November 2019 | AVENTIN Blog --

Mensch und metaphysisches Leben

Mensch und metaphysisches Leben – R.M.F – Alltagspsychologie
Mensch und metaphysisches Leben 

Mensch und metaphysisches Leben – R.M.F – Alltagspsychologie 


Wir schauen zurück auf den Weg, den wir bisher durchwandert haben. Den Menschen wollten wir verstehen, jenes hypothetische Urwesen, das gleichsam in allen Einzelmenschen darinsteckt, und, was wir fanden, war, dass man, um den Menschen zu verstehen, weit mehr kennen muss als ihn selbst, dass er verständlich wird nur, indem wir seine Beziehungen kennen lernen zu seiner Mit- und Umwelt, zur Vergangenheit und zur Zukunft, mag diese auch noch so blass in seinen Träumen und Gedanken verdämmern.

Aber der Mensch, das sahen wir, ist stets mehr als er selbst. Einerlei, ob wir uns von der leiblichen Seite oder von der Bewusstseinsseite ihm nahen, stets ist sein Leben ein Inbeziehungstehen zu Tatbeständen, die außer ihm sind, und nur fiktiverweise dürfen wir ihn isolieren. Er ist nur eine Ausprägung einer metaphysischen Macht, die sich zwar individualisiert ihn ihm, aber selbst überindividueller Natur ist: des Lebens.

Den Menschen verstehen heißt das Leben verstehen, das Leben, das sich in mannigfache, oft heftig sich befehdende Richtungen spaltet und dennoch als Einheit begriffen werden muss.

Wir werden noch nicht an dieser Stelle unserem Gast aus Utopien, der Aufschluss von uns heischte über Sinn und Ziel unseres Tuns und Treibens, Antwort stehen. Wir müssen, um das zu können, den Wegen des Lebens, seinen Wandlungen und Spaltungen weit eingehender nachpürschen, und nur ein Anfang ist gemacht, indem wir das Leben des Menschen in seine sieben Grundrichtungen zerlegten, indem wir die Mittel nannten, mit denen er zur Außenwelt in Beziehung zu treten vermag, indem wir ein wenig hineinleuchteten in die dunklen Untergründe, die unter unserem Bewusstsein am Werk sind, unser Leben zu leiten.

Aber eins dürfte doch jetzt schon deutlich geworden sein: es ist mehr als eine Wortlösung, wenn wir die tausendfältigen Formen menschlichen Wollens und Fühlens, Vorstellens und Denkens zurückzuführen suchten auf den Begriff des Lebens, der sich uns in seinen sieben Urrichtungen leiblich wie seelisch offenbarte.

Hier haben wir jenen Urbegriff, von dem aus uns alle Einzelformen verständlich werden, hier stehen wir bei den »Müttern« des Daseins, zu denen Faust hinab stieg, um den Schlüssel zu erhalten, und dieser Schlüssel, der die Probleme des Lebens löst, ist eben der Begriff des Lebens selbst.

Vielleicht mag es manchem als graue Theorie und leerer Schematismus erscheinen, dass wir die bunte bewegte Menschenwelt gleichsam in eine einzige große Kelter werfen, um eine abstrakte Formel daraus zu pressen, die einen letzten, gemeinsamen Sinn der vielfältigen Strebungen enthüllen soll.

Und doch heißt »erklären« im tieferen Sinne stets: das Einheitliche im Vielfachen zu sehen, eine treffende Formel finden, die es gestattet, die Mannigfaltigkeit zu bändigen und zu beherrschen. Ob eine solche Formel »Theorie« bestehen bleibt, hängt ab von der Art, wie sie in die Praxis übergeführt wird. Eine solche Formel kann richtig sein, selbst wenn sie für keinen Einzelfall völlig zutrifft, wie die Gesetze der Physiker richtig sind, selbst wenn niemals ein Stein genau 4,91 Meter in der Sekunde fällt, oder niemals das Licht genau 300 Millionen Kilometer in der Sekunde zurücklegt.

Und wie die Lehre der Kristallographie wertvoll ist, dass Salz als Würfel, Alaun als Oktaeder, Granat vielfach im Rhombendodekaeder kristallisierten, gesetzt selbst, dass niemals ein Salzkristall im mathematischen Sinne ein Würfel, nie ein Alaunkristall ein exakter Oktaeder gewesen ist, so kann es wertvoll sein, einen schematischen Durchschnittsmenschen zu beschreiben, auch wenn dieses Grundschema nur in höchst mannigfachen Variationen und Komplikationen vorkommt; denn wir werden zu zeigen versuchen, dass das Verständnis aller Abweichungen doch nur von der Basis dieses allgemeinen Schemas aus gewonnen werden kann, und dass die scheinbare Schemata der Schlüssel ist für tausend Einzelprobleme des Alltagsdaseins. Das muss unsere weitere Darlegung zeigen.

Schon jetzt aber sind einige Erkenntnisse gewonnen, die verbreiteten Meinungen entgegenstehen, und die ich noch einmal betone, weil sie Voraussetzung sind für alles Künftige. Weder vom Leib aus noch vom Bewusstsein aus allein lässt sich das Wesen des Menschen erklären, sondern nur von jener sie beide hervor treibenden und doch beide weit übergreifenden metaphysischen Macht; dem Leben.

Weder der Leib noch das Bewusstsein sind der Sinn des Lebens, sondern sie sind dienende Instanzen für dieses überindividuelle Leben, das sie aufbaut und zerstört, um sich selbst zu erhalten und fortzustürmen zu neuen Formen, deren Reihe sich unseren Blicken im Unendlichen verliert. Und wenn sich das Bewusstsein vom Dienst des Lebens zu emanzipieren strebt, wenn es als »Geist« oder als »Lust« selbst Sinn des Lebens zu werden strebt, so ist selbst das verwurzelt im Lebensbegriff, und dieser wird nicht widerlegt durch die Übertreibungen und Pervertierungen, in die zuweilen der Strom des Lebens abirrt.

Mensch und metaphysisches Leben – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie

Autor*in: R.M.F

Bewertung des Redakteurs:

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    Wir schauen zurück auf den Weg, den wir bisher durchwandert haben. Den Menschen wollten wir verstehen, jenes hypothetische Urwesen, das gleichsam in allen Einzelmenschen darinsteckt, und, was wir fanden, war, dass man, um den Menschen zu verstehen, weit mehr kennen muss als ihn selbst, dass er verständlich wird nur, indem wir seine Beziehungen kennen lernen zu seiner Mit- und Umwelt, zur Vergangenheit und zur Zukunft, mag diese auch noch so blass in seinen Träumen und Gedanken verdämmern.

    Gespräch über den Dächern

    Gespräch über den Dächern – Novelle von Wolfgang Borchert
    Gespräch über den Dächern 

    Gespräch über den Dächern – Novelle von Wolfgang Borchert 


    Für Bernhard Meyer-Marwitz 


    Draußen steht die Stadt. In den Straßen stehen die Lampen und passen auf, dass nichts passiert. In den Straßen stehen die Linden und die Mülleimer und die Mädchen, und ihr Geruch ist der Geruch der Nacht; schwer, bitter, süß. Schmaler Rauch steht steil über den blanken Dächern. Der Regen hat zu trommeln aufgehört und hat sich davongemacht.

    Aber die Dächer sind noch blank von ihm und die Sterne liegen weiß auf den dunkelnassen Ziegeln. Manchmal ragt ein Katzengestöhn brünstig bis an den Mond. Oder ein Menschenweinen. In den Parks und den Gärten der Vorstädte steht der bleichsüchtige Nebel auf und spiralt sich durch die Straßen. Eine Lokomotive schluchzt ihren Fernwehschrei tief in die Träume der tausend Schläfer. Unendliche Fenster sind da. Nachts sind diese unendlichen Fenster. Und die Dächer sind blank, seit der Regen entfloh.

    Draußen steht die Stadt. Ein Haus steht in der Stadt, stumm, steinern, grau wie die anderen. Und ein Zimmer ist in dem Haus. Ein Zimmer, eng, kalkig, zufällig, wie die anderen auch. Und in dem Zimmer sind zwei Männer. Einer ist blond und sein Atem geht weich und das Leben geht wie sein Atem weich in ihn hinein, aus ihm heraus. Seine Beine liegen schwer wie Bäume auf dem Teppich, und der Stuhl, auf dem er sitzt, knackt verstohlen im Gefüge.

    Und einer steht am Fenster. Lang, hoch, gekrümmt, schrägschultrig. Seine Schläfenknochen, der Rand seines Ohres, schwimmen weißgrau und mehlig im Zimmer. Im Auge blinkt vage das Licht von der Lampe im Hof. Aber der Hof, das ist draußen und die Lampe glimmt sparsam. Ein Atem geht am Fenster auf und ab wie eine Säge. Manchmal beschlägt das Fensterglas mit einem duffen warmen Hauch von diesem Atem. Eine Stimme ist da am Fenster wie von einem Amokläufer, panisch, atemlos, gehetzt, übertrieben, erregt.

