Aktivität, des Muts und der Jugend bezeichnet. Aber gerade dies ist eine schreckliche Täuschung, nicht unähnlich jener, die jahrtausendelang annahm, die Sonne drehe sich um die Erde.

    Genau bedacht ist der Krieg nämlich nicht ein Ergebnis des Muts, sondern der allgemeinen Feigheit. Denn es ist passiv, verzichtend und greisenhaft, das Leben gering zu achten und es leichtfertig aufzugeben. Wer lebend für das große, das herrliche, das einmalige Leben wirkt, ist ein Kämpfer. Wer es aufgibt, wer unnütz stirbt oder lässlich tötet, ist ein Verräter.

    Nicht der »Pazifist« ist ein Schwächling: der »Bellezist«, der Kriegsgläubige ist es!

    Der Kampf für den Frieden

    Es gilt, den Kampf für den Frieden als die wichtigste und edelste Aufgabe der Menschheit zu erkennen. Und: danach zu handeln!

    Wir müssen den Frieden endlich in einem neuen, tätigen, aktiven Sinn auffassen. Nicht der Krieg – der Friede ist der natürliche Zustand. Ewiger Friede ist kein blutloses Hirngespinst, kein blasser Traum; sondern ein gegenständliches Ziel, zum Greifen nahe, wenn wir nur wollen.

    Jede Forderung der Moral, jede Lehre der Ethik kann ihre Erfüllung nur im Frieden erhoffen. Und zwar nicht in jenem lässigen, zeitweisen und zufälligen Frieden, den wir bis heute so nennen. Nicht in den angstvollen Zwischenzeiten zwischen Kriegen. Sondern im erkämpften, dauernden, ewigen Frieden. Erst wenn er herrscht, werden wir erfahren, was er vermag.

    Der Mensch wird besser werden

    Der Mensch ist nicht gut, wie wir Illusionisten noch nach dem Ersten Weltkrieg glaubten. Aber es ist ihm eingeboren, besser werden zu wollen. Das ist das Geheimnis der Geschichte. Jede Ordnung in der Welt hat dieses Streben zur Voraussetzung. Sie bändigt den Egoismus des einzelnen, gewiss oft auch durch Furcht, tiefer aber noch durch Hoffnung. Durch die Hoffnung nämlich, dass die anarchische Gier nach Macht und Genuss sich dem hohen allgemeinen Sinn und Ziel unterordne: dem Leben.

    Daher wird es zur Pflicht jedes einzelnen, für den Frieden zu wirken. Er kann dafür sogar viel mehr tun, als alle Verbände, Bewegungen und Parteien zusammen. Er vermag es, darin höchste Klugheit und höchsten Mut zu beweisen. Der stürmische Tatendrang der Jugend findet hier seine schönsten Abenteuer. Die Kraft reifer Frauen und Männer wird hier ihre stolzesten Siege erringen. Die weise Erfahrung der Alten wird sich mit ihnen vereinen im glorreichen Kampf gegen den Tod und für das Leben. Wehrt sich nicht jedermann gegen Krankheit? Sucht nicht jeder, Unfällen zu entgehen?

    Der Krieg aber ist die schlimmste Krankheit und der furchtbarste Unfall, der uns treffen kann, in einem. Sollte das uralte Heldengeschlecht der Menschheit nicht endlich auch mit diesem Ur-Feind, diesem Lindwurm fertig werden, der uns den Weg zu höherer Vollendung versperrt?

    Die ganze Welt ist unsere Heimat

    Süß und ehrenvoll sei es, für das Vaterland zu sterben. So sagten einst die Römer. Dann wurde die halbe Welt ihr Vaterland. Heute ist die ganze Welt unsere Heimat. Noch ist uns das nur halb bewusst. Aber einmal, bald schon, wird jeder ganz davon durchdrungen sein und wissen: Süß und ehrenvoll ist es, für das tätige Dasein auf diesem Stern, unserem großen Heimatland, zu wirken und zu leben.

    Aktiver FriedenEssay von Axel Eggebrecht – Journalist und Schriftsteller


    Autor*in: Axel Eggebrecht

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      Der Friede muss erkämpft werden. Nichts wird uns Menschen geschenkt. Alles müssen wir strebend und kämpfend erringen, auch das Natürlichste. Selbst den Frieden, Ja, ihn erst recht, obwohl ein Verlangen danach uns eingeboren ist; obwohl er das Selbstverständliche zu sein scheint.

      Vittoriale degli Italiani - Gardasee - D'Annunzio

      Vittoriale degli Italiani – Museum Villa Park – Gabriele D’Annunzio
      Vittoriale degli Italiani 

      Vittoriale degli Italiani – Museum Villa Park – Gabriele D’Annunzio


      Das Museum »Vittoriale degli italiani« war einst das Anwesen des italienischen Schriftstellers und Dichters Gabriele D’Annunzio (1863-1938) und liegt im Ortsteil Gardone di Sopra von Gardone-Riviera am Gardasee.

      Der extravagante Künstler errichtete mit Hilfe des Architekten Giancarlo Maroni (1893-1952) ab 1921 auf dem Gelände der ehemaligen Villa Cargnacco des deutschen Kunsthistorikers Heinrich (Henry) Thode eine weitläufige Parkanlage. Das 9 Hektar große Gelände umfasst neben dem Wohnhaus viele weitere Sehenswürdigkeiten. Neben dem der Antike nachempfundenen Amphitheater sind hier insbesondere der doppelte Torbogen, die Nave Puglia, das Mausoleum und der so genannte »Kleine See der Tänze« zu nennen.

