März 2020 | AVENTIN Blog --

Vulcanus Venus und Mars - Ehebruch

Vulcanus Venus und Mars - Römische Sage - Ehebruch
Vulcanus Venus und Mars   

Vulcanus Venus und Mars - Römische Sage - Ehebruch


Der Gott Vulcanus war mit der Liebesgöttin Venus verheiratet. Als er wieder einmal in seiner Schmiede unter dem Vulkan Ätna auf Sizilien zusammen mit seinen Gehilfen, den Zyklopen, Waffen und Rüstungen im Auftrag der Götter anfertigte, besuchte ihn der Sonnengott Apollo.

Vulcanus begrüßte mit freundschaftlicher Miene den Sonnengott: »Sei gegrüßt, großer Sonnengott! Welcher Grund führt dich an diesen düsteren Ort? Verzeih, wenn die Dunkelheit, die Flammen und der Lärm der Zyklopen dich beunruhigen. Hier arbeiten harte und kräftige Arbeiter.«

Der Sonnengott antwortete: »Ich hoffe, du wirst nicht verzweifeln, wenn ich dir jetzt etwas über die Gemeinheit deiner Ehefrau erzähle.«

Nachdem Vulcanus den Hammer niedergelegt hatte, rief er erregt und laut: »Sag mir, was meine Ehefrau getan hat!«

Der Sonnengott antwortete: »Schon lange liebt Venus den Mars. Immer wenn du unter dem Berg arbeitest, treffen sich beide heimlich. Ich selbst habe sie neulich wieder gesehen, wie sie sich Küsse gaben.«

Nachdem er ihm diese Neuigkeit mitgeteilt hatte, verließ der Sonnengott den unglücklichen Vulcanus. Der aber konnte seinen gerechten Zorn nicht zurückhalten. Nachdem er den Hammer mit beiden Händen ergriffen hatte, zerbrach er mit einem gewaltigen Schlag ein fast fertig gestelltes Schwert.

»Gewissenlose Ehefrau, du hast den Anstand verletzt! Du liebst Mars, den Mars, dessen Waffen ich mit diesen Händen gefertigt habe? Mich vernachlässigst du, der ich die Blitze des Jupiters gefertigt habe? Ich habe auf Befehl Jupiters auch die Kette vollendet, mit der Prometheus am Kaukasus befestigt wurde und ich sorge für die Götter, damit sie mit den von mir gefertigten Waffen ihre Siege erringen können!«

»Und du, Venus, bereitest mir eine solche häusliche Niederlage, Ehefrau? Nachdem ich deine Schandtat nun durchschaut habe, werde ich streng gegen dich vorgehen! Auch meinen Gegner Mars werde ich nicht verschonen! Ich habe bereits einen geeigneten Plan!«

Nach Beendigung der Arbeit des Tages suchte Vulcanus sodann Venus auf. Obwohl sein Zorn immer noch wuchs, aß und lachte er dennoch mit seiner Ehefrau. Dann sagte er zu ihr: »Morgen werde ich nicht zu Hause sein, Venus. Auf der Insel Lemnos erwarten mich nämlich große Arbeiten.«

Und tatsächlich rief Venus am nächsten Tag wieder Mars zu sich, weil sie glaubte, dass ihr Ehemann zur Insel Lemnos gereist sei. Als dann endlich Gott Mars zu ihr kam, war sie überglücklich. Die Liebenden gaben sich Küsse und mehr noch, als plötzlich ein eisernes Netz auf sie nieder fiel. Beide konnten sich auf der Liegestatt nicht mehr rühren.

Dann hörten sie die Stimme Vulcans: »Seht, Freunde, welch schöne Vögel ich heute gefangen habe!«

Da erst sahen Mars und Venus die Menge aller Götter, die vom Himmel aus auf sie nieder blickten. Lautstark lachten diese ob der sonderbaren Situation und dem ergötzlichen Anblick.

So ist Venus, die ihren Ehemann täuschen wollte, schließlich selbst getäuscht worden. Viele Schriftsteller sprachen später dem Vulcanus wegen dieser besonderen List ihr großes Lob aus.

Vulcanus Venus und Mars – Römische Sage – Ehebruch - Sage

Autor*in: Römische Sage

Bewertung des Redakteurs:

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    Der Gott Vulcanus war mit der Liebesgöttin Venus verheiratet. Als er wieder einmal in seiner Schmiede unter dem Vulkan Ätna auf Sizilien zusammen mit seinen Gehilfen, den Zyklopen, Waffen und Rüstungen im Auftrag der Götter anfertigte, besuchte ihn der Sonnengott Apollo.

    Maus und Schnecke - Komfort

    Maus und Schnecke - Komfort - August G. Meißner
    Maus und Schnecke 

    Maus und Schnecke - Komfort - August G. Meißner 


    Eine Maus begegnete einer Schnecke, die auf dem Rücken ihr großes Haus trug.

    Die Maus zirpte: »Ich würde mich für die Ehre bedanken, mein Haus immer mit mir herum schleppen zu müssen! Es ist so schwer, dass du nur erbärmlich schleichen kannst. Schau mich an, langsame Schnecke!

    Während du einen ganzen Tag brauchst, von hier nach dort zu gelangen« — die Maus flitzte fort zum nächsten Baum und war auch schon wieder zurück —, »bin ich im Nu hin- und her gesprungen.«

    »Es ist wahr, liebe Maus«, antwortete die Schnecke, »du bist sehr schnell! Aber es ist schade, dass nicht nur du schnell bist, sondern auch die Katze, deine Todfeindin.

    Musst du nicht oft ängstlich und zitternd von Winkel zu Winkel fliehen und nach einem Schlupfloch suchen, um dich vor ihr zu retten? Würdest du dann nicht gerne mit mir, der langsamen Schnecke mit dem schweren Haus auf dem Rücken, tauschen?

    Merke dir, kleine Maus, dass man eine kleine Unbequemlichkeit um eines größeren Nutzens willen gerne erträgt.«

    Maus und Schnecke – August G. Meißner – Komfort - Fabel

    Autor*in: August G. Meißner

    Bewertung des Redakteurs:

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      Eine Maus begegnete einer Schnecke, die auf dem Rücken ihr großes Haus trug. Die Maus zirpte: »Ich würde mich für die Ehre bedanken, mein Haus immer mit mir herum schleppen zu müssen! Es ist so schwer, dass du nur erbärmlich schleichen kannst. Schau mich an, langsame Schnecke!

      Typen des geistigen Lebens

      Typen des geistigen Lebens – R.M.F – Alltagspsychologie
      Typen des geistigen Lebens  

      Typen des geistigen Lebens - R.M.F - Alltagspsychologie 


      Es liegt an dem sekundären Charakter der geistigen Eigenart, dass sich auf dem Gebiet des geistigen Lebens die Typen nicht mit gleicher Schärfe ausprägen wie auf dem Gebiet des Trieb- und Gefühlslebens, da sie auch nicht so überwiegend das Leben bestimmen.

      Immerhin sind die Unterschiede des geistigen Lebens, das Verhältnis des Ich zur Außenwelt, auch der landläufigen Seelenkunde nicht entgangen, wenn sie zum Beispiel “Sinnesmenschen – Phantasiemenschen und Verstandesmenschen” unterscheidet.

      Da wir auch auf diesem Gebiet systematisch zu Werk gehen wollen, stellen wir die Frage, welche besondere Art der Verarbeitung von Außenweltseindrücken die Eigenart der Individuen unterscheidend kennzeichnet.

      Sinnesmensch:

      Beginnen wir mit dem Typus des “Sinnesmenschen“, der vor allem die reinen Empfindungen als solche auf sich wirken lässt, wobei die verschiedenen Sinnesgebiete wiederum ungleich stark hervor treten. In frühester Jugend sind die meisten Menschen diesem Typus zugehörig. In späterem Alter ist diese Verhaltensweise vor allem bei Künstlern anzutreffen, die die Außenwelt nur auf Farben- oder Klangreize hin genießen.

      Doch findet man auch unter Nichtkünstlern Menschen genug, die den reinen Sinneszauber und auch Sinnenkitzel vor allem suchen und ihr Verhalten demgemäß einrichten. Meist geht dieser Typus im fortschreitenden Alter in den des konkreten Beobachters über. Auch dessen Zugehörige haben geöffnete Sinne für Eindrücke der Außenwelt, belassen diese Eindrücke jedoch nicht im Zustand der reinen Empfindung, sondern gliedern und gestalten sie zu konkreten Wahrnehmungen.

      Dem Blick solcher Menschen entgeht “nichts”, wie man landläufig zu sagen pflegt. Sie beobachten die geringsten Details und oft vorwiegend Details. Sie wissen nach einer Gesellschaft aufs genaueste anzugeben, welches Kleid ein jeder Teilnehmer getragen hat, sie können die Farbe von deren Augen und Haaren angeben, ihre Stimme nachahmen, kurz, ihr Interesse richtet sich auf die konkrete Wirklichkeit, die sie mit steckbriefhafter Exaktheit in sich aufnehmen.

      Ordnungstypus:

      Ob man daneben einen “Ordnungstypus” unterscheiden soll, einen, für dessen Seelenleben die räumliche oder zeitliche Zusammenordnung der Eindrücke entscheidend ist, dürfte als weniger sicher gelten. Gewiss ist immerhin, dass viele, auch gute Beobachter, diese Fähigkeit der Zusammenordnung ihrer Eindrücke nicht haben, während andere in erstaunlichem Maß imstande sind, selbst wenn sie die konkrete Einzelkenntnis nicht mehr haben, doch noch die räumliche oder zeitliche Ordnung aufs genaueste zu beherrschen.