    »Siehst du das nicht? Siehst du nicht, dass wir ausgeliefert sind. Ausgeliefert an das Ferne, an das Unaussprechliche, an das Ungewisse, das Dunkle? Fühlst du nicht, dass wir ausgeliefert sind an das Gelächter, an die Trauer und die Tränen, an das Gebrüll.

    Du, das ist furchtbar, wenn das Gelächter in uns aufstößt und schwillt, das Gelächter über uns selbst. Wenn wir an den Gräbern unserer Väter und Freunde und unserer Frauen stehen und das Gelächter steht auf. Das Gelächter in der Welt, das den Schmerz belauert. Das Gelächter, das die Trauer anfällt, in uns, wenn wir weinen. Und wir sind ihm ausgeliefert.

    Furchtbar ist es, du, oh, furchtbar, wenn die Trauer uns anweht und die Tränen durch die Ritzen sickern, wenn wir an den Wiegen unserer Kinder stehen. Furchtbar, wenn wir an den bräutlichen Betten stehen, und die Trauer, die schwarzlakige Lemure, kriecht in uns hoch, eisig einsam. Steht auf in uns, wenn wir lachen, und wir sind ihr ausgeliefert.

    Weißt du das nicht? Weißt du nicht, wie furchtbar das Gebrüll ist, das anwächst in der Welt, voll Angst wächst in der Welt, das in dir hochkommt und brüllt. Brüllt in der Stille der Nacht, brüllt in der Stille der Liebe, brüllt in der stummen Einsamkeit. Und das Gebrüll heißt: Spott! Heißt: Gott! Heißt: Leben! Heißt: Angst. Und wir sind ihm ausgeliefert mit all unserm Blut in uns.

    Wir lachen. Und unser Tod ist geplant von Anfang an. Wir lachen. Und unsere Verwesung ist unausweichlich. Wir lachen. Und unser Untergang steht bevor. Heute abend. Übermorgen. In neuntausend Jahren. Immer.

    Wir lachen, aber unser Leben ist dem Zufall vorgeworfen, ausgeliefert, unvermeidlich. Dem Zufälligen, begreifst du? Was fällt in der Welt, kann auf dich fallen und dich erdrücken oder stehenlassen. Wie der Zufall zufällig fällt. Und wir: ausgeliefert ihm, vorgeworfen zum Fraß.

    Dabei lachen wir. Stehen dabei und lachen. Und unser Leben, unsere Liebe und unser geliebtes gelebtes Leid – sie sind ungewiss und zufällig wie die Welle und der Wind. Willkürlich. Begreifst du? Begreifst du!«

    Aber der andere schweigt. Und der am Fenster krächzt wieder: »Und dann wir hier in der Stadt, tief drinnen in diesem einsamsten der Wälder, tief unter diesem erdrückendsten Steinberg, in dieser Stadt, in der uns keine Stimme anspricht, in der uns kein Ohr gehört und kein Auge begegnet.

    In dieser Stadt, in der die Gesichter ohne Gesicht an uns vorüber schwimmen, namenlos, zahllos, wahllos. Ohne Anteil, herzlos. Ohne Bleibe, ohne Anfang, ohne Hafen. Algen. Algen im Strom der Zeit. Algen, grün, grau, gelb, dunkelweiß aus der Tiefe auftauchend, spurlos wieder hinabtauchend in die Wasser der Welt: Algen, Gesichter, Menschen.

    In dieser Stadt, wir hier, heimatlos, ohne Baum, ohne Vogel, ohne Fisch: vereinsamt, verloren, untergegangen. Ausgeliefert, verloren an ein Meer von Mauern, an ein Meer von Mörtel, Staub und Zement. Den Treppen, den Tapeten, den Türmen und Türen vorgeworfen. Wir hier in der Stadt, mit unserer unheilbaren unheilvollen Liebe verkauft an sie.

    Verlaufen im einsamen Wald Stadt, im Wald aus Wänden, Fassaden, Eisen, Beton und Laternen. Verlaufen auf diese Welt, ohne Herkunft, ohne Zuhause. Verschenkt an die antwortlose einsame Nacht in den Straßen. Ausgeliefert an den millionengesichtigen Tag mit seinem millionenstimmigen Gebrüll, ausgeliefert mit unserem wehrlosen weichen Stück Herzen. Ausgeliefert mit unserem unüberlegten Mut und unseren kleinen Begriffen.

    An das Pflaster gekettet, an die Steine, an den Teer und die Siele, Pontons und Kanäle mit jedem Pulsschlag, mit unseren Nasen, Augen und Ohren. Ohne Ziel für eine Flucht. Unter Dächer gedrückt, den Kellern, den Decken, den Stuben ausgeliefert. Hörst du das? Du, das sind wir und so ist das mit uns. Und du glaubst, du hältst das aus bis morgen, bis Weihnachten, bis zum März?«

    Der Amokläufer klirrt mit seiner blechernen Stimme tief in das dunkel gewordene Zimmer hinein. Aber der Blonde atmet weich und sicher, und er nimmt die Lippen zu keiner Antwort voneinander. Und der am Fenster sticht mit seiner Stimme weiter in die Stille des späten Abends, unbarmherzig, gequält, gezwungen.

    »Wir halten das aus. Wie findest du das, wie? Wir halten das aus. Wir lachen. Ausgeliefert den Bestien in uns und um uns, lachen wir. Oh, und wie wir den Frauen, unseren Frauen, verfallen sind. Den gemalten Lippen, den Wimpern, dem Hals, dem Geruch ihres Fleisches verfallen. Vergessen im Spiel ihrer Sehnsüchte, untergegangen im Zauber ihrer Zärtlichkeiten, lächeln wir.

    Und die Trennung hockt frierend und grinsend auf den Türdrückern, tickt in den Uhrwerken. Wir lächeln, als wären uns Ewigkeiten gewiß, und der Abschied, alle Abschiede, warten schon in uns. Alle Tode tragen wir in uns. Im Rückenmark. In der Lunge. Im Herzen. In der Leber. Im Blut. Überall tragen wir unseren Tod mit uns herum und vergessen uns und ihn im Schauer einer Liebkosung. Oder weil eine Hand so schmal und eine Haut so hell ist. Und der Tod, und der Tod, und der Tod lacht über unser Gestöhn und Gestammel!«

    Der am Fenster hat mit seinem Panikatem alle Luft in dem Zimmer verschlungen, heruntergewürgt, und als heiße heisere Worte wieder ausgestoßen. Es ist keine Luft mehr in dem Zimmer, und er stößt das Fenster weit auf. Die Chitinpanzer der Nachtinsekten klickern erregt und knisternd gegen das Glas. Etwas rasselt vorbei, halblaut. Es quietscht verstohlen, als wenn eine Frau aus einem lauten Lachen ein kleines Kichern macht.

    »Enten.« Sagt weich und rund der im Zimmer. Und er hält sich noch einen Augenblick fest an seinem Wort, als der am Fenster sich wieder über ihn ausschüttet:

    »Hast du gehört, wie sie kichern, die Enten? Alles lacht über uns. Die Enten, die Frauen, die ungeölten Türen. Überall lauert das Gelächter. Oh, dass es dieses Gelächter gibt in der Welt! Und die Trauer gibt es und den Gott Zufall. Und es gibt das Gebrüll, das riesenmäulige Gebrüll! Und wir haben den Mut: Und wohnen. Und wir haben den Mut: Und planen. Und lachen. Und lieben. Wir leben! Wir leben, leben ohne Tod, und unser Tod war beschlossen von Anfang an.

    Abgemacht. Von vornherein. Aber wir sind mutig, wir Todtragenden: Wir machen Kinder, wir fahren, wir schlafen. Jede Minute, die war, ist unwiederbringlich. Unübersehbar jede, die kommt. Aber wir Mutigen, wir Untergangsgezeichneten: Wir schwimmen, wir fliegen, wir gehen über Straßen und Brücken. Und über die Planken der Schiffe schwanken wir – und unser Untergang, hörst du, unser Untergang feixt hinter der Reling, lauert unter den Autos, knistert in den Pfeilern der Brücken. Unser Untergang, unabwendbar.

    Und wir, Zweibeiner, Leute, Menschtiere, mit unserm bisschen roten Saft, mit unserm bisschen Wärme und Knochen und Fleisch und Muskel – wir halten das aus. Unsere Verwesung ist beschlossen, unbestechlich, und: Wir pflanzen. Unser Verfall kündigt sich an, unwiderruflich, und: Wir bauen. Unser Verschwinden, unsere Auflösung, unser Nichtsein ist gewiss, ist notiert, unauslöschlich – unser Nicht-mehr-hier-Sein steht unmittelbar bevor, und: Wir sind. Wir sind noch. Wir haben den unfassbaren Mut: Und sind.

    Und der Zufall, der unberechenbare verspielte Gott über uns, der Zufall, der grausame gewaltige Zufall balanciert betrunken auf den Dächern der Welt. Und unter den Dächern sind wir Sorglosen mit unserem unfassbaren Glauben.