      Im Museum Prioria (Haus des Priors), gibt es besonders drei Räume zu besichtigen, die man auf jeden Fall zu Gesicht bekommen sollte, da diese allesamt mit alten und wertvollen Gegenständen angefüllt sind: das Blaue Bad, das Büro und das sogenannte Zimmer der Leprakranken.

      Die Gartenanlagen insgesamt sind ebenfalls sehr sehenswert, denn sie spiegeln D’Annunzios Hang zu weltlichen und schönen Dingen in der Natur wider. Viele Elemente sind römisch-etruskischer Herkunft oder stehen für einen antiken Stil, andere erscheinen der Renaissance, Romantik oder dem Jugendstil entlehnt. Vom Mausoleum und vom Amphitheater erhält der Besucher überdies einen wunderbaren Ausblicke auf den südlichen Teil des Gardasees.

      Eines ist gewiss: Wer bewusst wahrnimmt, erkennt den zeitlichen und intensiven Aufwand, den D’Annunzio mit der Gestaltung des Geländes unternahm. Den Garten, der den Beinahmen »il vittoriale« trägt, nutzte er für eine Reihe von Gedenksäulen und übertrug ihn schließlich durch eine Schenkungsurkunde dem „italienischen Volk“. Wer die Eindrücke der ganzen Anlage auf sich zukommen lässt, der kann mit Genuss durch die mit Naturstein Mauern umgrenzten Wege wandeln und verwinkelte, beinahe mystisch wirkende Plätze finden und genießen.

      Vittoriale degli Italiani – Museum Villa Park – Gabriele D’Annunzio - Gardasee - Garten

      Autor*in: Gabriele D'Annunzio

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        Das Museum »Vittoriale degli italiani« war einst das Anwesen des italienischen Schriftstellers und Dichters Gabriele D’Annunzio (1863-1938) und liegt im Ortsteil Gardone di Sopra von Gardone-Riviera am Gardasee.

        Der entflohene Vogel - Märchen aus Italien

        Der entflohene Vogel – Märchen aus Italien
        Der entflohene Vogel 

        Der entflohene Vogel – Märchen aus Italien 


        Es war einmal ein reicher Graf, der hatte einen wunderschönen Kanarienvogel, den liebte er so sehr, dass er einen eigenen Diener anstellte, welcher den Vogel pflegen und füttern musste und der vor allem darauf achten sollte, dass der Vogel nicht entwiche.

        Eines schönen Tages, in einem Augenblick, da der Diener gerade nicht aufpasste, war die Tür des Vogelkäfigs nicht ganz geschlossen: Der Kanarienvogel flatterte dagegen, so dass es sich öffnete, und entfloh. Der Diener wollte schier verzweifeln, denn er wusste genau, wie sehr sein Herr an dem Tier hing und wie sehr er ihm befohlen hatte, den Vogel ja nicht entfliehen zu lassen.

        Es war indessen nichts mehr zu ändern, und als der Graf kam und sah, dass der Kanarienvogel nicht mehr in seinem Käfig saß, befahl er sogleich, den Diener aus dem Schloss zu jagen. Da begann der Diener zu weinen, denn er wusste nicht, wie er seine Familie ernähren sollte. Er begann den Grafen um Verzeihung und Gnade für seinen Fehler zu bitten und schwur, dass er sich eine ähnliche Unterlassung nie mehr zuschulden kommen lassen werde.

        Da kämpften im Herzen des Grafen Zorn und Mitleid miteinander, und nach einer Weile sagte er: »Also gut, höre: wenn du mir bis morgen zwei Fragen beantworten kannst, dann sollst du im Schloss bleiben dürfen und deinen Dienst behalten. Kannst du mir jedoch keine Antwort bringen, so werde ich dich schlechterdings hinauswerfen lassen.« Da sprach der Diener: »Mein Herr, erzähle mir, was du willst, und ich will alles getreu erfüllen.«

        »Schön, du musst mir bis morgen ausmessen, wie weit es von hier bis zum Himmel ist, und dann sollst du mir noch Antwort geben, aus wie vielen Steinen mein Schloss gebaut ist!« Der Diener versprach, die Antwort auf diese schwierigen Fragen zu suchen, und während ihm der Mut sank, ging er aus dem Palast hinaus.

        Als er so weinend die Straße entlang schritt, begegnete ihm ein alter Freund und Gefährte, der fragte ihn nach der Ursache seiner Trübsal. Da erzählte ihm der Diener alles, was sich zugetragen hatte. »Ist das alles? Und deshalb bist du so verzweifelt?« fragte ihn sein alter Freund.

        »Wenn es nicht mehr ist! Da kann ich dir leicht helfen und raten. Wenn du morgen zum Grafen gehst, dann wickle eine Spule Schnur um deine Hand und sage, so weit sei es bis zum Himmel hinauf! Und wenn er dich fragt, aus wie viel Steinen sein Palast gebaut sei, dann sage, aus zwei Millionen Steinen!«

        Und er gab ihm noch einige Ratschläge, so dass der Diener getröstet nach Hause gehen konnte. Am nächsten Morgen begab sich der Diener zufrieden und seiner Sache sicher in den Palast und vor den Grafen. »Nun«, fragte ihn dieser, »hast du getan, was ich dir befohlen hatte?«

        »Ja, Herr, und hier ist die Antwort!« Dabei zeigte der Diener die Schnur, die er um die Hand geschlungen hatte. »So weit ist es von hier bis zum Himmel.«