      Nicht ganz scharf zu scheiden sind auch die Typen, die sich danach ergeben, ob die erinnernde oder die kombinierende Vorstellung ihr Seelenleben beherrscht; denn wir sahen bereits, dass diese geistigen Anlagen stark ineinander spielen. Immerhin ist es möglich, “Gedächtnismenschen” und “Phantasiemenschen” zu unterscheiden.

      Gedächtnismensch:

      Der “Gedächtnismensch” lebt am liebsten in der Vergangenheit, weil oft seine Erinnerungen an Dinge und Erlebnisse ihm mehr Farbe und Gefühlswert geben als die konkrete Gegenwart.

      Phantasiemensch:

      Der “Phantasiemensch” hingegen lebt am liebsten in der Zukunft, weil er darin seine Fähigkeit des Kombinierens der Vorstellungen am freiesten betätigen kann. Ihm ist die Welt seiner Vorstellungen reicher als die sinnhafte Gegenwart, die ihm kalt und trocken vorkommt, während er den Gestaltungen seiner Phantasie weit mehr Farbe und Glanz zu leihen vermag.

      Romantische Geistesart:

      Was man im Alltagsleben als “Romantische Geistesart” bezeichnet, rekrutiert sich zum Teil aus solchen Erinnerungs,- und zum Teil aus solchen Phantasiemenschen.

      Abstrakte Menschen:

      Klar ausgeprägt ist der Typus des “Abstrakten Menschen“, bei dem die Fähigkeit der begrifflichen Abstraktion die gesamte Geistigkeit beherrscht. Wie dem Midas der Sage nach alles, was er berührte, zu Gold wurde, so wird dem abstrakten Menschen alles, was er sieht, hört und wahrnimmt zum “Begriff”.

      Konkrete Menschen:

      Sieht der “Konkrete Mensch” oft vor Bäumen den Wald nicht mehr, so sieht der “Abstrakte Mensch” nur Wald und keine Bäume. Weiß jener alle Details anzugeben, von dem was er gesehen hat, so kennt der abstrakte überhaupt keine Einzelheiten, sondern nur Begriffe. Er hat seine abstrakten Formeln bereit und ordnet die ganze Welt unter Regeln und Gesetze. Die Theorie ist ihm nicht grau, sondern die goldene Frucht vom grünen Baum des Lebens.

      Schöpferische Menschen:

      Letztlich des Typus des “Schöpferischen Menschen” ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm die ganze Welt nur Rohstoff ist für seine Pläne, Ideen und Schöpfungen. Je nachdem er Künstler, Forscher oder Gestalter auf irgendeinem Gebiet des Kulturlebens ist, wird ihm alles, was er erlebt, zum Bild, zum Gedicht, zur wissenschaftlichen Entdeckung, zur Erfindung oder sonst einer schöpferischen Leistung. Sein ganzes Leben ist seinem Schöpfergeist unterstellt, und er sieht und denkt nur im Bann seiner schöpferischen Ideen.

      Auch diese Einteilung ist nicht bloß Selbstzweck, sondern gibt, zusammen mit der Affekttypik, den Schlüssel für das Verständnis jener komplexen Typen, mit denen der Alltag rechnet. Zusammen mit den Besonderheiten des Trieblebens ist die Vorherrschaft bestimmter Geisteseinstellungen der entscheidende Faktor z. B. für die Alterstypen. Das Kind lebt vorwiegend in den Sinnen, der Heranwachsende vorwiegend in der Phantasie, der reife Mensch ist gekennzeichnet durch konkreteren Wirklichkeitssinn, während der ältere Mensch immer abstrakter zu werden pflegt.

      Auch die Unterschiede zwischen Standes-, Kultur- und Volkstypen gehen außer auf Verschiedenheiten der Affektanlagen auf solche der geistigen Sonderart zurück. Dass der Naturmensch ähnlich wie das Kind vorwiegend in seinen Sinnen lebt, ist auch außerhalb der Wissenschaft bekannt. Dagegen ist zum Beispiel der Nordeuropäer weit abstrakter als etwa der Südeuropäer.

      Besonders reizvoll ist es, das mannigfache Ineinanderspielen der einzelnen Komplextypen zu verfolgen und zu erkennen, dass zum Beispiel der Volkstypus wieder vom Alterstypus oder von einem dominierenden Standestypus entscheident bestimmt wird, was alles jedoch erst seine Erklärung findet, wenn man auf die aufgezeigten psychologischen Grundtypen zurück greift.

      Bitte auch hier die aufgestellte Typik nicht als Selbstzweck anzusehen, nicht als Ausgeburt einer Neigung zur Schematisierung, sondern sie anzuwenden auf das Leben. Dann wird man finden, dass sie sehr lebendig wird.

      Man versuche, seine Bekannten den einzelnen Typen zuzuordnen, man versuche auch die großen Gestalter der Kunst-, Literatur-, Religions- und übrigen Kulturgeschichte auf ihre typische Geistigkeit hin anzusehen, und man wird mit Erstaunen feststellen, dass sich die Stil- und Ideenbildung der Geistesgeschichte in ganz neuem Licht zeigt und dass sich viele Kämpfe und Gegensätze von Schulen, Stilen und Richtungen enthüllen als begründet in solchen psychologischen Typen.

      Was war der Streit zwischen den Anhängern Böcklins und denen des Impressionismus? Der Streit von Phantasiemenschen mit Sinnesmenschen!

      Was war der Kampf um Wagner? Wiederum der Streit der Sinnesmenschen, die sich mit den abstrakten Formalisten verbündeten, gegen einen Meister, der seinem Typus gemäß die Musik zu einer Phantasiekunst machen wollte!

      Was ist in der Philosophie der Kampf zwischen Empiristen und Rationalisten? Wiederum der Streit konkret veranlagter Geister gegen Abstrakte!

      Und vieles auch im Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus ging ebenfalls zurück auf den Gegensatz zwischen dem sinnhafter veranlagten Südländer und dem abstrakteren Nordländer.

      Das nur als Andeutungen, wie die Erkenntnis der psychologischen Grundtypen hinein leuchten kann in die dunklen Untergründe, aus denen erhabenste Geistesschöpfungen keimen!

      Typen des geistigen Lebens – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie Typus Leben Geist

      Autor*in: R.M.F

      Bewertung des Redakteurs:

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        Es liegt an dem sekundären Charakter der geistigen Eigenart, dass sich auf dem Gebiet des geistigen Lebens die Typen nicht mit gleicher Schärfe ausprägen wie auf dem Gebiet des Trieb- und Gefühlslebens, da sie auch nicht so überwiegend das Leben bestimmen.

        Anderes Dornröschen


        Anderes Dornröschen – Luciano de Crescenzo – Neapel Italien
        Anderes Dornröschen 

        Anderes Dornröschen - Luciano de Crescenzo - Neapel 


        Cavaliere Sgueglia ist ein gewissenhafter Mann. Er ist sechsundvierzig Jahre alt, Junggeselle, und führt gemeinsam mit seiner Schwester, der Signora Rosa Gallucci, eine Farben- und Eisenwarenhandlung in der Via Torretta 282, nahe am Mergellina-Bahnhof.

        Wie gesagt, Sgueglia ist ein gewissenhafter Mann: seit etwas zwanzig Jahren, genau seit dem Tod seines seligen Vaters, verlässt er jeden Morgen um acht Uhr zwanzig das Haus, nimmt bei Fontana einen Kaffee und ein Stück Hefegebäck zu sich und zieht Punkt neun den Rolladen seines Geschäftes in der Via Torretta hoch.

        Donna Rosa taucht erst später auf, sie muss morgens zunächst ihren Ehemann, der im Rathaus arbeitet, und die drei Söhne, drei wirklich wilde Rabauken, die die Berufsschule besuchen, auf den Weg bringen.

        Wenn sie dann kommt, setzt sie sich an die Kasse, ein Auge auf die Kunden und eines auf die Jungen gerichtet, damit diese nicht das ganze Geschäft ausrauben. Mein Bruder ist zu gut, sagt sie, und hat nicht gemerkt, dass man bei den himmelschreienden Preisen heute mit jedem Schraubenschlüssel, den man einbüßt, gleich fünftausend Lire verliert.

        Um ein Uhr geht der Cavaliere nicht weg, er lässt nur den Rolladen fast bis zum Boden herab, dann wärmt ihm Donna Rosa auf dem Kocher im Hinterzimmer etwas zu essen, bevor sie nach Hause eilt, um ihre vier Ausgehungerten, nämlich den Ehemann und die drei Söhne, zufriedenzustellen, während der Cavaliere, der Ärmste, nun inmitten von Lackdosen, Armaturen und Rollen von Metallgittern auf einem Klappbett ein halbes Stündchen schlummert.

        Punkt acht Uhr abends schließt der Cavaliere sein Geschäft und reiht sich in den Verkehr in Richtung Via Posillipo, wo er nach etwa zwanzig Minuten, kurz nachdem er die Piazza San Luigi überquert hat, in einer dunklen Seitenstraße, einer Sackgasse, hält und sein Auto parkt – einen zweifarbigen Fiat elfhundert mit umklappbaren Sitzen, mit dem er in den vier Jahren, seit er ihn hat, gut und gern zehntausend Kilometer gefahren ist.

        Dann zieht er sich in sein Haus zurück. Einfachstes Abendessen, fast immer das gleiche, das er sich offensichtlich selber zubereitet, ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett: Madonna mia, danke für heute und behüte mich auch morgen und dann Vater Sohn und Heiliger Geist und Amen.