    Ein paar Gramm Gehirn versagen, zwei Gramm Rückenmark meutern: und wir sind lahm. Wir sind blöd. Steif. Elend. Aber wir lachen.

    Ein paar Herzschläge kommen nicht: Und wir bleiben ohne Erwachen, ohne Morgen. Aber wir schlafen – zuversichtlich. Tief und tierisch getrost.

    Ein Muskel, ein Nerv, eine Sehne setzt aus: Wir stürzen. Abgrundtief, endlos. Aber wir fahren, wir fliegen und schwanken breitspurig auf den Planken der Schiffe.

    Dass wir so sind – was ist das, du? Dass wir so sein können, dass wir so sein müssen – keine Lippe gibt das frei. Ohne Lösung, ohne Grund, ohne Gestalt ist das. Dunkel. Und wir? Wir sind. Sind dennoch, immer noch. Oh, du – wir sind immer noch. Immer noch, du, immer noch.«

    Die beiden Männer in dem Zimmer atmen. Weich und ruhig der eine, rasselnd und hastig der am Fenster. Draußen steht die Stadt. Der Mond schwimmt wie ein schmutziges Eigelb in der bickbeerblauen Suppe des Nachthimmels. Er sieht faulig aus und man hat das Gefühl, er müsse stinken. So krank sieht der Mond aus.

    Aber der Gestank kommt aus den Kanälen. Aus den klotzigen klobigen Würfelmassen des Häusermeeres mit den Millionen von glasigen Augen im Dunkel. Aber der Mond sieht ungesund aus, dass man glauben kann, der Geruch käme von ihm. Doch dazu ist er wohl zu weit ab und es werden die Kanäle sein.

    Ja, die Kanäle sind es, die grauschwarzen Blöcke der Häuser, die blauschwarzen blanken Autos, die gelben blechernen Straßenbahnen, die dunklen russroten Güterzüge, die lila Löcher der Siele, die nassgrünen Gräber, die Liebe, die Angst – die sind es, die die Nacht so voll Geruch machen. Der Mond kann es wohl doch nicht sein, obgleich er so faulig und kränklich, so entzündet und breiig im asternfarbenen Himmel schwimmt. Viel zu gelb im asternfarbenen violetten Himmel.

    Der am Fenster, der Heisere, Hastige, Hagere, der sieht diesen Mond, und er sieht die Stadt unter dem Mond und er streckt seine Arme aus dem Fenster hinaus und greift diese Stadt. Und seine Stimme kratzt durch die Nacht wie eine Feile:

    »Und dann diese Stadt!« kratzt die Stimme vom Fenster her, »und dann diese Stadt. Das sind wir, Gummireifen, Apfelschale, Papier, Glas, Puder, Stein, Staub, Straße, Häuser, Hafen: Alles sind wir. Überall wir. Wir selbst: Erdrückende brennende kalte erhebende Stadt. Wir, wir allein sind diese Stadt. Wir ganz allein, ohne Gott, ohne Gnade, wir sind die Stadt.

    Und wir halten das aus in der Stadt, und in uns und um uns zu sein. Wir halten das aus, Hafen zu sein. Wir halten die Ausreisen und Ankünfte aus, wir Hafenstädter. Wir halten das Unbegreifliche aus: In den Nächten zu sein! In diesen Hafennächten, wo das Grellbunte und das Toddunkel Arm in Arm gehen.

    In diesen Stadtnächten, die voll zerrissener seidiger Wäsche und voll warmer Mädchenhaut sind. Wir ertragen diese Alleinnächte, die Sturmnächte, die Fiebernächte und die karusselligen Schnapsnächte, die gegrölten, aushöhlenden. Wir ertragen diese Rauschnächte über vollgeschriebenem Papier und unter blutenden Mündern. Wir halten sie aus. Hörst du, wir kommen durch, wir überleben das.

    Und die Liebe, die blutfarbene Liebe, ist in den Nächten. Und sie tut weh, manchmal. Und sie lügt, immer, die Liebe: Aber wir lieben mit allem, was wir haben.

    Und das Grauen, die Angst, die Verzweiflung, die Ausweglosigkeit sind in den schmerzvollen Nächten – an unseren schnapsnassen Tischen, vor unseren blühenden Betten, neben unseren liedübergrölten Straßen. Aber wir lachen. Wir leben mit allem, was wir können. Und mit allem, was wir sind.

    Und wir Ungläubigen, wir Belogenen, Getretenen, Ratlosen und Aufgegebenen, wir von Gott und dem Guten und der Liebe Enttäuschten, wir Bitterwissenden: Wir, wir warten jede Nacht auf die Sonne. Wir warten bei jeder Lüge wieder auf die Wahrheit. Wir glauben an jeden neuen Schwur in der Nacht, wir Nächtigen. Wir glauben an den März, glauben an ihn mitten im November.

    Wir glauben an unseren Leib, an diese Maschine, an ihr Morgen-noch-Sein, an ihr Morgen-noch-Funktionieren. Wir glauben an die heiße hitzige Sonne im Schneesturm. An das Leben glauben wir, wir: mitten im Tod. Das sind wir, wir Illusionslosen mit den großen unmöglichen Rosinen im Kopf.

    Wir leben ohne Gott, ohne Bleibe im Raum, ohne Versprechen, ohne Gewissheit – ausgeliefert, vorgeworfen, verloren. Weglos stehen wir im Nebel, ohne Gesicht im Strom der Nasen, Ohren und Augen. Ohne Echo stehen wir in der Nacht, ohne Mast und Planke im Wind, ohne Fenster, ohne Tür für uns. Mondlos, sternlos im Dunkel, mit armseligen schwindsüchtigen Laternen betrogen.

    Ohne Antwort sind wir. Ohne Ja. Ohne Heimat und Hand, herzlos, umdüstert. Ausgeliefert an das Dunkel, an den Nebel, an den unerbittlichen Tag und an die türlose, fensterlose Finsternis. Ausgeliefert sind wir an das In-uns und das Um-uns. Unentrinnbar, ausweglos. Und wir lachen. Wir glauben an den Morgen. Aber wir kennen ihn nicht. Wir vertrauen, wir bauen auf den Morgen. Aber keiner hat ihn uns versprochen. Wir rufen, wir flehen, wir brüllen nach morgen. Und keiner gibt uns Antwort.»

    Die hagere hohe gekrümmte Chimäre am Fenster trommelt gegen das Glas:

    »Da! Da! Da! Da! Die Stadt. Die Lampen. Die Weiber. Der Mond. Der Hafen. Die Katzen. Die Nacht. Reiß das Fenster auf, schrei hinaus, schrei, schwöre, schluchze hinaus, brüll dich hinaus mit allem was dich quält und verbrennt: keine Antwort. Bete! keine Antwort. Fluche! – keine Antwort. Schrei aus deinem Fenster dein Leid hinaus in die Welt: keine Antwort. Oh nein, keine keine Antwort!«

    Draußen steht die Stadt. Draußen steht die Nacht in den Straßen mit ihrem Mädchen- und Mülleimergeruch. Und das Haus steht in den Straßen der Stadt, das Haus mit dem Zimmer und den Männern. Das Zimmer mit den zwei Männern.

    Und einer steht am Fenster, und der hat sich hineingeschrien in die Zimmerdämmerung auf den Freund zu. Lang und schmal ist er aufgeflackert, spukheiser, von fernher, schrägschultrig, verzehrend, verheerend, hingerissen. Und seine Schläfen sind blauweich und nassblank wie draußen die Dächer unterm Mond. Und der andere ist tief in der Geborgenheit des Zimmers. Breit, blond, blass und bärenstimmig. Er lehnt sich an die Wand, von der Chimäre am Fenster überwältigt, übergossen. Aber dann greift seine weiche runde Stimme nach dem Freund am Fenster:

    »Warum hängst du dich um Gottes und der Welt willen nicht auf, du hoffnungslose wahnwitzige dürre glimmende Latte, du? Ratte du! Griesgrämige, rotznäsige Ratte! Du alles zu Mehl mahlender Holzwurm. Du mahnender tickender Totenwurm. In Petroleum sollte man dich stecken, du stinkender Lappen. Häng dich auf, du blödsinniges besoffenes Bündel Mensch. Warum hängst du noch nicht, du verlassenes, verlorenes, aufgegebenes Stück Leben, wie?«

    Seine Stimme ist voll Sorge und ist gut und warm in all seinen Flüchen.

    Aber der Lange hetzt vom Fenster her seinen hölzernen Ton, sein rauhes rissiges Organ, zu dem Sprecher an der Wand. Das Rauhe, Rissige springt den an der Wand an, verlacht ihn, überrascht ihn:

    »Aufhängen? Ich? Ich und aufhängen, mein Gott! Hast du nicht begriffen, nie begriffen, dass ich dieses Leben doch liebe? Mein Gott, und ich an die Laterne!