        »Das ist nicht wahr«, schrie der Graf, »das kann unmöglich stimmen.«

        »Dann laufe bitte zum Himmel hinauf und nimm dieses Ende der Schnur mit, mein Graf!« bat der Diener. »Ich will die Schnur abwickeln, und du wirst sehen, dass die Entfernung stimmt.« Der Graf dachte nach und sprach: »Nicht schlecht, du kannst recht haben. Aber nun antworte mir auf die andere Frage: Aus wie viel Steinen ist mein Palast gebaut?«

        »Mein Graf, der Palast ist aus zwei Millionen Steinen gebaut.«

        »Oh, das ist nicht wahr, das kann absolut nicht wahr sein!« schrie der Graf. »Doch, doch«, entgegnete der Diener, »es stimmt ganz genau, ich habe alle Steine gezählt, und wenn du mir nicht glaubst, dann bitte: gehe hin und zähle nach! Du wirst sehen: meine Rechnung stimmt!«

        Da bewunderte der Graf die Klugheit seines Dieners und die Schlagfertigkeit seiner Antworten, und befahl, dass der Diener nicht nur in seinem Palast und in seinem Dienst bleiben solle, sondern er ließ ihm überdies eine beträchtliche Summe Geldes auszahlen. Der Diener aber verließ glücklich den Palast und eilte zu seinem Freund, um das Geld mit diesem zu teilen.

        Der entflohene Vogel – Der Graf und die zwei Fragen – Märchen aus Italien

        Autor*in: Märchen aus Italien

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          Es war einmal ein reicher Graf, der hatte einen wunderschönen Kanarienvogel, den liebte er so sehr, dass er einen eigenen Diener anstellte, welcher den Vogel pflegen und füttern musste und der vor allem darauf achten sollte, dass der Vogel nicht entwiche.

          Die Seereisenden - Aesop Fabel - Schicksal

          Die Seereisenden – Aesop Fabel – Schicksal
          Die Seereisenden 

          Die Seereisenden – Aesop Fabel – Schicksal


          Einmal stiegen im alten Griechenland Männer in ein Boot und fuhren los. Als sie sich aber auf hoher See befanden, geschah es, dass plötzlich ein großer Sturm aufkam und das Schiff beinahe untergegangen wäre.

          Einer der Reisenden war während des ganzen Geschehens außer sich vor Angst, rief die Götter seiner Heimat an und versprach ihnen unter Wehklagen und Jammern Opfergaben darzubringen, sobald er und die übrigen Reisenden gerettet worden wären.

          Als der Sturm dann endlich aufgehört hatte und das Meer wieder ruhig geworden war, veranstalteten er und seine Mitreisenden am Zielort ein großes Festmahl, tanzten und waren sehr ausgelassen, da sie wider Erwarten mit dem Leben davongekommen waren.

          Nur der Steuermann war ernsten Sinnes und ergriff das Wort und sagte zu den Feiernden: »Freunde, es ist schön, dass ihr euch freut und ausgelassen seid, aber freut euch nur so weit, als ob zu jeder Zeit auch wieder ein Sturm aufkommen könnte.«

          Lehre: Sicher ist nur, dass nie aller Tage Abend ist.


          Die Seereisenden – Aesop FabelLeben und Schicksal

          Autor*in: Aesop

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            Einmal stiegen im alten Griechenland Männer in ein Boot und fuhren los. Als sie sich aber auf hoher See befanden, geschah es, dass plötzlich ein großer Sturm aufkam und das Schiff beinahe untergegangen wäre.

            Die Nachtigall singt - Wolfgang Borchert

            Die Nachtigall singt – Wolfgang Borchert – Krieg
            Die Nachtigall singt 

            Die Nachtigall singt – Wolfgang Borchert – Krieg 


            Wir stehen barfuß im Hemd in der Nacht und sie singt. Herr Hinsch ist krank, Herr Hinsch hat den Husten. Er hat sich im Winter die Lunge verdorben, weil das Fenster nicht dicht war. Herr Hinsch wird wohl sterben. Manchmal dann regnet es. Das ist der Flieder. Der fällt violett von den Zweigen und riecht wie die Mädchen. Nur Herr Hinsch, der riecht das nicht mehr. Herr Hinsch hat den Husten.

            Die Nachtigall singt. Und Herr Hinsch wird wohl sterben. Wir stehen barfuß im Hemd und wir hören ihn. Das ganze Haus ist voll von dem Husten. Aber die Nachtigall singt die ganze Welt voll. Und Herr Hinsch wird den Winter nicht los aus der Lunge. Der Flieder, der fällt violett von den Zweigen. Die Nachtigall singt. Herr Hinsch hat einen sommersüßen Tod voll Nacht und Nachtigall und violettem Fliederregen.

            Timm hatte nicht solchen Sommertod. Timm starb den einsam eisigen Wintertod. Als ich Timm ablösen wollte, da war sein Gesicht sehr gelblich im Schnee. Es war gelb. Das kam nicht vom Mond, denn der war nicht da. Doch Timm war wie Lehm in der Nacht. So gelb wie der Lehm in den nasskalten Kuhlen der Vorstadt zu Hause. Da haben wir früher gespielt und Männer aus dem Lehm gemacht. Aber ich habe nie gedacht, dass Timm auch aus Lehm sein könnte.

            Als Timm auf Posten ging, wollte er den Stahlhelm nicht mithaben. Ich fühle die Nacht ganz gern, sagte er. Sie müssen den Helm mitnehmen, sagte der Unteroffizier, kann immer mal was passieren und ich bin dann der Dumme. Ich bin nachher der Dumme. Da sah Timm den Unteroffizier an. Und er sah durch ihn durch bis ans Ende der Welt. Dann hielt Timm eine von seinen Weltreden:

            Die Dummen sind wir sowieso, sagte Timm an der Tür, wir alle Mann sind sowieso die Dummen. Wir haben den Schnaps und den Jazz und die Stahlhelme und die Mädchen, die Häuser und die chinesische Mauer und Lampen – alles das haben wir. Aber wir haben es aus Angst. Gegen die Angst haben wir das. Aber die Dummen bleiben wir immer.