        Nun werden Sie langsam sagen, was ist denn das für eine Geschichte? Was interessiert denn uns, dass der Cavaliere Sgueglia ein gewissenhafter Mensch ist? Oh nein, sage ich: gerade die Gewissenhaftigkeit des Cavaliere spielt eine entscheidende Rolle bei der Geschichte, die ich hier erzähle.

        Ja, denn Sie müssen wissen, dass alle Tage des Cavaliere Sgueglia seit fast zwanzig Jahren ohne Unterschied immer so verlaufen sind wie dieser. Nie mal ein Kinobesuch am Abend, oder was weiß ich, ein Zusammensein mit einem Freund oder Verwandten. Er bekommt keinen Besuch und geht nirgends hin.

        Nur am Sonntag, jeden Sonntag um eins, geht er zum Essen zu seiner Schwester: Messe, Gebäck von Fontana, zwei Rumtörtchen, eine Cremeschnitte, eine Makrone und zwei Blätterteigstückchen, dann Il Mattino, 3 Partien auf die Schnelle mit dem Schwager, während Donna Rosa in der Küche das Essen zubereitet und danach wieder nach Hause: zweite Halbzeit im Fernsehen, Werbesendung und Sport am Sonntag.

        Aber kommen wir auf unsere Geschichte zurück: letzten Donnerstag gegen halb zwei Uhr nachts, als er gerade noch im ersten Schlaf lag, wurde der Cavaliere durch unaufhörliches Telefonklingeln geweckt. Wer sollte um diese Zeit anrufen? Er steht auf und nimmt den Hörer in der Gewissheit ab, dass nur etwas Schlimmes passiert sein konnte.

        Und in der Tat hört er von seinem Schwager, dass seine Schwester, also Donna Rosa, plötzlich erkrankt sei: sie habe furchtbare Bauchschmerzen bekommen und der Ehemann habe sie ins Loretto-Krankenhaus gebracht, von wo er jetzt anrufe und wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit am Blinddarm operiert werde, sobald der Professor eintreffe.

        Der Cavaliere sagt: »Ich ziehe mich nur schnell an und komme sofort.« Noch immer halb schlaftrunken zieht er irgend etwas über, verlässt das Haus und geht die kleine Gasse hinauf, wo er seinen Fiat abgestellt hat, aber er findet ihn nicht. Das heißt, um es genau zu sagen, er sieht genau an der Stelle, wo er sein Auto geparkt hatte, ein anderes Auto stehen, das mit einer dunklen Plane bedeckt ist.

        Der Cavaliere, der immer noch nicht ganz klar denken kann, sieht es sich zuerst einmal von allen Seiten an und hebt dann ganz vorsichtig einen Zipfel der Plane, und da merkt er dann zu seinem größten Erstaunen, Jesus Maria, er wird doch nicht träumen, dass unter der Plane tatsächlich sein eigenes Auto steht und dass in dem Auto seelenruhig ein Mann schläft.

        Das ging jetzt nämlich schon seit fast drei Jahre so, dass Gennaro Esposito, ein Arbeitsloser, sich jeden Abend um halb zwölf in den Fiat des Cavaliere Sgueglia zurückzog. Und da er die regelmäßigen Gewohnheiten Sgueglias kannte, beschränkte sich Gennaro auch nicht etwa darauf, die Sitze umzuklappen und sich hinzulegen, sondern er zog aus einem großen Koffer, den er danach im Kofferraum verwahrte, auch alles, was er brauchte, um sich ein richtiges »Bett« zu bereiten:

        Kissen, Decken, Betttücher und einen Wecker, den er aufs Armaturenbrett legte. Den Wecker stellte er auf halb sieben, da Gennaro gern früh aufsteht, um diese Zeit erhob er sich dann und begann, das Wageninnere wieder in Ordnung zu bringen. Er hatte sogar einen kleinen Besen dabei, um eventuelle Spuren seiner Gegenwart zu beseitigen.

        Na ja, ehrlich gesagt, etwas ließ er doch in dem Wagen zurück, und zwar seinen persönlichen Geruch, aber der Cavaliere hatte sich in all den Jahren an diesen Geruch des Gennaro Esposito gewöhnt, ja er hatte in von Anfang an für den typischen Fiat-Geruch gehalten.

        Aber zurück zu unsere berühmten Nacht: der Cavaliere steht also sprachlos vor Verwunderung da und betrachtet Gennaro Esposito, arbeitslos und ohne festen Wohnsitz. Na Gott, ohne festen Wohnsitz ist ja vielleicht nicht ganz richtig, denn in Wirklichkeit hatte Gennaro ja einen festen Wohnsitz, nämlich den Fiat elfhundert des Cavaliere Sgueglia mit der Nummer NA 294082.

        Nachdem er sich über diese Tatsache klar geworden ist, weckt der höchst erstaunte Cavaliere Gennaro mit einem Schrei. Gennaro, noch halb schlaftrunken und mehr erstaunt als der Cavaliere, fragt mit Recht:

        »Aber Cavaliere, was machen Sie denn hier mitten in der Nacht und auf der Straße?«
        »Meiner Schwester geht es schlecht, und sie musste ins Krankenhaus.«
        »Wer? Donna Rosa? Aber, was hat sie denn?«
        »Und Sie, wer sind Sie eigentlich? Was machen Sie hier in meinem Auto? Wer hat Ihnen…«

        »Oh, jetzt überlegen Sie doch nicht lange, wer ich bin, sagen Sie mir lieber, denn ich mache mir wirklich Sorgen: Was hat denn Donna Rosa? Wo fehlt es ihr denn?«
        »Ich weiß es auch nicht genau. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es der Blinddarm. Aber wer sind Sie und wer hat Ihnen erlaubt…«

        »Lieber Cavaliere, verlieren Sie doch jetzt keine Zeit mit dem Hin und Her, wer ich bin oder nicht bin. Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, ich habe nur hin und wieder Ihre Gastfreundschaft beansprucht. Kümmern wir uns jetzt lieber um Donna Rosa, der es schlecht geht! Wohin, sagten Sie, wurde sie gebracht?«

        »Ins Loretto-Krankenhaus.«
        »Bestens. Ich komme mit.«
        »Was heißt, Sie kommen mit. Ich verstehe nicht.«
        »Cavaliere, Sie sind jetzt ein bisschen durcheinander, das ist verständlich: So mitten aus dem Schlaf gerissen, und dann machen Sie sich ja auch zu Recht Sorgen. Aber keine Angst, Gennaro ist zur Stelle und lässt Sie nicht im Stich. Ich fühle mich ja doch auch zur Familie gehörig, wenn Sie gestatten.«
        »Wieso denn zur Familie?«
        »Aber gewiss, lieber Cavaliere, ich muss Sie begleiten!«

        So verbrachten der Cavaliere und Gennaro die Nacht gemeinsam im Loretto-Krankenhaus. Gennaros Gegenwart war sehr tröstlich, und der Cavaliere stellte ihn als einen »Mitbewohner« der Via Posillipo vor. Sie entschieden gemeinsam, welchem Chirurgen der Blinddarm Donna Rosas anvertraut werden sollte und warteten gemeinsam bangend auf den glücklichen Ausgang des Eingriffs.

        Beim Abschied ließ sich der Cavaliere bei den imaginären Kindern Gennaros versprechen, dass sein Auto künftig nicht mehr als Schlafzimmer missbraucht werden sollte. Zur Sicherheit und trotz aller feierlichen Schwüre aber hat der Cavaliere jetzt seinen Elfhunderter verkauft und sich ein Coupé angeschafft.

        Anderes Dornröschen – Luciano de Crescenzo – Italien Neapel - Novelle

        Autor*in: Luciano de Crescenzo

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          Cavaliere Sgueglia ist ein gewissenhafter Mann. Er ist sechsundvierzig Jahre alt, Junggeselle, und führt gemeinsam mit seiner Schwester, der Signora Rosa Gallucci, eine Farben- und Eisenwarenhandlung in der Via Torretta 282, nahe am Mergellina-Bahnhof.

          Achtung und Ansehen - Gracian

          Gracian - Handorakel - Achtung und Ansehen
          Achtung und Ansehen 

          Achtung und Ansehen - Gracian - Handorakel


          Bekenne dich nie zu Beschäftigungen, die in schlechtem Ansehen stehen. Noch weniger lasse dich zu Schimären hinreißen, wodurch man sich eher in Verachtung, als in Ansehen bringt.

          Es gibt so vielerlei Sekten und Sektierer, von denen sich ein vernünftiger Mensch einfach nur fernhalten sollte. Und es gibt so viele Leute, die mit gar wunderlichem Geschmack oder kruder Idee nur auf sich aufmerksam machen wollen.

          Folge ihnen nicht! Sie sind mehr Gegenstand der Lächerlichkeit als der Vernunft und führen nur ins Unglück.

          Stehe viel mehr immer zu dir selbst und deiner rechten und richtigen Überzeugung, die auf Wahrheit, Ehrlichkeit und Wohlwollen beruht.

          Unter dieser Prämisse wirst du auch Achtung und Ansehen erlangen.

          Gracian - Handorakel - Achtung und Ansehen - Weisheit

          Autor*in: Balthasar Gracian

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            Bekenne dich nie zu Beschäftigungen, die in schlechtem Ansehen stehen. Noch weniger lasse dich zu Schimären hinreißen, wodurch man sich eher in Verachtung, als in Ansehen bringt. Es gibt so vielerlei Sekten und Sektierer, von denen sich ein vernünftiger Mensch einfach nur fernhalten sollte.