    Auslöffeln, aussaufen, auslecken, auskosten, ausquetschen will ich dieses herrliche heiße sinnlose tolle unverständliche Leben! Das soll ich versäumen? Ich? Aufhängen? Mich? Du, du sagst, ich soll an die Laterne? Ich? Du sagst das?«

    Der blasse blonde Mann, der ruhig an der Wand lehnt, rollt seine runde Stimme zurück zu dem am Fenster:

    »Aber Junge, Mensch, Mann: Warum lebst du denn?«

    Und der Hagere hustet heiser dagegen:

    »Warum? Warum ich lebe? Vielleicht aus Trotz? Aus purem Trotz. Aus Trotz lache ich und esse ich und schlafe ich und wache ich wieder auf. Nur aus Trotz. Aus Trotz setze ich Kinder in diese Welt, in diese Welt! Lüge ich den Mädchen Liebe ins Herz und in die Hüften, und lass sie die Wahrheit fühlen, die erschreckende fürchterliche Wahrheit. Diese gräuliche blutlose hängebusige flachschenkelige verbrauchte Hure!

    Ein Schiff bauen, eine Schaufel brauchen, ein Buch machen, eine Lokomotive heizen, einen Schnaps brennen. Zum Trotz! Aus Trotz! Ja: Leben! Aber zum Trotz! Aufgeben, aufhängen: ich? Und morgen passiert es vielleicht, morgen kann es schon geschehen, jeden Moment kann es eintreffen.«

    Ganz leise krächzt der Dunkle jetzt, der vorm Fensterkreuz, allwissend nicht, aber alles ahnend. Und der Blonde im Zimmer, der Runde, Gesicherte, Nüchterne, fragt:

    »Was? Was passiert? Was soll eintreffen? Wer? Wo? Es ist noch nie etwas passiert, du, noch nie!«

    Und der andere antwortet:

    »Nein, nichts ist passiert. Nichts. Wir nagen noch immer an Knochen, hausen noch immer in Höhlen aus Holz und Stein. Nichts ist passiert. Nichts ist gekommen. Ich weiß. Aber: Kann es nicht jeden Tag kommen? Heute Abend? Übermorgen? An der nächsten Ecke kann es schon sein. Im nächsten Bett. Auf der anderen Seite. Denn einmal muss es doch kommen, das Unerwartete, Geahnte, Große, Neue. Das Abenteuer, das Geheimnis, die Lösung.

    Einmal kommt vielleicht eine Antwort. Und die, die soll ich versäumen? Nein, du, nein, nie! Nie und nie! Fühlst du nicht, dass irgend etwas kommen kann? Frag nicht: Was? Fühlst du das nicht, du? Ahnst du das nicht, dieses in dir? Außer dir? Denn es kommt, du, vielleicht ist es schon da. Irgendwo. Unerkannt. Heimlich. Vielleicht begreifen wir es heute Nacht, morgen am Mittag, nächste Woche, auf dem Sterbebett. Oder sind wir ohne Sinn? Ausgeliefert an das Gelächter in uns und über uns? An die Trauer, die Tränen und das Gebrüll der Ängste und Nächte.

    Ausgeliefert? Vielleicht? Vorgeworfen – vielleicht? Verloren – vielleicht? Sind wir ohne Antwort? Sind wir, wir selbst, diese Antwort? Oder, du, antworte. Sag das: Sind wir am Ende endlich selbst diese Antwort? Haben wir sie in uns, die Antwort, wie den Tod? Von Anfang an? Tragen wir Tod und Antwort in uns, du? Steht es bei uns, ob uns eine Antwort wird oder nicht? Sind wir zuletzt nur uns selbst ausgeliefert? Nur uns selbst? Sag mir das, du: Sind wir selbst die Antwort? Sind wir uns selbst, uns selbst ausgeliefert? Du? Du!«

    Mit zwei krummen dünnen riesigen Armen hält sich der Lange, das brennende Gespenst, der Dunkle, Heisere, Flüsternde, am Fensterkreuz. Der Blonde aber steckt seine runde satte Stimme tief zurück in seinen Bauch. Der Frager am Fenster hat sich mit seiner Frage selbst geantwortet. Der Atem von zwei Männern geht warm ineinander über. Ihr großer guter Geruch, der Geruch von Pferd, Tabak, Leder und Schweiß, füllt das Zimmer.

    Hoch oben an der Decke wird der Kalk Fleck um Fleck langsam heller. Draußen sind der Mond, die Lampen und die Sterne blass und arm geworden. Glanzlos, sinnlos, blind.

    Und draußen da steht die Stadt. Dumpf, dunkel, drohend. Die Stadt: Groß, grausam, gut. Die Stadt: Stumm, stolz, steinern, unsterblich.

    Und draußen, am Stadtrand, steht frostrein und durchsichtig der neue Morgen.

    Gespräch über den DächernNovelle von Wolfgang Borchert

    Autor*in: Wolfgang Borchert

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      Draußen steht die Stadt. In den Straßen stehen die Lampen und passen auf, dass nichts passiert. In den Straßen stehen die Linden und die Mülleimer und die Mädchen, und ihr Geruch ist der Geruch der Nacht; schwer, bitter, süß. Schmaler Rauch steht steil über den blanken Dächern. Der Regen hat zu trommeln aufgehört und hat sich davongemacht.

      Kleine Weisheiten - 6 - Sprüche

      Kleine Weisheiten | 6 – Sprüche und Zitate aus der ganzen Welt
      Kleine Weisheiten 

      Kleine Weisheiten | 6 – Sprüche und Zitate aus der ganzen Welt


      Jedes Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und eigene Aussichten.

      Ich kann, weil ich will, was ich muss.

      Wir kamen zu der Einsicht, dass es unsinnig ist, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Das Leben nämlich ist keine Antwort, denn das Leben ist die Frage und du selbst bist die Antwort.

      Wer ständig glücklich sein will, muss sich oft verändern.

      Die Träume von gestern werden manchmal die Wahrheiten von morgen.

      Kleine Weisheiten | 6 – Sprüche und Zitate aus der ganzen Welt

      Autor*in: Diverse

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        Wir kamen zu der Einsicht, dass es unsinnig ist, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Das Leben nämlich ist keine Antwort, denn das Leben ist die Frage und du selbst bist die Antwort. - Vergil -

        Tag und Nacht - Parabel - Rabbi Pinchas

        Tag und Nacht – Parabel – Rabbi Pinchas und sein Schüler
        Tag und Nacht 

        Tag und Nacht – Parabel – Rabbi Pinchas und sein Schüler 


        Rabbi Pinchas fragte einst seinen Schüler, ob er denn wisse, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt.

        »Es ist, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann», antwortete der Schüler.

        »Nein«, sagte Rabbi Pinchas.

        »Aber wann ist es dann?», fragte der Schüler erstaunt.

        »Es ist dann«, antwortete Rabbi Pinachs, »wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin, ist die Nacht noch nicht vorüber.«

        Tag und Nacht – Rabbi Pinchas und sein SchülerParabel

        Autor*in: Rabbi Pinchas

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          Rabbi Pinchas fragte einst seinen Schüler, ob er denn wisse, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. »Es ist, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann», antwortete der Schüler. »Nein«, sagte Rabbi Pinchas...

          Semmeln und Fische - Fabel

          Semmeln und Fische – Fabel von Ludwig Bechstein
          Semmeln und Fische 

          Semmeln und Fische - Fabel von Ludwig Bechstein  


          Ein Hase und ein Fuchs zogen miteinander durch das Land. Es war Winterszeit, der Wind blies kalt, kein Gras grünte, und auf den schneebedeckten Feldern zeigte sich auch nicht die armseligste Maus.

          »Das ist ein trauriges Wetter«, sprach der Fuchs zum Hasen, »mir ist schon ganz schwach im Magen!«

          »Jawohl«, antwortete der Hase, »ich möchte auch am liebsten meine eigenen Löffel fressen, wenn sie mir ins Maul herabhängen würden.«

          Hungrig und trübsinnig trabten sie weiter. Da sahen sie von weitem ein Mädchen kommen, das einen Handkorb trug, und aus dem Korb kam dem Fuchs und dem Hasen ein sehr angenehmer Geruch von frischen Semmeln entgegen.

          »Weißt du was?« sprach der Fuchs. »Lege dich der Länge nach hin und stell dich tot! Das Mädchen wird seinen Korb aus den Händen legen und dich aufheben wollen, denn aus deinem Fell kann sie sich Handschuhe machen. Inzwischen packe ich den Korb mit den Semmeln und verschwinde einfach damit.«

          Dem Hasen gefiel der Rat des Fuchses gut, er ließ sich hinfallen und tat so, als wäre er tot. Der Fuchs duckte sich derweil hinter einer Schneewehe nieder. Das Mädchen kam, sah den Hasen, der alle viere von sich streckte, stellte den Korb hin und bückte sich nach dem Hasen.