            Wir lassen uns aus Angst photographieren und machen Kinder aus Angst und aus Angst wühlen wir uns in die Mädchen, immer in die Mädchen, und die Dochte stecken wir aus Angst in das Öl und lassen sie brennen. Aber die Dummen bleiben wir doch. Alles das tun wir aus Angst und gegen die Angst. Und die Stahlhelme haben wir auch nur aus Angst. Aber helfen tut uns das alles nicht.

            Gerade wenn wir bei einem seidenen Unterrock oder einem Nachtigallengestöhn unser Leben vergessen, dann erwischt sie uns. Dann hustet sie irgendwo. Und dann hilft uns kein Stahlhelm, wenn die Angst uns erwischt. Dann hilft uns kein Haus und kein Mädchen, kein Schnaps und kein Stahlhelm.

            Das war eine von Timms großen Reden, von den Weltreden, die er hielt. Die hielt er an die ganze Welt und dabei waren wir nur sieben Mann im Bunker. Und die meisten schliefen, wenn Timm seine Weltreden hielt. Dann ging er auf Posten, der Weltredner Timm. Und die andern, die schnarchten. Sein Stahlhelm lag auf seinem Platz. Und der Unteroffizier behauptete nochmal: Ich bin der Dumme, ich bin nachher der Dumme, wenn was passiert. Und dann schlief er.

            Als ich Timm ablöste, war sein Gesicht sehr gelb im Schnee. So gelb wie der Lehm in den Kuhlen der Vorstadt. Und der Schnee war widerlich weiß.

            Ich habe nie gedacht, dass du aus Lehm sein könntest, Timm, sagte ich. Deine großen Reden sind kurz, aber sie gehen bis ans Ende der Welt. Was du so sagst, lässt einen den Lehm ganz vergessen. Deine Reden sind immer enorm, Timm. Es sind richtige Weltreden.

            Aber Timm sagte nichts. Sein gelbes Gesicht sah nicht gut aus im nachtweißen Schnee. Der Schnee war widerlich blass. Timm schläft, dachte ich. Wer so groß über die Angst reden kann, der kann auch hier schlafen, wo die Gegner im Wald sind. Timm stand in dem Schneeloch und hatte sein gelbes Gesicht aufs Gewehr gelegt.

            Steh auf, Timm, sagte ich. Timm stand nicht auf und sein gelbes Gesicht sah fremd aus im Schnee. Da drückte ich Timm mit dem Stiefel gegen die Backe. Am Stiefel war Schnee. Der blieb an der Backe. Der Stiefel drückte eine kleine Kuhle in die Backe. Und die kleine Kuhle, die blieb.

            Da sah ich, dass Timms Hand um das Gewehr lag. Und der Zeigefinger war noch krumm. Ich stand eine Stunde im Schnee. Ich stand eine Stunde bei Timm. Dann sagte ich zu dem toten Timm: Du hast recht, Timm, es hilft uns alles nicht.

            Kein Mädchen, kein Kreuz und keine Nachtigall, Timm, und selbst nicht der fallende Flieder, Timm. Denn auch Herr Hinsch, der die Nachtigall hört und den Flieder noch riecht, der muss sterben. Und die Nachtigall singt. Und sie singt nur für sich. Und Herr Hinsch, der stirbt ganz für sich. Der Nachtigall ist das egal. Die Nachtigall singt.

            Ob die Nachtigall auch nur aus Lehm ist? So wie du, Timm?

            Die Nachtigall singt – Wolfgang Borchert – Krieg Tod und Leben

            Autor*in: Wolfgang Borchert

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              Wir stehen barfuß im Hemd in der Nacht und sie singt. Herr Hinsch ist krank, Herr Hinsch hat den Husten. Er hat sich im Winter die Lunge verdorben, weil das Fenster nicht dicht war. Herr Hinsch wird wohl sterben. Manchmal dann regnet es. Das ist der Flieder. Der fällt violett von den Zweigen und riecht wie die Mädchen. Nur Herr Hinsch, der riecht das nicht mehr. Herr Hinsch hat den Husten.

              Der Riese Prokrustes und die Gerechtigkeit

              Der Riese Prokrustes und die Gerechtigkeit – Friedrich Dürrenmatt
              Der Riese Prokrustes und die Gerechtigkeit 

              Der Riese Prokrustes und die Gerechtigkeit – Friedrich Dürrenmatt


              Im Landstrich Korydallos lebten ebenso viele Riesen wie normal gewachsene Menschen, wobei es naturgemäß dazu kam, dass die großgewachsenen Menschen, die Riesen also, die kleineren Menschen unterjochten. Da Korydallos in der Nähe Attikas liegt, wehte aus Athen ein Hauch von Vernunft herüber und inspirierte den Riesen Polypemon, der ein besonders großer Riese, ein Gigant war, zum Nachdenken.

              Wochenlang lief er grübelnd in der Gegend herum, die Ungleichheit der Menschen beschäftigte ihn. Darauf nannte er sich Prokrustes, der Strecker, und baute zwei Betten, eines für die Riesen und eines für die Nicht-Riesen. In das Bett für Nicht-Riesen legte er die Riesen und hackte ihnen die Beine ab, so dass die Riesen ins Bett für Nicht-Riesen passten, und die Nicht-Riesen legte er in das Bett für Riesen und streckte sie, bis sie diesem Bett entsprachen.