            Das Metallschwein - Italien Florenz

            Das Metallschwein - Italien Florenz - Hans Christian Andersen - Märchen
            Das Metallschwein 

            Das Metallschwein - Italien Florenz - Hans Christian Andersen 


            In der Stadt Florenz, nicht weit von der Piazza del Granduca, liegt eine kleine Querstraße, ich glaube, man nennt sie Porta rossa. In dieser, vor einer Art Grünkramladen, befindet sich ein kunstreich und sorgfältig gearbeitetes Bronzeschwein. Ein frisches, klares Wässerlein rieselt aus dem Maul des Tieres, das vor Alter ganz schwarzgrün aussieht.

            Nur der Rüssel glänzt, als ob er blank poliert sei, und das ist er auch, denn die vielen hundert Kinder und Lazzaroni fassen ihn mit ihren Händen an und setzen ihren Mund an sein Maul, um zu trinken. Es gibt ein hübsches Bild, wenn so ein anmutiges Kind das wohlgeformte Tier umarmt und seinen jungen Mund an dessen Rüssel setzt.

            Ein jeder, der nach Florenz kommt, wird wohl dorthin auch finden, denn er braucht nur den ersten besten Bettler nach dem Bronzeschwein zu fragen.

            Er war eines Abends spät im Winter. Auf den Bergen lag Schnee, aber es war Mondschein, und der Mondschein in Italien gibt ein so helles Licht, das man es getrost mit einem dunklen Wintertag im Norden vergleichen kann. Ja es ist hier sogar leuchtender, denn die Luft ist klar und verstärkt jeden Schein, während im Norden das kalte, graue Bleidach des Himmels auf uns und die Erde hernieder drückt, auf die kalte, nasse Erde, die einst unseren Sarg beschweren wird.

            Drinnen, in des Herzogs Schlossgarten, unter dem Piniendach, wo tausend und abertausend Rosen zur Winterszeit blühen, hatte ein kleiner zerlumpter Junge den ganzen Tag gesessen, ein Knabe, der das Sinnbild Italiens darstellen konnte, so hübsch, so lächelnd und doch so leidend! Er war hungrig und durstig. Keiner gab ihm einen Schilling, und als es dunkel wurde und der Garten geschlossen werden sollte, jagte der Pförtner ihn fort.

            Lange stand er verträumt auf der Brücke, die sich über dem Arno wölbt, und sah zu den Sternen empor, deren Widerspiel im Wasser zwischen ihm und der prächtigen Marmorbrücke »della Trinità« blinkte.

            Er schlug den Weg zu dem Bronzeschwein ein, kniete halb nieder, schlang seine Arme um dessen Hals, setzte seinen Mund an den glänzenden Rüssel und trank in langen Zügen von dem frischen Wasser. Dicht daneben lagen ein paar Salatblätter und einige Kastanien. Das war seine Abendmahlzeit.

            Kein Mensch war mehr auf der Straße zu sehen; er war ganz allein, so setzte er sich auf den Rücken des Bronzeschweins, lehnte sich vornüber, dass sein kleiner lockiger Kopf, auf dem des Tieres ruhte, und ehe er es selbst wusste, war er eingeschlafen.

            Es war um Mitternacht. Da rührte sich das Bronzeschwein pltzlich. Er hörte es ganz deutlich sagen: »Du kleiner Knabe, halte Dich fest, denn nun laufe ich!« Und dann lief es mit ihm fort. Es war ein seltsamer Ritt. – Zuerst kamen sie über die Piazza del Granduca und das eherne Pferd, das des Herzogs Statue trug, wieherte laut.

            Das farbige Wappen über dem alten Rathaus leuchtete wie ein Transparent und Michel Angelos David schwang seine Schleuder. Es war ein seltsames Leben, das sich hier rührte! Die Gruppen mit Perseus und dem Raub der Sabinerinnen waren nur allzu lebendig; ihr Todesschrei drang laut über den prächtigen, einsamen Platz.

            Bei dem Palazzo degli Uffizi, in den Bogengängen, wo der Adel sich zu den Karnevalsfreuden versammelt, machte das Bronzeschwein dann halt.

            »Halte Dich fest!« sagte das Tier, »halte Dich ganz fest, denn nun geht es die Treppen hinauf!« Der Kleine sagte noch immer kein Wort, halb zitterte er, halb war er glückselig.

            Sie traten in eine lange Galerie. Er kannte sie wohl, denn er war schon früher hier gewesen. An den Wänden prangten Gemälde, Statuen und Büsten standen umher, alles war herrlich beleuchtet, als ob es heller Tag wäre. Am prächtigsten jedoch war es, als sich die Tür zu einem der Nebenzimmer öffnete. Ja, diese Herrlichkeit erkannte der Kleine wohl wieder. Doch in dieser Nacht prangte alles in seinem aller schönsten Glanz.

            Hier stand eine wunderschöne Frau, so herrlich, wie nur die Natur und der größte Meister des Marmors sie formen konnten. Sie bewegte die anmutigen Glieder, Delphine schnellten zu ihren Füßen empor und die Unsterblichkeit leuchtete aus ihren Augen. Die Welt nannte sie die Mediceische Venus.

            Ihr zur Seite prangten Marmorbilder, in welchen die Kraft des Geistes den Stein bezwungen hatte, nackte, herrliche männliche Gestalten. Der eine wetzte sein Schwert, man nennt ihn den Schleifer; die andere Gruppe stellte die kämpfenden Gladiatoren dar; das Schwert wird geschliffen und die Helden kämpfen, alles für die Göttin der Schönheit.

            Der Knabe war wie geblendet von all dem Glanz. Die Wände strahlten von Farben wieder, und alles war Leben und Bewegung. Zweifach bot sich das Bild der Venus, der göttlichen, und der irdischen, so schwellend und feurig, wie Titian sie aus seinem Herzen erschaffen hatte. Es war seltsam anzusehen.

            Zwei herrliche Frauen streckten ihre anmutigen unverschleierten Glieder auf den weichen Polstern, ihre Brust hob sich und das Haupt bewegte sich, so dass die reichen Locken auf die runden Schultern herab fielen, während die dunklen Augen von den glühenden Gefühlen des Blutes sprachen.

            Aber doch wagte keines der Bilder, ganz aus dem Rahmen zu treten. Selbst die Göttin der Schönheit, die Gladiatoren und der Schleifer blieben auf ihrem Platz, denn der Glanz, der von der Madonna, von Jesus und Johannes ausstrahlte, hielt sie scheinbar gebunden. Die Heiligenbilder waren keine Bilder mehr, sondern die Heiligen selbst.

            Welche Pracht und Schönheit in jedem der Säle, und der Kleine sah alles. Das Bronzeschwein ging ja Schritt vor Schritt durch all die Herrlichkeit. Ein Anblick verdrängte den anderen. Nur ein Bild haftete unverrückbar in seiner Seele, und das geschah wohl zumeist um der frohen, glücklichen Kinder willen, die darauf zu sehen waren und denen der kleine schon einmal bei Tageslicht zugenickt hatte.

            Viele wandern sicher gedankenlos an dem Bild vorbei, und doch umschließt es einen Schatz an Poesie. Es ist Christus, der in die Unterwelt hinab fährt. Aber es sind nicht die Verdammten, die ihn umgeben, sondern die Heiden. Der Florentiner Angiolo Bronzino hat dieses Bild gemalt, und am meisten bezwingend daran ist der Ausdruck der Gewissheit bei den Kindern, dass sie in den Himmel kommen werden.

            Zwei der kleinsten umarmen einander bereits, ein anderer Kleiner streckt seine Hand aus zu einem, der noch in der Tiefe steht und zeigt auf sich selbst, als ob er sagen wolle: »Ich soll in den Himmel!« Die Älteren stehen unsicher hoffend und beugen sich demütig betend vor dem Herrn.

            Auf dieses Bild schaute der Knabe länger als auf irgend eines von den anderen. Das Bronzeschwein weilte still davor. Ein leiser Seufzer erklang. Kam er von dem Bild oder aus des Tieres Brust? Der Knabe erhob die Hand zu den lächelnden Kindern – da jagte das Tier mit ihm von dannen und hinaus durch den offenen Vorsaal.

            »Dank und Segen, du freundliches Tier!« sagte der kleine Knabe und streichelte das Bronzeschwein, das bums, bums! die Treppen mit ihm hinab sprang.

            »Dank und Segen auch für Dich!« sagte das Bronzeschwein, »ich habe Dir geholfen und du hast mir geholfen, denn nur mit einem unschuldigen Kind auf dem Rücken erhalte ich die Kraft zum Laufen. Ich kann Dich überall hin tragen, nur nicht in die Kirche! Aber von draußen kann ich, wenn Du bei mir bist, durch die offene Tür hinein sehen. Steige nicht von meinem Rücken herunter! Wenn Du es tust, dann liege ich tot, wie Du mich am Tag in der Porta Rossa liegen siehst«

            »Ich bleibe bei Dir, du freundliches Tier!« sagte der Kleine, und dann ging es in sausender Fahrt durch die Gassen von Florenz hinaus zu dem Platz vor der Kirche Santa Croce!

            Die große Flügeltür sprang auf, die Lichter strahlten vom Altar hernieder durch die ganze Kirche und hinaus auf den einsamen Platz.

            Ein seltsamer Lichtschein strömte von einem Grabstein herab, der im linken Seitengang stand. Tausend lebendige Sterne bildeten gleichsam eine Glorie darum. Ein Wappenschild prangte auf dem Grab, eine rote Leiter in blauem Feld, die wie Feuer glühte. Es war Galileis Grab.