          Jetzt schnellte der Fuchs hervor, schnappte den Korb und lief damit querfeldein davon. Gleich war der Hase auch wieder lebendig und rannte flugs seinem Begleiter nach. Dieser aber blieb nicht stehen und machte auch keine Miene, die Semmeln redlich teilen zu wollen, sondern ließ merken, dass er sie allein fressen wollte. Das verdross den Hasen sehr. Als sie nun in die Nähe eines kleinen Weihers kamen, rief der Hase dem Fuchs zu:

          »Wie wäre es, wenn wir uns noch eine Mahlzeit Fische zu den Semmeln verschafften? Wir hätten dann Fische und Weißbrot, wie die großen Herren! Hänge deinen Schwanz einfach ein wenig ins Wasser! Die Fisch, die jetzt auch nicht viel zu beißen haben, werden sich sicherlich massenhaft daranhängen. Beeil dich aber, sonst friert der Weiher noch zu!«

          Das leuchtete dem Fuchs ein, er ging zum Weiher hin, der eben zufrieren wollte, und ließ seinen Schwanz hineinhängen. Nach einer kleinen Weile aber war seine Lunte bereits fest angefroren. Da nahm der Hase den Semmelkorb, hockte sich vor den Fuchs hin und fraß die Semmeln ganz gemächlich, eine nach der anderen auf.

          Dann verspottete er auch noch den Fuchs: »Warte nur, bis es wieder auftaut, warte nur bis zum Frühjahr, warte nur!« und lief davon. Der Fuchs konnte ihm nur noch nachjaulen, wie ein böser Hund an der Kette.

          Lehre: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt am Ende selbst hinein.


          Semmeln und Fische – Fabel Ludwig Bechstein - Fuchs und Hase

          Autor*in: Ludwig Bechstein

          Bewertung des Redakteurs:

          URL: https://aventin.blogspot.com/2019/11/semmeln-und-fische.html

            Ein Hase und ein Fuchs zogen miteinander durch das Land. Es war Winterszeit, der Wind blies kalt, kein Gras grünte, und auf den schneebedeckten Feldern zeigte sich auch nicht die armseligste Maus. »Das ist ein trauriges Wetter«, sprach der Fuchs zum Hasen, »mir ist schon ganz schwach im Magen!«

            Zeitgeist und Leben - Immermann

            Zeitgeist und Leben – Karl L. Immermann
            Zeitgeist und Leben 

            Zeitgeist und Leben – Karl L. Immermann


            »Wir können nicht leugnen, dass über unsere Häupter eine gefährliche Epoche hereingebrochen ist. Unglücke haben die Menschen zu allen Zeiten erlebt. Der Fluch der gegenwärtigen Menschen ist aber, dass sie sich auch ohne besonderes Leid unglücklich fühlen.

            Ein ödes Wanken und Schwanken, ein lächerliches Sicherstellen und Zerstreutsein, ein Haschen, man weiß nicht, wonach? — eine Furcht vor Schrecknissen, die um so unheimlicher sind, da sie keine Gestalt haben! Es ist, als ob die Menschheit, in einem kleinen Boot auf einem gewaltigen Meer umher geworfen, an einer moralischen Seekrankheit leide, deren Ende abzusehen ist.

            Man muss zum Teil noch einer anderen Periode angehört haben, um den Gegensatz der beiden Zeiten ganz nachempfinden zu können. Unsere Tagesschwätzer sehen leider mit großer Verachtung auf jenen Zustand herab, wie er früher einmal war. Aber sie irren sich. Freilich wussten und agierten die Menschen damals nicht so vielerlei als jetzt. Auch waren die Kreise, in denen sie sich bewegten, kleiner, aber man war wesentlich mehr in seinem Kreis zu Hause als jetzt. Eine Sache wurde nämlich um der Sache willen voran getrieben. Damals argumentierte man zurecht: ‘Schuster bleib bei deinen Leisten’. Jetzt aber scheinen jedem Schuster die Leisten zu gering zu sein, woher es auch herrühren mag, dass kaum einem mehr ein Schuh bequem sitzt.

            Wir sind, um in einem Wort das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben scheint. Die großen Anstrengungen der vergangenen Zeiten, welche unsere Väter und Mütter von ihren Häusern und Hütten aus unternahmen, haben uns heute eine Menge an Schätzen beschert, welche nun auf den Markttischen liegen. Ohne sonderliche Anstrengung vermag heutzutage auch ein mit geringer Fähigkeit ausgestatteter Mensch, wenigsten die Scheidemünze, Kunst und Wissenschaft zu erwerben.

            Aber es geht oft mit geborgten Ideen wie mit geborgtem Geld, wenn mit fremdem Gut leichtfertig umgegangen wird, man wird ärmer dabei. Aus dieser Bereitwilligkeit der himmlischen Göttin gegen jeden Dummkopf ist ein ganz eigentümliches Wort entstanden. Man hat dieses Palladium der Menschheit, dieses Taufzeugnis unseres göttlichen Ursprungs, zur Lüge gemacht, man hat seine Jungfräulichkeit entehrt. Für den windigsten Schein, für die hohlsten Meinungen, für das leerste Herz findet man heutzutage überall und mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten und kräftigsten Redensarten. Das schlichte Wort ‘Überzeugung‘ ist aus der Mode gekommen, und man beliebt heutzutage von ‘Ansichten‘ zu reden. Aber damit sagt man größtenteils auch nur eine Unwahrheit, denn in der Regel hat man die Dinge, von denen man redet, nicht mal selbst angesehen und gibt nur vor, damit beschäftigt zu sein.«

            »Wie wahr! Wie recht Sie haben!« rief ein gewisser Herr Hermann, den Redner unterbrechend. Die Gedanken, welche vorgetragen wurden, hatten ihn nämlich in höchste Erregung versetzt.

            Der Redner indessen fuhr fort: »Ich muss gestehen, dass mich die Betrachtung der allgemeinen Schwätzerei oft der Verzweiflung nahe brachte, wenn rings um mich loses lockeres Plaudern zu vernehmen war und ich zum Beispiel Leute über Kunst reden hörte, die kalt an den Werken des Raffael vorübergehen würden, zeigte man ihnen diese, ohne den Namen des Meisters zu nennen. Wenn ich hörte, da habe wieder einmal einer, vom inneren Drang getrieben, ein Glaubensbekenntnis abgelegt, von dem ich recht wohl wusste, dass es mit den religiösen Bedürfnissen bei ihm eher betrüblich stand. Es war bekannt, dass er nur ein all zu leichter nachgiebiger Weltcharakter war. Und wenn Schneeflocken seiner politischen Gesinnung mir aus seinem Mund entgegen staubten, wusste ich, er würde nicht der kleinsten Aufopferung für ein Gemeinwesen fähig sein. Dann hatte ich Momente, in denen ich fast am Leben verzweifelt wäre!

            Ich betastete mich dann immer selbst und fragte: ‘Bist du nicht auch ein Schemen (Schatten), der Nachhall eines anderen selbständigen Geistes?’ Oft grub ich dann bis in die letzten Tiefen meiner Seele, und suchte nach der Affektiertheit, die, das wusste ich wohl, in irgendeinem verborgenen Winkel bei mir ebenfalls lauern musste. Ich sah ja vielleicht alles nur verfälscht, vom armseligen Journalisten und seinem Handlanger aus, die beide mit entwendetem Tiefsinn und geraubtem Scharfblick nur ihr trostloses Leben fristen und ihre winzige Persönlichkeit bemerkbar machen wollen, bis hinauf zur Staatsführung, der faselnde Minister allerlei unmögliche und undurchführbare Aktionen vor dem Volk in den Mund legen. Sollte ich denn allein eine Ausnahme sein?«

            »Sie sind vielleicht jemand!« rief der gewissen Herr Hermann wieder begeistert, dem Redner nun fest die Hand schüttelnd. »Wir leben in einer erbärmlichen Welt, und man möchte am liebsten mit Feuer und Schwert darein hauen!«

            »Das würde ich nicht tun wollen, da würden wir auch selber alle verzehrt werden. Nein, bei UNS müssen wir beginnen, und mit unserem Selbst den ersten Baustein zum Gebäude der neuen Zeit tragen.

            Legen wir deshalb stets gute Gesinnung in das Tun all unserer Handlungen!
            Sprechen wir nichts aus, als was wir auch wirklich gedacht haben!
            Seien wir wahrhaft mit jedem Atemzug unseres Lebens!

            Nach diesen drei Vorschriften prüfe man jeden Moment sein eigenes Dasein. Und wenn wir selbst auf solche Weise streng gegen uns selbst sind, dann steht uns auch die Befugnis zu, unerbittlich gegen Falschheit zu sein.

            »Antwortet mir!
            Seid ihr durchdrungen von dem, was ihr eben gelesen habt?
            Habt Ihr den Mut, den dornigen Weg zu gehen?«

            Zeitgeist und Leben – Karl L. Immermann - Essay

            Autor*in: Karl L. Immermann

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            URL: https://aventin.blogspot.com/2019/11/zeitgeist-und-leben.html

              »Wir können nicht leugnen, dass über unsere Häupter eine gefährliche Epoche hereingebrochen ist. Unglücke haben die Menschen zu allen Zeiten erlebt. Der Fluch der gegenwärtigen Menschen ist aber, dass sie sich auch ohne besonderes Leid unglücklich fühlen.