              Pallas Athene, von deren Atem der Hauch der Vernunft bis Korydallos geweht war, fühlte sich verantwortlich und begab sich zu Prokrustes. Sie fragte ihn, was er da treibe. »Ich handle gemäß deiner Vernunft, Göttin«, antwortete der Gigant, »deren Anhauch mein Denken in Bewegung gesetzt hat.

              Ich begann, mir über die Ungleichheit der Menschen Gedanken zu machen. Sie ist ungerecht. Ich erkannte allmählich, dass die Gerechtigkeit verlangt, dass alle Menschen gleich sind. Das ist vernünftig. Nun gibt es in Korydallos Riesen und Nicht-Riesen, wobei die Riesen die Nicht-Riesen unterjochen. Die Menschen hier sind also in zweifacher Weise ungleich: in ihrem Wesen und in ihrem Tun. Das ist unvernünftig.

              Nun hätte ich die Riesen allein zu Nicht-Riesen machen können, indem ich ihnen die Beine abgeschlagen hätte, aber damit hätte ich wiederum ein neues Unrecht geschaffen: Krüppel-Nicht-Riesen und Nicht-Riesen, wobei nun diese die zu Krüppeln gewordenen Riesen unterjocht hätten. Auch unvernünftig. Gehe ich aber gegen die Nicht-Riesen vor, zerre ich sie zu Krüppel-Riesen auseinander, schaffe ich eine neue Ungleichheit: als Krüppel-Riesen sind sie ebenso den Riesen ausgeliefert, wie sie es als Nicht-Riesen waren. Wieder unvernünftig.

              Darum gibt es nur eine Möglichkeit für mich, die Gerechtigkeit, die Gleichheit aller Menschen herzustellen: Die Riesen haben das Recht, Nicht-Riesen, und die Nicht-Riesen das Recht, Riesen zu sein. Danach handle ich. Den Riesen hacke ich die Beine ab, sie werden so klein wie die Nicht-Riesen, die Nicht-Riesen strecke ich zur Größe der Riesen aus. Dass durch diese Operation – überleben sie sie – beide zu Krüppeln werden, macht beide gleich, und sterben sie infolge der Operation, sind sie einander auch gleich, macht doch der Tod alle gleich. Ist das nicht vernünftig?«

              Kopfschüttelnd kehrte Pallas Athene nach Athen zurück. Die Argumentation des Prokrustes hatte ihr die Sprache verschlagen. Es war das erste Mal, dass sie als Göttin eine ideologische Rede vernommen hatte, und sie fand keine Entgegnung. Prokrustes, durch das Schweigen der Göttin von der Richtigkeit seiner Deduktionen überzeugt, folterte weiter. Denen, die er folterte, erklärte er immer wieder, es geschehe im Namen der Gerechtigkeit: Der Riese habe nun einmal das Recht, ein Nicht-Riese zu sein und umgekehrt.

              Der Landstrich Korydallos wurde zur Hölle, erfüllt vom Schreien der Gemarterten, das in ganz Griechenland zu hören war. Die Götter hielten sich verlegen die Ohren zu. Sie fanden auf die Argumentation des Prokrustes auch keine Antwort. Besonders die Flüche waren grässlich zu hören. So stellten sie schließlich den Ton des Fernsehers ab – als Götter waren sie technisch den Menschen weit voraus -, um die Gebete und die Hilferufe, aber auch das Geschrei und die Flüche aus Korydallos nicht mehr zu hören; wobei sie freilich vom Rest der Erde auch nichts mehr hörten; aber was machte das schon, sie griffen ohnehin nicht mehr in die Geschichte ein.

              Und so verfluchten denn die Riesen und Nicht-Riesen den Prokrustes, während er sie folterte, und die Krüppel-Riesen und die Krüppel-Nicht-Riesen verfluchten ihn; ja sogar aus den Gräbern derer, welche die grausame Prozedur nicht überstanden hatten, ertönten Flüche. Weil aber Prokrustes, der sich als Wohltäter fühlte und überhaupt ein sensibler Gigant war, nicht begriff, warum er verflucht wurde, dachte er, es liege vielleicht an seiner Methode. Daher schaffte er für seine Betten besonders gute Matratzen an.

              Dann, als die Korydallier weiterheulten und fluchten, versuchte er, die Gefolterten auf eine andere Weise zu beschwichtigen, waren sie doch offenbar nicht von der göttlichen Vernunft erleuchtet wie er. So redete Prokrustes auf seine Opfer ein, es sei heldenhaft, in dem für sie bestimmten Bett zu leiden, sei es doch aus Hölzern gefertigt, die alle im Land wachsen würden – eine nicht minder irrationale, jetzt aber patriotische Begründung seiner Folterungen.

              Und wirklich, einige Riesen und einige Nicht-Riesen legten sich jetzt freiwillig hin. Überhaupt nahm das Fluchen mit der Zeit ab. Wie der Mensch für seine Taten Begründungen erfindet, erfindet er auch für seine Leiden Trost. Einige Krüppel-Riesen und Krüppel-Nicht-Riesen redeten sich ein, sie seien für eine bessere Zukunft gefoltert worden; wenigstens ihre Nachkommen würden nicht mehr gefoltert werden, weil die Riesinnen mit der Zeit durch die evolutionäre Anpassung Krüppel-Nicht-Riesen und die Nicht-Riesinnen Krüppel-Riesen gebären würden, so dass Prokrustes überhaupt nicht mehr zu foltern brauche.