            Es ist nur ein einfachen Denkstein, aber die rote Leiter im blauen Feld ist ein bedeutungsvolles Wappenzeichen, es ist, als ob es der Kunst selbst zugehöre, denn sie geht allezeit ihren Weg über glühende Leitern empor, aber zum Himmel! Alle Propheten des Geistes fahren gen Himmel wie Elias.

            In dem Gang rechts war es, als ob jedes Steinbild auf den reichen Sarkophagen lebendig geworden sei. Hier stand Michel Angelo, Dante mit dem Lorbeerkranz um die Stirn, Alfieri, Macchiavelli. Seite an Seite ruhen hier diese großen Männer, Italiens Stolz! Es ist eine prächtige Kirche, weit schöner, wenn auch nicht so groß, wie die marmorne Domkirche zu Florenz.

            Es war, als ob die Marmorgewänder sich bewegten, als ob die großen Gestalten ihre Häupter höher erhöben und unter Gesang und sanften Tönen durch die Nacht empor zu dem farbig erstrahlenden Altar blickten, wo weiß gekleidete Knaben die goldenen Räucherfässer schwangen, deren starker Duft aus der Kirche bis auf den offenen Platz strömte.

            Der Knabe streckte seine Hand nach dem Lichtglanz aus, und im gleichen Augenblick fegte das Bronzeschwein wieder von dannen. Er musste sich fest an seinen Leib pressen, der Wind pfiff um seine Ohren, er hörte die Kirchenpforte in den Angeln knarren, während sie sich wieder schloss, aber zugleich schien das Bewusstsein ihn zu verlassen. Er fühlte eine eisige Kälte und schlug die Augen auf.

            Es war Morgen. Er saß, halb hinab hängend, auf dem Bronzeschwein, das, wie es immer zu tun pflegte, in der Porta Rossa stand.

            Furcht und Angst erfüllten den Knaben bei dem Gedanken an die, die er Mutter nannte, und die ihn gestern fortgeschickt und gesagt hatte; dass er Geld herschaffen solle. Nichts hatte er bekommen, nur hungrig und durstig war er! Noch einmal umhalste er das Bronzeschwein, küsste es auf den Rüssel, nickte ihm zu und wanderte dann von dannen nach einer der engsten Gassen, kaum breit genug für einen wohlbepackten Esel.

            Eine große, eisenbeschlagene Tür stand halb offen. Hier ging er eine gemauerte Treppe mit schmutzigen Stufen und einem glatten Seil an eines Geländers statt hinauf und kam auf eine offene mit Lumpen behängte Galerie. Eine Treppe führte von hier aus auf den Hof, wo vom Brunnen dicke Eisendrähte nach allen Etagen des Hauses hinauf gezogen waren, und ein Wassereimer schwebte neben dem anderen, während die Winde knirschte und der Eimer in der Luft tanzte, dass das Wasser hinab in den Hof klatschte.

            Abermals ging es eine verfallene Steintreppe hinauf. Zwei Matrosen, es waren Russen, sprangen vergnügt herunter und hätten den armen Jungen um ein Haar umgestoßen. Sie kamen von ihrem nächtlichen Bacchanal. Eine nicht mehr junge, aber üppige Frauengestalt mit starkem, schwarzen Haar, folgte. »Was hast Du nachhause gebracht?« fragte sie den Knaben.

            »Sei nicht böse!« bat er, »Ich habe nichts bekommen, gar nichts!«, und er griff nach dem Rock der Mutter, als ob er ihn küssen wolle. Sie traten in die Kammer. Wir wollen sie nicht näher beschreiben, nur soviel sei gesagt, dass dort ein Henkelkrug mit Kohlenfeuer stand, ein marito, wie man ihn nennt, den nahm sie auf ihren Arm, wärmte die Finger und puffte den Knaben mit den Ellenbogen: »Ja, gewiss hast Du Geld!« sagte sie.

            Das Kind weinte, sie stieß mit dem Fuß nach ihm, und er jammerte laut. – »Willst Du schweigen, oder ich schlage dir deinen brüllenden Kopf entzwei!« Und sie schwang den Feuerkrug, den sie in der Hand hielt. Der Junge duckte sich mit einem Schrei auf die Erde. Da trat die Nachbarsfrau zur Tür herein. Auch sie trug ihren marito auf dem Arm. »Felicita! Was tust Du mit dem Kind?«

            »Das Kind gehört mir!« antwortete Felicita. »Ich kann es ermorden, wenn ich will und Dich dazu, Gianina!« und sie schwang ihren Feuerkrug. Die andere hob den ihren abwehrend in die Höhe und beide Töpfe fuhren zusammen, dass Scherben, Feuer und Asche im Zimmer umher flogen. Der Knabe aber war im Nu zur Tür hinaus, über den Hof und aus dem Haus.

            Das arme Kind lief, bis es ganz außer Atem war. Er machte halt vor der Kirche St. Croce, deren Tore sich in der vergangenen Nacht vor ihm geöffnet hatten, und ging hinein; alles strahlte. Er kniete vor dem ersten Grab zur Rechten nieder, es war Michelangelos Grab, und bald schluchzte er laut.

            Die Menschen kamen und gingen. Die Messe wurde gelesen, niemand nahm Notiz von dem Knaben. Nur ein ältlicher Bürger hielt an, betrachtete ihn – und ging dann fort, wie die anderen auch.

            Hunger und Durst plagten den Kleinen, er war halb ohnmächtig und so schwach. So kroch er in die Ecke zwischen der Wand und dem Marmormonument und fiel in Schlaf. Es war gegen Abend, als er wieder aufwachte. Jemand schüttelte ihn und er fuhr empor. Derselbe alte Bürger stand vor ihm.

            »Bist Du krank? Wo gehörst Du denn hin? Bist Du denn hier den ganzen Tag gewesen?« Das waren ein paar von den vielen Fragen, die der Alte an ihn richtete. Sie wurden beantwortet, und der alte Mann nahm ihn mit sich in sein kleines Haus in einer der Seitenstraßen in der Nähe. Es war eine Handschuhmacherwerkstatt, in die sie hereintraten. Die Frau saß noch fleißig beim Nähen, als sie kamen. Ein kleiner, weißer Bologneser, so kurz abgeschoren, dass man die rosenrote Haut sehen konnte, hüpfte auf den Tisch und sprang dem kleinen Knaben etwas vor.

            »Die unschuldigen Seelen kennen einander,« sagte die Frau und streichelte den Hund und den Knaben. Er bekam zu essen und zu trinken bei den guten Leuten, und sie erlaubten ihm auch, die Nacht über hier zubleiben. Am nächsten Tage wollte Vater Giuseppe mit seiner Mutter reden. Er bekam ein kleines ärmliches Bett, aber ihm, der so oft auf dem harten Steinpflaster schlafen musste, erschien es königlich prächtig. Er schlief gut und träumte von den schönen Bildern und dem Bronzeschwein.

            Vater Giuseppe ging am nächsten Morgen aus, und das arme Kind war wenig froh bei dem Gedanken, denn es wusste, dass dieser Gang dem Zweck diente, es zu seiner Mutter zurückzubringen. Und er weinte und küsste den kleinen lustigen Hund, und die Frau nickte ihnen beiden zu.

            Und was für einen Bescheid brachte Vater Giuseppe zurück? Er sprach lange mit seiner Frau, und sie nickte und streichelte den Knaben. »Es ist ein prächtiges Kind!« sagte sie. »Er könnte einen eben so guten Handschuhmacher abgeben, wie Du es warst! Und Finger hat er, so fein und geschmeidig. Die Madonna hat ihn zum Handschuhmacher bestimmt!«

            Und der Knabe blieb im Haus, und die Frau lehrte ihn selbst das Nähen. Er aß gut, er schlief gut, er wurde munter und begann nun Bellissima, so hieß der kleine Hund, zu necken. Die Frau drohte mit dem Finger und schalt und wurde böse. Und das nahm sich der Junge zu Herzen. Gedankenvoll saß er in seiner kleinen Kammer, die auf die Straße hinausging, wo die Häute getrocknet wurden.

            Dicke Eisenstangen waren vor den Fenstern. Er konnte nicht schlafen und seine Gedanken waren bei dem Bronzeschwein. Plötzlich hörte er es draußen: Klatsch, klatsch! Ja, das musste es sein! Er sprang ans Fenster, aber da war nichts zu sehen, es war alles vorbei.

            »Hilf dem Herrn, seinen Farbenkasten zu tragen!« sagte die Frau am Morgen zu dem Knaben, als der junge Nachbar, ein Maler, mit dem Kasten und einer zusammengerollten Leinwand beladen daher kam. Und der Knabe nahm den Kasten, folgte dem Maler und sie gingen nach der Galerie und gerade dieselbe Treppe hinauf, die er so gut von jener Nacht her kannte, als er auf dem Bronzeschwein geritten war. Er kannte die Statuen und Bilder, die herrliche Marmorvenus und die gemalte wieder, und er sah die Mutter Gottes, Jesus und Johannes.

            Nun hielten sie vor dem Bild des Bronzino an, wo Christus in die Unterwelt hinabfährt und die Kinder um ihn herum in süßer Erwartung des Himmels lächeln; das arme Kind lächelte auch, denn hier war es in seinem Himmel.

            »Nun kannst Du nachhause gehen« sagte der Maler zu ihm, da er bereits solange dagestanden hatte, wie der Maler seine Staffelei aufgestellt hatte!