              Talent und Charakter - Erich Kästner

              Talent und Charakter – Erich Kästner – Idealismus Effizienz
              Talent und Charakter  

              Talent und Charakter – Erich Kästner – Idealismus Effizienz 


              Als ich ein kleiner Junge war – und dieser Zustand währte bei mir ziemlich lange -, glaubte ich allen Ernstes folgenden Unsinn: Jeder große Künstler müsse zugleich ein wertvoller Mensch sein. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass bedeutende Dichter, mitreißende Schauspieler, herrliche Musiker im Privatleben sehr wohl Hanswürste, Geizhälse, Lügner, eitle Affen und Feiglinge sein könnten.

              Die damaligen Lehrer taten noch das Ihre, diesen holden »Idealismus« wie einen Blumentopf fleißig zu begießen. Man lehrte uns zusätzlich die Weisheit des alten Sokrates, dass der Mensch nur gescheit und einsichtsvoll genug zu werden brauche, um automatisch tugendhaft zu werden. So bot sich mir schließlich ein prächtiges Panorama: Ich sah die Künstler, die gleichzeitig wertvolle Mensch und kluge Köpfe waren, ich sah sie dutzend-, ja tausendweise in edler Vollendung über die Erde wallen. Damals beschloss ich Schriftsteller zu werden.

              Später boten sich mir dann in reichem Maße vortreffliche Gelegenheiten, meinen schülerhaften Köhler- und Künstlerglauben gründlich zu revidieren. Es dauerte lange, bis ich den damit verbundenen Kummer überwunden hatte, und noch heute, gerade heute, bohrt er manchmal wieder, wie der Schmerz in einem Finger oder einer Zehe bohren soll, die längst amputiert worden sind.

              Als mich ihm Jahr 1934 der stellvertretende Präsident der Reichsschrifttumskammer, ein gewisser Doktor Wißmann, in sein Büro zitierte und sich erkundigte, ob ich Lust hätte, in die Schweiz überzusiedeln und dort, mit geheimen deutschen Staatsgeldern, eine Zeitschrift gegen die Emigranten zu gründen, merkte ich, dass er über den Zusammenhang von Talent und Charakter noch rigoroser dachte als ich. Er schien, durch seine Erfahrungen im Ministerium gewitzigt, geradezu der Ansicht zu sein, Talent und Charakter würden einander grundsätzlich ausschließen.

              Glücklicherweise hatte dieser goldene Parteigenosse nicht recht. Es gab und gibt immer begabte Leute, die trotzdem anständige Menschen sind. Nur eben, sie sind selten und seltener geworden. Die einen verschlang der erste Weltkrieg. Andere flohen ins Ausland, als Hitler Hindenburgs Thron bestieg. Andere blieben daheim und wurden totgeschlagen. Viele fraß der zweite Weltkrieg. Manche liegen noch heute, zu Asche verbrannt, unter den Trümmern ihrer Häuser. – Der Tod, der den Stahlhelm trägt und die Folterwerkzeuge schleppt, gerade dieser Tod hat eine feinschmeckerische Vorliebe für die aufrechten, begabten Menschen.

              Und nun, wo wir darangehen wollen und darangehen dürfen und darangehen müssen, neu aufzubauen, sehen wir, dass wir angetreten sind wie eine ehemals stattliche Kompanie, die sich, acht Leute stark, aus der Schlacht zurückmeldet.

              Aber wir bemerken noch etwas. Wir beobachten ZeitgenossenInnen, die der frommen Meinung sind, der Satz: »Es gibt Talente mit Charakter!« ließe sich abwandeln in einen anderen, ebenso schlüssigen Satz, welcher etwa lautet: »Aufrechte Menschen sind besonders talentiert!«

              Das wäre, wenn es häufig zutreffen würde, eine musterhafte, meisterhafte Fügung des Schicksals. Der Satz ist nur leider nicht wahr. Wer ihn glaubt, ist abergläubisch.

              Und dann gibt es einen weiteren gefährlichen Irrtum. Einen Irrtum, der, von vielen begangen, vielerlei verderben könnte, auch wenn man ihn gutgläubig begehen würde. Ich meine die Mutmaßung, gerade diejenigen, die mit eiserner Beharrlichkeit auf ihre besondere Eignung für wichtige Stellungen im Kulturleben hinweisen, seien tatsächlich besonders geeignet! Man darf solchen Leuten nicht unbedingt glauben. Sie täuschen sich womöglich in sich selber. So etwas kommt vor. Oder sie gehören zu den Gesinnungsrittern, die, wenn ein Krieg vorbei und verloren ist, immer noch klirrend ins Feld zu ziehen pflegen!

              Nicht so sehr ins Feld wie in die Vor- und Wartezimmer. Sie hocken auf den behördlichen Stühlen wie sattelfeste, hartgesottene Kavalleristen. Nicht jeder Künstler ist ein solcher Stuhl- und Kunstreiter. Gerade viele der Besten haben weder die Zeit noch die Neigung, Rekorde im Sich-Anbieten auszustellen. Es widert sie an, vor fremden Ohren ihr eigenes Loblied zu singen. Sie pfeifen aufs Singen und arbeiten lieber daheim als im Schaufenster. Das ist aller Ehren wert und dennoch grundfalsch und eine Sünde.

              Die weiße Weste soll für uns keine Ordenstracht sein und auch keine neue Parteiuniform, sondern eine Selbstverständlichkeit. So wenig wie die Qualität des Sitzfleisches ein Gesichtspunkt für die Verleihung verantwortlicher Stellungen sein darf, so wenig darf Heinrich Heines Hinweis unbeachtet bleiben, dass es auch unter braven Leuten schlechte Musikanten gibt. Denn schlechte Musikanten, und wenn sie noch so laut Trompete blasen, können wir nicht brauchen. Man soll ihnen meinetwegen die weiße Weste 2. Klasse oder die weiße Weste 1. Klasse verleihen, oder die weiße Weste mit Ökolaub, an einem weißen Ripsband um den Hals zu tragen! Das wird sie freuen und tut keinem weh.

              Aber mit wichtigen Schlüsselstellungen darf man ihre saubere Gesinnung und Haltung nicht belohnen. Für solche Späße ist die Zeit zu ernst. Nicht die Flinksten, nicht die Ehrgeizigsten, auch die nicht, die nichts als brav sind, sollen beim Aufbau kommandieren, sondern die Tüchtigsten! Menschen, die außer ihrer weißen Weste das andere, das Unerlernbare, besitzen: TALENT!

              Sie müssen ihr Zartgefühl überwinden. Erwürgen müssen sie’s. Vortreten müssen sie aus ihren Klausen. Aufspringen müssen sie von ihren Sofas. Hervorschieben müssen sie sich hinter ihren Öfen, in denen das selbstgeschlagene Holz behaglich knistert.

              Jetzt geht es wahrhaft um mehr als um privates Zartgefühl oder gar ums Nachmittagsschläfchen! Es ist Not am Menschen. Es geht darum, dass sich auf jedem Posten der tüchtigste Mensch befindet.

              Es geht darum, dass die tüchtigsten Menschen Posten stehen!

              Talent & Charakter – Erich Kästner – Idealismus Tüchtigkeit Effizienz - Essay

              Autor*in: Erich Kästner

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                Als ich ein kleiner Junge war – und dieser Zustand währte bei mir ziemlich lange -, glaubte ich allen Ernstes folgenden Unsinn: Jeder große Künstler müsse zugleich ein wertvoller Mensch sein. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass bedeutende Dichter, mitreißende Schauspieler, herrliche Musiker im Privatleben sehr wohl Hanswürste, Geizhälse, Lügner, eitle Affen und Feiglinge sein könnten.

                Imagination - Balthasar Gracian

                Imagination - Balthasar Gracian - Handorakel
                Imagination 

                Imagination - Balthasar Gracian - Handorakel 


                Imagination (Einbildungskraft) ist das Vermögen, bei wachem Bewusstsein mit geschlossenen Augen innere bzw. mentale Bilder wahrzunehmen. Das Entstehen dieser Bilder kann willentlich gefördert und auch modifiziert werden. 

                Daher ist es notwendig, die Einbildungskraft zu zügeln, wenn sie über das Ziel hinaus geht, bzw. ihr nachzuhelfen, wenn sie von Nutzen sein soll. Imagination vermag eigentlich alles. Sie entscheidet über unser Glück, beeinflusst unseren Verstand und ist entscheidend für unser Leben.

                Einbildungskraft kann aber auch tyrannische Gewalt erlangen. Sie begnügt sich dann nicht mehr mit nur einfacher Beschauung, sondern wird in hohem Maße aktiv bzw. tätig und bemächtigt sich zuweilen unseres ganzen Daseins. Sie vermittelt dann einen Zustand, welcher entweder mit großer Lust oder mit tiefer Traurigkeit erfüllt sein kann, je nachdem wie der betroffene Mensch mental beschaffen ist, auf den sie fiel.