              Andere freuten sich gar darauf zu sterben, da es, wie sie hofften, im Jenseits keine Folter mehr gebe. Die Irrationalität der Folterungen und ihrer Begründungen trieb die Gefolterten, um die Folter zu ertragen, ebenso ins Irrationale. Nur einige wenige der gefolterten Riesen und Nicht-Riesen beharrten darauf, das Folterbett und die Folter seien ein Unsinn. Diese hasste Prokrustes am meisten, war er doch empört darüber, dass sie nicht einsehen wollten, dass er nicht aus Lust folterte, sondern aus geschichtlicher Notwendigkeit.

              Er glaubte mit der Zeit, da er, um das Stöhnen und Schreien nicht mehr zu hören, sich immer neue Begründungen seiner Folterei ausgedacht hatte, die Geschichte könne nur einen Sinn haben, wenn sie fortschreite, und dieser Fortschritt bestehe darin, dass sie immer gerechter werde, und gerechter werde die Geschichte nur, wenn sie sich von der Ungleichheit der Menschen zu deren Gleichheit hin entwickle.

              Als aber der junge Theseus von Troizen nach Athen wanderte, um dort, als Sohn des Aigeus, König zu werden, weshalb er die Politik von einem praktikablen Gesichtspunkt aus neu überdachte, kam er auch nach Korydallos. Theseus hörte sich verwundert die Ideologie des Prokrustes an.

              »Du musst zugeben, dass ich vernünftig handle«, sagte Prokrustes stolz, »selbst Pallas Athene wusste mir nichts zu erwidern.« —

              »Du handelst ebenso unvernünftig wie Pityokamptes, der Tannenbieger, der die Wanderer zerreißt, indem er sie an die Spitzen zweier nieder gebogener Tannen bindet und diese dann zurückschnellen lässt«, antwortete Theseus. »Der einzige Unterschied zwischen Pityokamptes und dir besteht darin, dass jener sich nicht einbildet, er müsse im Namen der Gerechtigkeit die Menschen zerreißen. Er tut es aus reiner Lust an der Grausamkeit.«

              »Pityokamptes ist mein Sohn«, sagte Prokrustes nachdenklich. — »Ich habe ihn getötet«, gestand Theseus ruhig.

              »Du hast gerecht gehandelt«, meinte Prokrustes nach langem Nachdenken, »auch wenn Pityokamptes mein Sohn war. Aus reiner Lust an der Grausamkeit darf man nicht töten.«

              Doch als Prokrustes Theseus dankbar die Hand schütteln wollte, warf dieser den Giganten mit einer solchen Wucht auf das kleinere Bett, dass die Erde erzitterte. »Du Narr«, sagte er und hielt Prokrustes, der ihn mit großen Augen verwundert anstarrte, nieder. »Allzu wenig bist du vom Hauch der Vernunft gestreift worden. Die Menschen sind nicht gleich, gäbe es doch sonst keine Riesen und keine Nicht-Riesen, sondern nur Riesen oder nur Nicht-Riesen.

              Und weil die Menschen nicht gleich sind, die einen größer, die anderen kleiner, hat jeder Riese das Recht, ein Riese, und jeder Nicht-Riese das Recht, ein Nicht-Riese zu sein. Gleich sind beide nur vor dem Gesetz. Hättest du dieses Gesetz eingeführt und verhütet, dass die Riesen die Nicht-Riesen unterjocht hätten, oder, was auch der Fall hätte sein können, dass die Riesen von den Nicht-Riesen missbraucht worden wären, so hättest du deinen Korydalliern die unsinnige Folter erspart.«

              Und damit schlug Theseus dem Prokrustes zuerst die Beine und, weil dieser ja als Gigant ein besonders großer Riese war, auch den Kopf ab, der noch im Hinunterkugeln murmelte: »Ich bin doch nur gerecht gewesen.« Und dann sagte der Kopf noch, als er auf seinem Halsstummel zu stehen kam, bevor er seine großen Außen schloss: »Ich habe keinem Menschen jemals etwas zuleide getan.«

              Dann wanderte Theseus nach Athen weiter zu seinem Vater Aigeus. Leider war Theseus nicht nur ein Held, sondern auch vergesslich. So hatte er schon bei Prokrustes vergessen, dass er nicht nur dessen Sohn Pityokamptes getötet, sondern auch dessen Enkelin Perigune geschwängert hatte. Er vergaß einfach alles. Sein Taschentuch war voller Knoten, es nützte nichts.

              Als er von Kreta heimkehrte, vergaß er auf der Insel Naxos Ariadne, die ihn aus dem Labyrinth gerettet hatte, und dann vergaß er, das weiße Segel aufzuziehen, so dass sich sein Vater ins Meer stürzte, weil er glaubte, Theseus sein im Labyrinth vom Minotaurus getötet worden. Dann wurde Theseus König.

              Leider hatte er auch seine kluge Rede an Prokrustes vergessen: Nicht dass er ein besonders schlechter König gewesen wäre – er zählt in der Skala der Könige zu den eher besseren -, aber unter ihm waren dennoch nicht alle gleich vor dem Gesetz, sondern einige gleicher als andere.

              Dazu kam, dass Theseus auch als Ehemann vergesslich war: Seine Liebschaften, schreibt Robert von Ranke-Graves, brachten die Athener so häufig in Verlegenheit, dass sie erst Generationen nach seinem Tod seine wahre Bedeutung erkannten.

              Der Riese Prokrustes und die Gerechtigkeit - Novelle Friedrich Dürrenmatt 

              Autor*in: Friedrich Dürrenmatt

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                Im Landstrich Korydallos lebten ebenso viele Riesen wie normal gewachsene Menschen, wobei es naturgemäß dazu kam, dass die großgewachsenen Menschen, die Riesen also, die kleineren Menschen unterjochten. Da Korydallos in der Nähe Attikas liegt, wehte aus Athen ein Hauch von Vernunft herüber und inspirierte den Riesen Polypemon, der ein besonders großer Riese, ein Gigant war, zum Nachdenken.