            »Darf ich Euch beim Malen zusehen?« fragte der Knabe, »darf ich sehen, wie Ihr das Bild auf das weiße Stück hier herüber bekommt?«

            »Jetzt male ich nicht!« antwortete der Mann und nahm seine schwarze Kreide hervor. Hurtig bewegte sich die Hand, das Auge maß das große Bild, und trotzdem nur feine Striche erschienen, stand Christus doch bald schwebend, wie auf dem farbigen Bild, auf der Leinwand.

            »Aber so geh doch!« sagte der Maler, und der Knabe wanderte still heimwärts, setzte sich auf den Tisch und – lernte Handschuhe nähen.

            Aber den ganzen Tag über waren seine Gedanken in der Bildergalerie, und deshalb stach er sich in den Finger und stellte sich auch ungeschickt an, aber er neckte Bellissima nicht. Als es Abend wurde und die Haustür gerade offen stand, schlich er sich hinaus.

            Es war kalt aber sternenklar, hell und schön, und er wanderte durch die Straßen, in denen es bereits ruhig war, und bald stand er vor dem Bronzeschwein. Er beugte sich zu ihm nieder, küsste den blanken Rüssel und setzte sich auf seinen Rücken. »Du freundliches Tier,« sagte er, »wie habe ich mich nach Dir gesehnt! Heute Nacht müssen wir einen Ritt machen!«

            Das Bronzeschwein lag unbeweglich, und das frische Wasser sprudelte aus seinem Maul. Der Kleine saß wie ein Ritter darauf, da zog ihn jemand an den Kleidern. Er schaute hin – Bellissima, die kleine nackte, geschorene Bellissima war es. – Der Hund war mit aus dem Haus geschlüpft und war dem Kleinen gefolgt, ohne dass er es bemerkt hatte. Bellissima bellte, als ob sie sagen wollte: siehst Du, ich bin mitgekommen. Weshalb hast Du Dich hierher gesetzt?

            Kein feuriger Drache hätte den Knaben mehr erschrecken können, als der kleine Hund an diesem Ort. Bellissima auf der Straße und noch dazu, ohne angezogen zu sein, wie es die alte Mutter nannte! Was sollte daraus nur werden!

            Der Hund kam niemals zur Winterszeit in die Luft, ohne in ein kleines hübsch für ihn zugeschnittenes und genähtes Lammfellchen gehüllt zu sein. Das Fell konnte mit einem roten Band fest um den Hals gebunden werden, es war mit einer Schleife und einer Klingel geschmückt und es konnte auch unter dem Bauch zugebunden werden.

            Der Hund sah beinahe wie ein Zicklein aus, wenn er zur Winterszeit in diesem Anzug mit der Signora ausgehen durfte. Bellissima war also mitgekommen und nicht angezogen. Was würde nur daraus werden? Alle Phantasien waren verschwunden, doch küsste der Knabe das Bronzeschwein und nahm Bellissima auf den Arm; das Tierchen zitterte vor Kälte deshalb lief der Junge so schnell er nur laufen konnte.

            »Womit läufst Du denn da!« riefen zwei Gendarmen, denen er begegnete, und Bellissima bellte. »Wo hast Du den schönen Hund gestohlen?« fragten sie und nahmen ihn dem Knaben weg.

            »O, gebt ihn mir wieder!« jammerte der Knabe.

            »Wenn Du ihn nicht gestohlen hast, kannst Du zuhause sagen, dass der Hund auf der Wache abgeholt werden kann!« und sie nannten ihm den Ort und gingen mit Bellissima davon.

            Das war eine Not und ein Jammer! Er wusste nicht, ob er in den Arno springen oder nachhause gehen und dies eingestehen sollte. Sie würden ihn gewiss totschlagen, dachte er. Und er ging heim, hauptsächlich darum, weil er totgeschlagen werden wollte.

            Die Tür war geschlossen und er konnte den Klopfer nicht erreichen. Niemand war auf der Straße, aber ein Stein lag lose vor dem Haus. Mit dem donnerte er an die Tür. »Wer ist das?« riefen sie von innen. –

            »Ich bin es!« sagte er, »Bellissima ist fort! schließt mir auf und schlagt mich tot!«

            Das war ein Entsetzen, besonders bei der Frau, über die arme Bellissima! Sie sah sogleich auf die Wand, wo das Umhängefell des Hundes hängen sollte. Das kleine Lammfell hing da.

            »Bellissima auf der Wache!« schrie sie ganz laut. »Du böses Kind! Wie hast Du ihn denn hier herausbekommen! Er wird tot frieren! Das feine Tier bei den rohen Soldaten!«

            Vater musste gleich gehen! – und die Frau jammerte und der Knabe weinte – Alle Leute im Haus liefen zusammen, der Maler auch. Er nahm den Knaben zwischen seine Knie und fragte ihn aus. So erfuhr er stückweise die ganze Geschichte, von dem Bronzeschwein und der Galerie.

            Es war nicht besonders leicht zu verstehen, aber der Maler tröstete den Kleinen, redete der Alten gut zu, aber sie gab sich nicht zufrieden, ehe Vater mit Bellissima ankam, der so lange zwischen den Soldaten gewesen war. Das war eine Freude! Und der Maler streichelte den armen Jungen und gab ihm ein Handvoll Bilder.

            Ach, was waren das für prächtige Dinge! Was für lustige Köpfe! Aber vor allem – da war springlebendig das Bronzeschwein selbst. Ach, nichts in der Welt konnte herrlicher sein! Mit ein paar Strichen stand es auf dem Papier, und sogar das Haus dahinter war angedeutet.

            »Wer doch zeichnen und malen könnte! dann könnte man sich die ganze Welt erobern!«

            Am nächsten Tag in dem ersten unbewachten Augenblick griff der Kleine nach dem Bleistift und auf der weißen Seite des einen Bildes versuchte er die Zeichnung des Bronzeschweins wiederzugeben. Und es glückte!

            Ein bisschen schief, ein bisschen verquer, ein Bein dick, das andere dünn, aber es war doch zu erkennen. Er jubelte hoch auf! Der Bleistift wollte nur noch nicht so recht, wie er sollte, das sah er wohl. Aber am nächsten Tag stand da ein anderes Bronzeschwein neben dem ersten, und das war hundertmal besser; das dritte war so gut, dass jeder es erkennen konnte.

            Aber mit dem Handschuhnähen stand es schlimm und die Besorgungen in der Stadt dauerten immer länger, denn das Bronzeschwein hatte ihn jetzt gelehrt, dass sich alle Bilder auf das Papier übertragen lassen können, und die Stadt Florenz ist ein ganzes Bilderbuch, wenn man nur darin blättern mag. Da steht auf der Piazza della Trinità eine schlanke Säule, auf der die Göttin der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen und der Wage steht. Bald stand sie auf dem Papier, und es war der kleine Junge bei dem Handschuhmacher, der sie dahingesetzt hatte.

            Die Bildersammlung wuchs, aber sie enthielt bisher nur die toten Dinge. Da sprang eines Tages Bellissima vor ihm her; »Steh still!« sagte er, »dann wirst Du hübsch und kommst in meine Bildersammlung!« Aber Bellissima wollte nicht stillstehen, so musste sie also gebunden werden. Kopf und Schwanz wurden angebunden, sie bellte und sprang, die Schnur wurde straff; da kam die Signora.

            »Du gottloser Junge! Das arme Tier!« war alles, was sie auszurufen vermochte. Sie stieß den Knaben beiseite, trat nach ihm mit dem Fuß und wies ihn aus dem Hause, ihn, den undankbarsten Bösewicht, das gottloseste Kind in der Welt und weinend küsste sie ihre kleine, halberwürgte Bellissima.

            Der Maler kam in diesem Augenblick die Treppe herauf und – hier ist der Wendepunkt der Geschichte! – 1834 war in der Academia delle Arte eine Ausstellung in Florenz. Zwei nebeneinander aufgestellte Bilder sammelten eine Menge Beschauer. Auf dem kleinsten Bilde war ein kleiner lustiger Knabe dargestellt, der saß und zeichnete. Als Modell diente ein kleiner weißer, völlig kurz geschorener Mops. Aber das Tier wollte nicht still stehen und war daher mit Bindfaden am Kopf und Schwanz festgebunden.

            Es war eine solche Lebenswahrheit darin, dass sie jeden ansprechen musste. Der Maler war, wie man erzählte, ein junger Florentiner, der als kleines Kind von der Gasse aufgelesen, und dann bei einem alten Handschuhmacher erzogen wurde.

            Das Zeichnen hatte er sich selbst beigebracht. Ein jetzt berühmter Maler hatte dieses Talent entdeckt, gerade als der Knabe weggejagt werden sollte, weil er den Liebling der Frau, den kleinen Mops, gebunden, und ihn so zwangsweise zum Modell gemacht hatte.

            Aus dem Handschuhmacherjungen war ein großer Maler geworden! Das bewies dies Bild, das bewies besonders das daneben hängende größere Gemälde. Dies zeigte nur eine einzige Figur, einen zerlumpten, schönen Knaben, der auf der Straße saß und schlief. Er lehnte sich an das Bronzeschwein in der Straße Porta Rossa.

            Alle Besucher kannten den Ort. Des Kindes Arme ruhten auf dem Kopf des Schweins. Der Kleine schlief ruhig und sorglos, und die Lampe vor dem Madonnenbild warf einen starken effektvollen Lichtschein auf das bleiche, schöne Antlitz des Kindes.

            Es war eine prächtige Arbeit. Ein großer vergoldeter Rahmen umschloss es, und über einer Ecke des Rahmens hing ein Lorbeerkranz, aber zwischen die grünen Blätter war ein schwarzes Band gewunden, ein langer Trauerflor hing davon hinunter.