                Auch kann Imagination aus den einen Menschen überaus selbstzufriedene und aus den anderen sehr oft unzufriedene Menschen machen. Sie spiegelt sich ebenso in eitlen Untätigkeiten oder beständigen Leiden wider. Schlimmstenfalls kann sie sogar letale Wirkung zeigen.

                Anderen Menschen wiederum hilft Imagination einen Zustand von Seligkeit und höchsten Glückszuständen zu erleben, mitunter mit leichtem Schwindeln des Kopfes. Alles dieses vermag die Einbildungskraft, wenn sie vom Menschen in unvernünftige oder vernünftige Bahnen gelenkt wird.

                Der Tor lässt die Einbildungskraft sinnlos walten, der vernünftige Mensch nutzt sie mit Verstand.

                Imagination - Balthasar Gracian - Handorakel - Weisheit


                Autor*in: Balthasar Gracian

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                  Imagination (Einbildungskraft) ist das Vermögen, bei wachem Bewusstsein mit geschlossenen Augen innere bzw. mentale Bilder wahrzunehmen. Das Entstehen dieser Bilder kann willentlich gefördert und auch modifiziert werden.

                  Verstand bringt Nutzen - Märchen

                  Verstand bringt Nutzen – Märchen – Südosteuropa
                  Verstand bringt Nutzen   

                  Verstand bringt Nutzen – Märchen – Südosteuropa   


                  Ein reicher Kaufmann hatte einen klugen und ungemein lernbegierigen Sohn, gestattete ihm aber aus Geiz nicht, sich mit den Wissenschaften oder gar den schönen Künsten zu befassen. Im Gegenteil, wenn er seinen Sohn zufällig einmal mit einem Buch oder einer Flöte in der Hand erblickte, geriet er außer sich vor Zorn. »Bücher bringen kein Brot!« schimpfte er. »Flöten schaffen keinen Reichtum! Arbeiten musst du, nichts als arbeiten, verstanden?«

                  Einmal wurde unweit der Stadt, in der sie wohnten, Markt gehalten. Soll der Junge zeigen, was in ihm steckt, beschloss der Kaufmann und schickte ihn zum Wareneinkauf hin. Doch der Sohn dachte nicht daran, Geschäfte zu machen, sondern ging geradewegs zu einem Schriftkundigen, den er bat, ihm lesen und schreiben beizubringen. Und da er begabt und fleißig war, lernte er es in wenigen Tagen. So kam er zwar mit leeren Händen nach Hause, aber klüger, als er fort gegangen war. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben?« schimpfte der Vater. »Wo sind die Waren? Hast du mein Geld zum Fenster hinausgeschmissen?«

                  »Ich habe keine Waren mitgebracht, Vater«, erwiderte der Sohn. »Doch ich habe nützliche Kenntnisse erworben, mit denen ich später alles kaufen kann, was dein Herz begehrt.«

                  »Ach, du Dummkopf!« schimpfte der Vater. »Kennst du nicht das Sprichwort: Bis das Gras gewachsen ist, verrecken alle Pferde.«

                  Ein Jahr verging, wieder wurde Markt gehalten. In der Hoffnung, dass der Sohn diesmal sein Vertrauen nicht enttäuschen würde, händigte der Kaufmann ihm viel Geld aus, versah ihn mit guten Lehren und schickte ihn fort. Aber der Sohn dachte wiederum nicht ans Geschäftemachen, sondern begab sich zu den fahrenden Musikanten und ließ sich ihre Künste beibringen. Er war so begabt und lernte so schnell, dass er in Kürze seine Lehrer überflügelte, und kehrte dann, ohne Waren eingekauft zu haben, wieder nach Hause zurück. Als sein Vater das sah, wurde er grün und blau vor Wut und schimpfte, was das Zeug hielt. Er hätte seinen Sohn wohl windelweich geschlagen, wenn die Mutter nicht dazwischen gegangen wäre.

                  Im dritten Jahr bat der Sohn wieder, auf den Markt geschickt zu werden. »Und falls ich noch einmal dein Geld verbrauche, Vater, kannst du mich ja verkaufen, um den Verlust auszugleichen!«

                  »Gut!« sagte der Kaufmann. »Ich will dir zum letzten Mal mein Geld anvertrauen. Aber reiß dich zusammen, Sohn. Wenn du das Geld vertust, verkaufe ich dich wirklich, obgleich du mein Einziger bist. Teuer ist mir mein Sohn, doch teurer ist mir mein Geld!« Er zog den Beutel hervor, zählte das Geld ab und händigte es ihm aus.

                  Auf dem Markt angelangt, schlenderte der Kaufmannssohn eine Weile durch die Ladenstraßen, um sich über die Preise der Waren zu unterrichten, denn er hatte die feste Absicht, seinem Vater gehorsam zu sein. Bald wurde er aber müde und ging in ein Kaffeehaus, um sich zu erfrischen. Dort sah er mehrere Männer Karten spielen, und weil es ihn reizte, auch diese Kunst zu erlernen, gesellte er sich zu ihnen. Er verspielte im Laufe weniger Stunden alles Geld, das sein Vater ihm mitgegeben hatte, lernte jedoch dabei alle Listen und Feinheiten des Kartenspiels kennen und wurde zu einem Meisterspieler, der später jeden anderen besiegte, vorausgesetzt, er besaß genügend Geld, um den ersten Einsatz zu machen.

                  Als er nun zum dritten Mal ohne Waren und ohne Geld zu seinem Vater zurückkehrte, spuckte dieser dermaßen Gift und Galle, dass sich eine Giftschlange an ihm vergiftet hätte. Er schrie und schimpfte und weinte. Und dann packte er den Sohn am Arm und zerrte ihn auf den Markt. Seine Frau flehte ihn mit gerungenen Händen an, doch den eigenen Sohn nicht in die Sklaverei zu verschachern, doch er hörte weder auf sie noch auf die Versicherungen seines Sohnes, dass er bald das Hundertfache von dem verdienen würde, was er verbraucht hätte. »He, Leute!« rief der Vater, »mein Sohn hat mein Vermögen vergeudet, deshalb verkaufe ich ihn! Ich will soviel Geld für ihn haben, wie er von mir erhalten hat! Kauft ihn!«

                  »He, Leute!« rief der Sohn dagegen. »Wer mich kauft, wird es bereuen, und wer mich nicht kauft, wird es auch bereuen!«

                  Viele Leute wollten ihn haben, aber als sie ihn rufen hörten: »Wer mich kauft, wird es bereuen, und wer mich nicht kauft, wird es auch bereuen!« ließen sie von ihrem Vorhaben ab. Und damit hätte es sein Bewenden gehabt, wäre nicht zufällig ein steinreicher Kaufmann aus der Hauptstadt über den Markt geschlendert. Der ärgerte sich über die anmaßenden Rufe des Kaufmannssohnes, ging hin und kaufte ihn seinem Vater ohne zu feilschen ab. »Du wirst ja sehen, wie ich bereue!« höhnte er. »Du sollst bei mir die Gänse hüten!« Er befahl seinem Diener, den Kaufmannssohn in die Herberge zu bringen und in der Kammer einzuschließen, und schrieb seiner Frau abends diesen Brief:

                  »Liebe Frau, auf dem hiesigen Markt habe ich einen jungen Burschen gekauft. Ich schicke ihn dir, stell ihn zur Arbeit an, gib ihm nur einmal am Tage zu essen und lass ihn bei den Gänsen schlafen. Er soll den Abort reinigen, den Abfall wegschaffen, eben die schwerste und schmutzigste Arbeit verrichten. Übrigens kannst du dem König bestellen, dass ich in einem Monat zurückkehren werde und er mich mit einem Kanonensalut begrüßen soll.« Dann brachte er den Kaufmannssohn auf ein Schiff, übergab den Brief dem Schiffseigentümer und bat ihn, auf den Burschen aufzupassen und den Brief seiner Gemahlin auszuhändigen.

                  Mit dem Schiff fuhren viele Leute, eine Seefahrt dauert ihre Zeit, und keiner hatte etwas zu tun. So begannen sie, Karten zu spielen, anfangs ohne Geld, dann mit kleinen und schließlich mit großen Einsätzen, denn das Kartenspiel ist ein klebriges Ding, das keinen so leicht wieder loslässt. Auch der Schiffseigentümer nahm teil, und da er ein ungeübter Spieler war, wurde ihm das Fell über die Ohren gezogen. Er verspielte sein Hab und Gut, sogar sein Schiff. Und als er vor Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste, kam der verkaufte Kaufmannssohn zu ihm. »Gib mir ein wenig Geld«, sagte er, »vielleicht gewinne ich dir einen Teil deines Besitzes zurück.« Und als der Schiffseigentümer ihm vertrauensvoll das Geld überließ, setzte er sich an den Spieltisch.