                Luciano Pavarotti - Tenor Gesang Lied

                Luciano Pavarotti - Tenor Gesang Lied - Opernsänger
                Luciano Pavarotti 

                Luciano Pavarotti
                - Tenor Gesang Lied - Opernsänger 


                Viele sagen, Luciano Pavarotti war der größte Opernsänger seit Caruso. Der mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnete Tenor brachte die Oper in viele Stadien und Konzertsäle.

                Im Jahr 1961 debütierte Pavarotti als Rodolfo, die männliche Hauptrolle in Puccinis “La Bohèhme”. Am 17. Februar 1972 verzückte er das Publikum der New Yorker Metropolitan Opera bei der Aufführung der Donizetti-Oper “La Fille du Régiment” mit neun entspannt und natürlich gesungenen hohen Cs.

                Sein Markenzeichen aber war “Nessun Dorma“, die Arie aus Puccinis “Turandot”, die ihm Weltruhm einbrachte. Außerdem ist er durch Duette mit großen Pop- und Rocksängern und die Konzerte der “Drei Tenöre” (mit José Carreras und Placido Domingo) sehr bekannt geworden.

                Luciano Pavarotti – Größter Opernsänger seit Caruso – Tenor - Musik

                Autor*in: Aventin

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                  Viele sagen, Luciano Pavarotti war der größte Opernsänger seit Caruso. Der mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnete Tenor brachte die Oper in viele Stadien und Konzertsäle. Im Jahr 1961 debütierte Pavarotti als Rodolfo, die männliche Hauptrolle in Puccinis “La Bohèhme”.

                  Die Quelle der Weisheit - Märchen

                  Die Quelle der Weisheit – Wahrheit und Erkenntnis – Märchen
                  Die Quelle der Weisheit 

                  Die Quelle der Weisheit – Wahrheit und Erkenntnis – Märchen


                  Vor undenklichen Zeiten, als die Menschheit noch jung war, gab es einen Mann, der als sehr weise galt, denn es war ihm gelungen, sehr alt zu werden.

                  Das war damals wirklich etwas Besonderes. Er hatte alle giftigen Pflanzen gekannt, sich von keinem wilden Tier fressen lassen und war mit allen seinen Feinden fertig geworden.

                  In seinen jungen Jahren hatte er eine gute Frau gefunden und sechs stattliche Kinder aufgezogen. Jeden Tag war er hinaus gegangen, um den Wind und die Sterne zu beobachten, und so hatte er im Laufe seines Lebens gewaltige Dinge erkannt.

                  Nun war er, wie gesagt, alt und weise, und die Menschen kamen zu ihm, um sich von ihm einen Rat geben zu lassen. Da er so viel wusste, waren ihm viele Dinge überhaupt nicht wunderbar oder erstaunlich, sondern sie waren für ihn ganz selbstverständlich. So gab er meistens auch einen guten Rat, und die Leute verbreiteten seinen Ruhm in die ganze Welt.

                  Eines Tages, als er auf dem Weg zu dem Berg war, auf dem er immer nachdachte, sah er in der Ferne etwas auf dem Boden liegen. Er hielt sich die Hand über die Augen, denn er konnte schon eine Zeit lang nicht mehr recht gut sehen.

                  Doch nein, er irrte sich nicht, da lag etwas, das wie ein Kasten aussah. Rüstig schritt er darauf zu und hob es auf. Es war ein mächtiges Buch mit einer sonderlichen Schrift. Der alte Mann wunderte sich sehr und sah sich suchend um, wer es wohl hier hingelegt haben könnte. Da er aber niemanden sah, schickte er den Dank für seinen Fund in den Himmel und hoffte, von dort werde es wohl den Richtigen schon erreichen.

                  Oben auf dem Gipfel begann er sogleich in dem Buch zu lesen. Es machte ihm recht Mühe, die wunderliche Schrift zu entziffern, aber bald war ihm der Sinn ganz klar, und er ging wieder hinunter zu den Menschen und erzählte ihnen, was er gelesen hatte.

                  Und so hielt er es von nun an. Immer, wenn die Sonne sank, versammelten sich die Menschen ehrfurchtsvoll am Fuße des Berges und erwarteten ihren Weisen und seine heiligen Lehren, die er wieder mit herunterbringen würde. So ging es Tag für Tag, und die Menschen hielten die Lehren in Ehren und den alten Mann für heilig, weil er so viel göttliches Wissen zu bringen wusste.

                  So ging es lange Zeit, und als der alte Mann gestorben war, errichteten sie ihm ein mächtiges Grab. Sie weinten und klagten, denn nun war ihnen die Quelle der Weisheit verstummt, und das Buch konnten sie nirgends finden, denn der alte Mann hatte es vor unberufenen Händen auf dem Gipfel des Berges unter einem Stein verborgen. Dort hatte er es jeden Abend versteckt und am Morgen wieder hervor geholt. Als er ans Sterben kam, hatte er keine Kraft mehr, den Jüngeren genau zu erklären, wo sie das Buch finden konnten.

                  Die Menschen waren nun alle sehr traurig, denn sie hatten den weisen alten Mann nicht mehr und das Buch auch nicht. Aber sie hatten noch ihre Erinnerungen, und so erzählten sie ihren Kindern auch alles, was sie von dem alten Mann gehört hatten. Sie erzählten es ganz genau, und einer erzählte es dem anderen und der Vater dem Sohn und die Mutter der Tochter.