            Der junge Künstler war in diesen Tagen gestorben.

            Das Metallschwein – Hans Christian AndersenMärchen Italien Florenz - Schwein

            Autor*in: Hans Christian Andersen

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              In der Stadt Florenz, nicht weit von der Piazza del Granduca, liegt eine kleine Querstraße, ich glaube, man nennt sie Porta rossa. In dieser, vor einer Art Grünkramladen, befindet sich ein kunstreich und sorgfältig gearbeitetes Bronzeschwein. Ein frisches, klares Wässerlein rieselt aus dem Maul des Tieres, das vor Alter ganz schwarzgrün aussieht.

              Die Maus im Kornspeicher - Leo Tolstoi

              Die Maus im Kornspeicher – Leo Tolstoi - Fabel
              Die Maus im Kornspeicher  

              Die Maus im Kornspeicher – Leo Tolstoi - Fabel


              Es war einmal eine Maus, die lebte unter einem Kornspeicher. Die hölzernen Planken hatten ein kleines Loch, gerade über der Wohnung der Maus, und ganz langsam fiel ein Korn nach dem anderen in ihr Nest.

              Die Maus hatte daher ein herrliches Leben und war immer gut genährt. Nach einziger Zeit aber begann es sie zu kränken, dass keiner ihrer Freunde wusste, wie gut es ihr ging.

              Daher nagte die Maus so lange an dem Holz, bis das Loch größer wurde und mehr Körner in ihr Nest herab fielen. Dann lief sie zu allen anderen Mäusen in der Umgebung und lud sie zu einem Fest im Kornspeicher ein.

              »Kommt alle zu mir«, rief sie den anderen zu, »ich werde euch bewirten!«

              Aber als dann die Gäste kamen und die Maus sie zum Loch im Speicher führen wollte, da war kein Loch mehr in den Brettern, und kein einziges Korn lag mehr im Nest der Maus.

              Das große Loch im Boden hatte die Aufmerksamkeit des Bauern erregt, und er hatte es zugenagelt.

              Die Maus im Kornspeicher – Leo TolstoiFabel

              Autor*in: Leo Tolstoi

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                Es war einmal eine Maus, die lebte unter einem Kornspeicher. Die hölzernen Planken hatten ein kleines Loch, gerade über der Wohnung der Maus, und ganz langsam fiel ein Korn nach dem anderen in ihr Nest. Die Maus hatte daher ein herrliches Leben und war immer gut genährt.

                Das Manuskript in der Flasche

                Das Manuskript in der Flasche - Edgar Allan Poe - Novelle
                Das Manuskript in der Flasche 

                Das Manuskript in der Flasche - Edgar Allan Poe


                Von meiner Heimat und meiner Familie lässt sich wenig sagen. Schlechte Behandlung hat mich von dieser vertrieben, und Jahre der Trennung haben mich jener entfremdet. Ererbter Reichtum verpflichtete mich aber zu einem außergewöhnlich sorgfältigen Bildungsgang, und mein grüblerischer Geist ermöglichte es mir, die Schätze frühen Studiums gründlich zu verarbeiten.

                Von allen Dingen erfreuten mich am meisten die Werke der deutschen Moralisten, nicht etwa, weil ich so unbedacht war, ihre geschwätzige Narrheit zu bewundern, sondern weil meine streng logische Denkweise es mir leicht machte, ihre Fehler aufzudecken.

                Man hat mir sogar oft ein allzu nüchternes Denken vorgeworfen und meinen Mangel an Phantasie als Verbrechen hingestellt; ja, ich war berüchtigt wegen meiner Skepsis. Und in der Tat befürchte ich, dass meine Vorliebe für Physik auch meinen Geist in einen Fehler unserer Zeit verfallen ließ – ich meine: in die Gewohnheit, alle Dinge auf die Prinzipien eben jener Wissenschaft zurückzuführen – selbst wenn sie noch so sehr außerhalb ihres Bereiches lagen.

                Nach vielen auf weiten Reisen im Ausland verbrachten Jahren trat ich im Jahre 18.. von Batavia, der Hafenstadt der wohlhabenden und volkreichen Insel Java, eine Segelreise nach dem Archipel der Sunda- Inseln an. Der Anlass zu dieser Reise war kein geschäftlicher, sondern lediglich eine nervöse Rastlosigkeit, die mich mit teuflischer Ausdauer plagte.

                Unser Fahrzeug war ein schönes kupferbeschlagenes Schiff von etwa vierhundert Tonnen, das in Bombay aus malerischem Teakholz gebaut worden war. Es war mit Baumwolle und Öl von den Lachadive-Inseln befrachtet. Ferner hatten wir Kokosbast, Zucker, konservierte Butter, Kokosnüsse und einige Behälter mit Opium an Bord. Das Schiff war mit dieser leichten Last fest gefüllt und hatte infolgedessen entsprechenden Tiefgang.

                Wir stachen bei schwachem Wind in See und segelten tagelang an der Ostküste von Java dahin, und der einzige Zwischenfall auf unserer eintönigen Fahrt war das gelegentliche Zusammentreffen mit einem der unserer Inselgruppe zugehörigen malabarischen Schiffchen.

                Eines Abends, als ich an Backbord lehnte, gewahrte ich im Nordosten eine seltsame einzelnstehende Wolke. Sie fiel mir auf – einmal ihrer Farbe wegen, und dann, weil es die erste Wolke war, die sich seit unserer Ausfahrt aus Batavia sehen ließ. Ich beobachtete sie aufmerksam bis Sonnenuntergang, als sie sich ganz plötzlich nach Osten und Westen ausbreitete und den Horizont mit einem schmalen Nebelstreif umgürtete, der aussah wie ein langer flacher Küstenstrich.

                Bald darauf überraschte mich die dunkelrote Farbe des Mondes und das sonderbare Aussehen des Meeres, das sich ungemein schnell veränderte; das Wasser schien durchsichtiger als gewöhnlich. Obgleich ich deutlich auf den Grund sehen konnte, bewies mir das Senkblei, dass unser Schiff fünfzehn Faden lief.

                Die Luft war jetzt unerträglich heiß und mit Dunstspiralen geladen, wie sie etwa erhitztem Eisen entsteigen. Je näher die Nacht herankam, desto mehr erstarb der schwache Windhauch, und eine Ruhe herrschte, wie sie vollkommener gar nicht gedacht werden kann. Eine auf Hinterdeck brennende Kerzenflamme machte nicht die leiseste Bewegung, und ein langes, zwischen Daumen und Zeigefinger gehaltenes Haar hing ohne die geringste wahrnehmbare Vibration.

                Da aber der Kapitän sagte, er sehe keine Anzeichen einer drohenden Gefahr, und da wir quer zum Ufer standen, ließ er die Segel auftuchen und den Anker fallen. Es wurde keine Wache aufgestellt, und die Schiffsmannschaft, die hauptsächlich aus Malaien bestand, lagerte sich ungezwungen auf Deck.

                Ich ging hinunter – mit der bestimmten Vorahnung eines Unheils. Alle Anzeichen schienen mir auf einen Samum hinzudeuten. Ich sprach dem Kapitän von meinen Befürchtungen; aber er schenkte meinen Worten keine Beachtung und würdigte mich nicht einmal einer Antwort. Meine Unruhe ließ mich jedoch nicht schlafen, und gegen Mitternacht ging ich an Deck.

                Als ich den Fuß auf die oberste Stufe der Kajütentreppe setzte, überraschte mich ein lautes, summendes Geräusch, das dem Sausen eines kreisenden Mühlrades glich, und ehe ich seine Ursache feststellen konnte, erbebte das Schiff in seinem ganzen Bau. Im nächsten Augenblick stürzte ein heulender Schaumregen auf uns nieder, raste über uns hin und fegte das Schiff von Steven bis Heck leer.

                Die jähe Wucht des Windstoßes war für die Rettung des Schiffes in gewissem Grad von Vorteil. Obwohl es vom Wasser überschwemmt worden war, hob es sich doch, als seine Masten über Bord gegangen waren, nach einer Minute schwerfällig wieder aus der Tiefe, schwankte eine Weile unter dem ungeheuren Druck des Sturmes und richtete sich schließlich wieder auf.

                Durch welches Wunder ich der Vernichtung entging, ist unmöglich festzustellen. Zuerst durch den Wasserguss betäubt, fand ich mich, als ich wieder zur Besinnung kam, zwischen dem Hintersteven und dem Steuer eingeklemmt. Mit großer Mühe kam ich auf die Füße, und als ich verwirrt um mich blickte, kam mir zunächst der Gedanke, wir seien in die Brandung geraten; so über alles Denken schrecklich war der Wirbel sich türmender, schäumender Wasser, die uns umtosten.

                Nach einiger Zeit vernahm ich die Stimme eines alten Schweden, der sich, kurz bevor wir den Hafen verließen, als Matrose bei uns verdingt hatte. Mit aller Kraft rief ich ihn an, und sogleich taumelte er zu mir. Wir entdeckten bald, dass wir die einzigen Überlebenden des Unfalls waren. Alle an Deck mit Ausnahme von uns beiden waren über Bord gefegt worden; der Kapitän und die Maate mussten im Schlaf umgekommen sein, denn die Kajüten waren ganz unter Wasser gesetzt worden.