                  Schon nach einer Stunde hatte er den Mitspielern das Schiff wieder abgenommen und obendrein noch einen hohen Geldgewinn erzielt, den er dem überglücklichen Schiffseigentümer überreichte. »Nimm das«, sagte er, »ich will keinen Lohn, ich möchte dich nur bitten, mich den Brief lesen zu lassen, den mein Herr dir in Verwahrung gab.« Bereitwillig überließ der Schiffseigentümer ihm das Schreiben, den er zu sich nahm.

                  In einem stillen Winkel entsiegelte er den Brief, las ihn, nahm ein neues Blatt Papier und schrieb in der gleichen Handschrift: »Liebe Frau, ich wünsche Dir Gesundheit. Diesen Brief überbringt Dir der reichste und klügste von allen Leuten, die ich in der neuen Stadt kennen gelernt habe. Es ist mein Wunsch, dass er unser Schwiegersohn wird. Kaufe ihm neue Kleider und verheirate ihn mit unserer Tochter.

                  Die Hochzeit feiern wir dann nach meiner Heimkehr, aber so, dass selbst dem König die Augen übergehen werden. Nun führe diese Anordnung gehorsam aus, liebe Frau, und tue dem jungen Mann keinesfalls etwas zuleide, denn das würde ich Dir niemals verzeihen.« Anschließend faltete der Kaufmannssohn den neuen Brief ebenso zusammen wie den alten, versiegelte ihn und händigte ihn dem Schiffseigentümer wieder aus.

                  Nach der Ankunft in der Hauptstadt brachte letzterer den Jüngling verabredungsgemäß zur Frau des reichen Kaufmanns und übergab ihr auch das Schreiben. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie es las; da es aber in der Handschrift ihres Gatten abgefasst war, kamen ihr nicht die geringsten Zweifel an der Richtigkeit, und sie hielt es als gehorsame Ehefrau für ihre Pflicht, die darin enthaltenen Aufträge sofort auszuführen. Also kleidete sie den Kaufmannssohn in ein prächtiges Festgewand, verheiratete ihn mit ihrer Tochter und übergab ihm sämtliche Schlüssel zu Truhen und Speichern, weil er ja nun der Herr des Hauses geworden war.

                  Eines Morgens sah der Kaufmannssohn, dass sich im gegenüberliegenden Königspalast ein Fenster öffnete und der König mit gelangweiltem Gesicht hinausblickte. Ich will ihm etwas vorspielen! sagte er zu sich. Vielleicht heitert es ihn auf. Er stimmte die Geige, und als er den Bogen über die Saiten führte, erschollen so entzückende Klänge, dass alles Volk zusammenströmte und atemlos lauschte. Auch der König blieb wie angewurzelt am Fenster stehen, lächelte vor Entzücken, und als der Kaufmannssohn sein Spiel beendet hatte, ließ er ihn zu sich holen. »Spiele weiter, noch nie habe ich Ähnliches vernommen!« bat er und lauschte so hingerissen, dass er seine Regierungsgeschäfte schier vergaß.

                  Von diesem Tag an ließ er den Kaufmannssohn nicht mehr von seiner Seite und gewann ihn nicht nur wegen seines Geigenspiels, sondern auch wegen seiner klugen Ratschläge so lieb, dass er ihn zu seinem ersten Würdenträger ernannte.

                  Nach Ablauf eines Monats machte sich der reiche Kaufmann, der ihn auf dem Markt gekauft hatte, auf den Heimweg in die Hauptstadt. Vorher aber sandte er dem König noch einen Brief mit der Aufforderung, ihn nach Verdiensten zu empfangen. »Da ich Dein höchster Würdenträger bin«, so schrieb er, »müssen die Kanonen krachen, wenn ich in die Hauptstadt zurückkehre.«

                  »Dein Schwiegervater kehrt in Bälde zurück, lieber Freund«, sagte der König zum Kaufmannssohn, »und will mit einem Kanonensalut empfangen werden. Zwar war er bisher tatsächlich mein erster Würdenträger, doch jetzt hast du ihn abgelöst. Wie soll ich mich verhalten?«

                  »Herr!« antwortete der Kaufmannssohn. »Zeige ihm, dass er nicht mehr dein erster Würdenträger ist, und empfange ihn ohne Kanonensalut.«

                  »Einverstanden!« sagte der König.

                  Nun, und dann kam der reiche Kaufmann auf seinem Schiff angesegelt, wartete auf den Salut, aber keine Kanone krachte. Das ärgerte ihn mächtig, und als das Schiff im Hafen angelegt hatte, ging er spornstreichs zum König, um sich zu beschweren. Doch dieser empfing ihn kühl, obendrein saß ein neuer Günstling an seiner Seite. Da begriff der reiche Kaufmann, dass er ausgespielt hatte, und machte sich niedergeschlagen auf den Weg zu seinem Haus.

                  Merkwürdig! dachte er, der junge Mann, der neben dem König saß, glich aufs Haar dem Burschen, den ich vor einem Monat auf dem Markt gekauft habe. Falls er es wirklich ist, trägt er die Schuld daran, dass mich der König verstieß, und demnach hatte er recht mit seinen Worten: Wer mich kauft, wird es bereuen. Doch auf welche Weise hat er es in dieser kurzen Zeit fertig gebracht, sich beim König Liebkind zu machen? Das muss ich herausbekommen!

                  Nachdenklich ging er weiter.

                  An der Haustür wurde er von Frau und Tochter begrüßt, und er sah zu seiner Verwunderung, das letztere als verheiratete Frau gekleidet war. Ob das etwa auch ein Streich jenes verfluchten Burschen ist? fragte er sich. »Weshalb trägt unsere Töchter dieses Kleid?« rief er empört. »Sie ist ja noch gar nicht verheiratet!«

                  »Aber doch!« widersprach seine Frau erstaunt. »Und zwar auf deine Anordnung. Hier ist dein Brief, überzeuge dich selbst, dass es seine Richtigkeit damit hat.« Der Kaufmann nahm den Brief und las ihn fassungslos durch. Wie ging das zu? Dort stand in seiner eigenen Handschrift, dass er den Burschen zum Schwiegersohn haben wollte, obgleich er doch genau wusste, das Gegenteil geschrieben zu haben, dass nämlich der Bursche die Gänse hüten sollte.

                  Drei Stunden lang grübelte der Kaufmann über die sonderbare Verwandlung des Briefes sowie über die sonstigen Veränderungen in seinem Leben nach, und dabei wurde ihm klar, dass der Jüngling recht gehabt hatte, als er rief: »Wer mich kauft, wird es bereuen. Und wer mich nicht kauft, wird es auch bereuen.« »Ja«, sagte er zu Frau und Tochter, »ich bereue, dass ich ihn kaufte, andererseits bereue ich es aber nicht, denn einen klügeren Schwiegersohn kann ich mir schwerlich wünschen. Es ist eine Meisterleistung, sich ohne fremde Hilfe aus dem Sklavenstand zu befreien und sich in derart kurzer Zeit beim König mehr Ansehen zu verschaffen, als ich in meinem ganzen Leben genossen habe!«

                  Und als sein neugebackener Schwiegersohn wenig später aus dem Königspalast heimkehrte, machte er gute Miene zum bösen Spiel und empfing ihn in allen Ehren. Sodann traf er alle Vorbereitungen, um eine fröhliche Hochzeit zu feiern, und lud auch die Eltern des Jünglings dazu ein.

                  Diese staunten gar sehr über die Einladung, machten sich aber gleich auf die Reise und trafen auch bald in der Hauptstadt ein. »Siehst du es nun ein, Vater, dass ich recht hatte?« fragte der Sohn. »Schon jetzt besitze ich mehr Geld, als ich während meiner Lehrzeit bei dir verbrauchte, und es besteht alle Aussicht, dass ich noch reicher werde, als du es jemals warst.«

                  »Ja, Söhnchen, das sehe ich ein«, erwiderte der Vater und weinte vor Reue. »In Zukunft werde ich dir für alle deine Unternehmungen meinen väterlichen Segen erteilen. Und jetzt bitte ich dich, mir mein Unverständnis und meine Grausamkeit zu verzeihen.«

                  »Vergessen wir die Vergangenheit«, sagte der Sohn. »Ich weiß: Ohne das Schlechte gibt es nicht das Gute. Worüber du heute weinst, wirst du dich morgen freuen.«

                  Verstand bringt Nutzen – Märchen – Südosteuropa - Balkan

                  Autor*in: Märchen aus dem Balkan

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                    Ein reicher Kaufmann hatte einen klugen und ungemein lernbegierigen Sohn, gestattete ihm aber aus Geiz nicht, sich mit den Wissenschaften oder gar den schönen Künsten zu befassen. Im Gegenteil, wenn er seinen Sohn zufällig einmal mit einem Buch oder einer Flöte in der Hand erblickte, geriet er außer sich vor Zorn. »Bücher bringen kein Brot!« schimpfte er. »Flöten schaffen keinen Reichtum! Arbeiten musst du, nichts als arbeiten, verstanden?«