                  Der alte Mann hatte aber den Menschen ein Zeichen gemacht, dass sie auf dem Berg suchen sollten, obwohl er nicht mehr sprechen konnte in seiner zunehmenden Schwäche. Und so kam es, dass eine Gruppe tapferer Männer sich auf die Suche machte. Sie hatten sich nicht viel Zeit genommen, den weiteren Erzählungen zu lauschen, sondern stiegen rüstig auf den Berg des Alten.

                  Endlich, nach langer Zeit, gelangte einer an den Ort, wo das Buch verborgen war, und er hob es aus seinem Versteck. Erwartungsvoll schlug er es auf und war sehr verwundert und erstaunt ob der sonderlichen Schrift. Er las und las, aber, bis er den Sinn erkannt hatte, da war es auch schon Abend geworden, und er musste wieder zurück. Da besann er sich, ob er das Buch mit hinunternehmen oder wieder in seinem Versteck verbergen solle.

                  »Es wird genügen«, sagte er zu sich, »wenn ich den Menschen von dem glücklichen Fund erzähle und ihnen sage, was ich darin gelesen habe.« Und er machte sich unbeschwert an den Abstieg.

                  Daheim erzählte er, dass er das Buch entdeckt habe und berichtete, was er darin geschrieben fand. Da aber lachten alle über ihn und riefen ihre ältesten Lehrer herbei, dass sie dem Entdecker sagten, was wirklich in dem Buch geschrieben stand, was sie so getreulich alle gelernt und gelehrt hatten. Das klang nun allerdings ganz anders, und es gab einige, die ihren Lehrern glaubten und andere, die dem glaubten, der den Berg erstiegen und selbst in dem Buch gelesen hatte.

                  Dann stieg ein Dritter hinauf, der den Streit schlichten wollte, der nun ausgebrochen war, und als er an die Stelle kam, an der der Alte vor Zeiten das Buch gefunden hatte, sah er auf dem Weg etwas wunderbar funkeln. Er bückte sich und hob einen merkwürdigen runden weißen Stein auf, der in der Sonne glitzerte und funkelte und ganz durchsichtig war.

                  Als er ihn andächtig auf seine Hand legte und betrachtet, konnte er sich vor Staunen nicht fassen, denn er sah eine Landschaft mit Furchen und Rinnen, die alle hellbraun waren und nirgends Wasser führten. Lange konnte er sich das Wunder nicht erklären, aber er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle Fragen zuvor zu beantworten, ehe er seinen Weg fortsetzte und Neues entdeckte.

                  So blieb er stehen, wo er war und schob den Stein in seiner Hand hin und her und überlegte, wie er wohl hinter das Geheimnis mit der braunen Landschaft kommen könne. Da bemerkte er, dass es ja seine eigene Hand war, die er durch den Stein erblickte, nur viel größer, viel genauer und schärfer als mit seinen beiden Augen.

                  Froh, das Geheimnis des wunderbaren Steins entdeckt zu haben, sah er sich suchend um, wer dieses wundervolle Stück wohl hier hingelegt haben mochte. Da er aber niemanden sah, schickte er den Dank für seinen Fund in den Himmel und hoffte, von dort werde er wohl den Richtigen schon erreichen.

                  Erfreut und zufrieden, dass er das Problem gelöst hatte, steckte er den Stein sorgfältig in die Tasche und setzte seinen Weg fort. Als er nun an den Ort gelangte, wo das Buch verborgen war, zog er es hervor und begann darin zu lesen. Auch er fand die Zeichen recht wunderlich, und was ihn am meisten irritierte, war der Umstand, dass er weder die Stelle finden konnte, von der der alte Mann immer erzählt hatte, noch jene, die der Bergsteiger vor ihm gelesen hatte! Welche Seite er auch aufschlug, er bekam stets eine andere Wahrheit zu Gesicht.

                  Wieder hielt er inne und dachte nach. Er vergrub die Hände in den Taschen, denn es war kalt auf der Höhe. Dabei stieß er in der Tasche gegen den Stein, den er auf dem Weg gefunden hatte und noch immer bei sich trug. Sogleich erinnerte er sich an dessen Eigenschaft, alles zu klären, was er bedeckte.

                  Er zog den Stein hervor und legte ihn auf die wunderliche Schrift, mitten auf der Seite, die er gerade aufgeschlagen hatte. Da war mit einem Mal die Schrift überhaupt nicht mehr wunderlich und undeutlich, sondern klar und rein lag die Wahrheit vor ihm, und er erkannte sie deutlich. Das war der Schlüssel, und da er nun alles lesen konnte, wurde ihm auch der ganze Sinn der Schrift offenbar.

                  »Wahrlich«, sagte er laut über die Felsen des Gipfels hin, »solange wir nicht den wundervollen Stein haben, der alles Kleine vergrößert und alles Große wie einen kleinen Käfer zwischen die Zeilen führt und zu lesen lehrt, solange werden wir nicht wissen, was Wahrheit ist und werden sie nicht kennen, solange wir auch nach ihr suchen.«

                  Die Quelle der Weisheit – Wahrheit und Erkenntnis - Märchen zum Nachdenken

                  Autor*in: N. N.

                  Bewertung des Redakteurs:

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                    Vor undenklichen Zeiten, als die Menschheit noch jung war, gab es einen Mann, der als sehr weise galt, denn es war ihm gelungen, sehr alt zu werden. Das war damals wirklich etwas Besonderes. Er hatte alle giftigen Pflanzen gekannt, sich von keinem wilden Tier fressen lassen und war mit allen seinen Feinden fertig geworden.