                Ohne Beistand konnten wir nur wenig zur Sicherheit des Fahrzeugs tun, und unsere ersten Bemühungen wurden durch die Erwartung sofortigen Untergangs lahmgelegt. Unser Ankertau war natürlich beim ersten Sturmstoß zerrissen wie ein Bindfaden, andernfalls wären wir im Nu vernichtet gewesen. Wir trieben mit furchtbarer Schnelligkeit dahin, und die Wasser machten alles um uns her zu Splittern. Das Fachwerk unseres Hecks war grässlich zerschmettert, und wir waren in jeder Hinsicht furchtbar zugerichtet.

                Zu unserer unaussprechlichen Freude aber fanden wir die Pumpen unversehrt und sahen, dass wir nur wenig Ballast verloren hatten. Die erste Wut des Sturmes war schon gebrochen, und wir erwarteten von der Heftigkeit des Windes wenig Gefahr; mit Verzweiflung aber sahen wir der Zeit entgegen, da er sich legen würde, denn wir wussten, dass wir mit unserm lecken Fahrzeug in der nachfolgenden Hochflut zugrunde gehen mussten.

                Diese sichere Vorahnung schien sich jedoch nicht so bald erfüllen zu wollen. Fünf volle Tage und Nächte – während deren unser einziger Unterhalt aus einer geringen Menge Zucker bestand, die wir mit großer Mühe dem Vorderschiff entnahmen – raste der Schiffsrumpf mit unfassbarer Geschwindigkeit dahin, von kurzen, sprunghaften Windstößen getrieben, die, ohne der ersten Heftigkeit des Samums gleichzukommen, noch immer schrecklicher waren als irgendein Sturm, den ich vordem erlebt.

                Unser Kurs war in den ersten vier Tagen bis auf geringe Abweichungen süd-südöstlich, und wir mussten an der Küste von Neu-Holland entlang getrieben sein. Am fünften Tage wurde die Kälte unerträglich, obgleich der Wind ein wenig mehr aus Norden kam. Die aufgehende Sonne hatte einen grünlich gelben Schein und stieg nur wenige Grade über den Horizont empor; sie gab nur ein unbestimmtes Licht. Es waren keine Wolken sichtbar, aber der Wind nahm zu und blies in unregelmäßigen, wuchtigen Stößen.

                Gegen Mittag – so gut wir das feststellen konnten – wurde unsere Aufmerksamkeit von neuem durch den Anblick der Sonne gefesselt. Sie gab kein eigentliches Licht, aber einen matten, düsteren Glanz ohne Widerschein, als liefen alle ihre Strahlen in einen Punkt zusammen. Gerade bevor sie ins wogende Meer sank, erlosch ihr zentrales Feuer, als habe eine unerklärliche Macht es ausgelöscht. Sie war nur noch ein schwacher silberner Reif, als sie hinab glitt in den unermesslichen Ozean.

                Von nun ab umhüllte uns tiefste Dunkelheit, so dass wir auf zwanzig Schritte Entfernung vom Schiff keinen Gegenstand zu erkennen vermochten. Unausgesetzt umgab uns ewige Nacht, die nicht einmal von dem phosphoreszierenden Meeresleuchten erhellt wurde, an das wir in den Tropen gewöhnt gewesen waren. Der Sturm raste mit unverminderter Heftigkeit, aber die breite Schaumfläche, die uns bisher begleitet hatte, schwamm nicht mehr auf den Wogen.

                Rundum war Schrecken und tiefste Finsternis und ungeheure, ebenholzschwarze drohende Wüste. Mehr und mehr wurde der Verstand des alten Schweden von abergläubischem Grauen umnachtet, und meine eigene Seele hüllte sich in stummes Entsetzen. Wir gaben den Versuch, die Herrschaft über das Schiff wieder zu erlangen, als völlig nutzlos auf, banden uns, so gut es eben ging, am stehengebliebenen Stumpf des Besanmastes fest und spähten angstvoll in den weiten Ozean hinaus.

                Jede Möglichkeit einer Zeitberechnung fehlte uns, und ebenso wenig wussten wir, wo wir uns befanden. Wir waren uns aber völlig klar, weiter nach Süden vorgedrungen zu sein, als je ein Seefahrer gekommen war, und wunderten uns um so mehr, nicht den üblichen Eisbergen zu begegnen. Inzwischen drohte jeder Augenblick, unser letzter zu sein – jede berghohe Woge uns zu verschlingen. Das Stürmen übertraf alles, was ich für möglich gehalten hätte, und dass wir nicht sofort begraben wurden, ist ein Wunder.

                Mein Gefährte erwähnte, wie leicht unsere Ladung sei, und erinnerte mich an die hervorragende Leistungsfähigkeit unseres Schiffes. Ich konnte aber nicht umhin, die völlige Sinnlosigkeit jeglicher Hoffnung zu fühlen, und erwartete schweren Herzens den Tod; ich gab uns höchstens noch eine Stunde Frist, denn mit jedem Knoten, den das Schiff machte, wurden die ungeheuren schwarzen Wogen noch ungeheurer, noch grauenvoller. Bald warf es uns in atemberaubende Höhen empor, die nicht einmal der Albatros erfliegt, bald schwindelte uns bei dem rasenden Sturz in irgendeine Wasserhölle, wo die Luft erstickend war und kein Laut den Schlummer des Kraken störte.

                Wieder einmal befanden wir uns auf dem Grunde eines solchen Höllenschlundes, als plötzlich ein Schrei meines Gefährten die Nacht durchgellte.

                »Sieh! Sieh!« schrie er mir in die Ohren, »allmächtiger Gott! Sieh! Sieh!«

                Während er sprach, gewahrte ich einen matten Schimmer roten Lichtes, der an den Seiten des ungeheuren Abgrunds, in dem wir lagen, herunter floss und unser Deck mit eigentümlichem Glanz überstrahlte. Ich wandte den Blick nach oben und sah ein Schauspiel, das mir das Blut in den Adern erstarren machte. In grauenvoller Höhe über uns und genau am Rande des gewaltigen Trichters schwebte ein riesiges Schiff von etwa viertausend Tonnen.

                Obgleich es auf dem Gipfel einer Woge stand, die seine eigene Höhe mehr als hundertmal übertraf, so schien es mir dennoch größer, als irgendein Linienschiff oder Ostindienfahrer jemals sein konnte. Sein ungeheurer Rumpf war von tiefem Schwarz und wies keine Schnitzerei und keinen Zierrat auf, wie er sonst bei Schiffen üblich ist. Aus den offenen Schießscharten lugten in langer Reihe erzene Kanonenrohre und spiegelten das Licht zahlloser Laternen wider, die in der Takelage hin- und her schwangen.

                Was uns aber am meisten wunderte und entsetzte, war, dass das Schiff mit vollen Segeln hineinraste in das grauenvolle Meer und den unnatürlichen Orkan. Als wir es zuerst entdeckten, sah man nur den Bug, der langsam aus irgendeinem fürchterlichen Abgrund auftauchte. Einen schaudervollen Augenblick schwebte es auf schwindelnd hohem Wogenkamm, wie in stolzem Bewusstsein seiner Erhabenheit, dann bebte es, schwankte und – kam herab.

                Und seltsam: ich wurde jetzt ganz ruhig und überlegen. Ich stolperte so weit nach rückwärts, als es anging, und erwartete furchtlos den Untergang. Unser eigenes Schiff hatte mittlerweile den Kampf aufgegeben und versank mit seinem Vorderteil ins Meer. Der niedersausende Koloss traf mit aller Wucht auf diesen unter Wasser befindlichen Teil, und die unausbleibliche Folge war, dass ich mit großer Heftigkeit auf das fremde Schiff hinübergeschleudert wurde.

                Als ich nieder fiel, stand das Schiff in den Wind und wendete, und der dadurch entstehenden Verwirrung schob ich es zu, dass mein Erscheinen von der Mannschaft nicht bemerkt wurde. Ohne große Schwierigkeit gelangte ich ungesehen zur großen Luke, die zum Teil geöffnet war, und fand bald Gelegenheit, mich im Schiffsraum zu verbergen. Warum ich das tat, vermag ich kaum zu sagen.

                Ein unbestimmtes Grauen vor der Besatzung des Schiffes hatte mich gleich bei ihrem ersten Anblick erfasst und war vielleicht die Hauptursache, dass ich mich so versteckte. Ich hatte kein Verlangen, mich einem Haufen Leute anzuvertrauen, die mir beim ersten Blick sonderbar und unheimlich erschienen waren. Ich hielt es daher für ratsam, mir im Schiffsraum ein Versteck herzurichten. Ich tat dies, indem ich einen Haufen Bretter in der Weise zurecht schob, dass ein kleiner freier Raum zwischen den ungeheuren Schiffsrippen für mich entstand.

                Ich hatte mein Werk kaum vollendet, als nahende Schritte mich zwangen, in meinen Winkel zu kriechen. Ein Mann ging schwankend unsicheren Schrittes vorbei. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, seine Gesamterscheinung dagegen gut wahrnehmen. Er schien von der Last der Jahre schwach und gebrechlich; seine zitternden Knie vermochten ihn kaum zu tragen. Er murmelte in dumpfen, abgerissenen Worten vor sich hin – in einer Sprache, die ich nicht verstehen konnte – und wühlte in einer Ecke in einem Haufen seltsamer Instrumente und halb zerfallener Schiffskarten.

                Sein Gebaren war eine sonderbare Mischung von kindischem Greisentum und der feierlichen Würde eines Gottes. Er ging schließlich wieder an Deck, und ich sah ihn nicht mehr.

                Ein Gefühl, für das ich keinen Namen habe, hat von meiner Seele Besitz genommen – ein Empfinden, das keine Analyse zulässt, das durch keinen altüberlieferten Lehrsatz, durch keine Erfahrung geklärt werden und zu dem, wie ich fürchte, selbst die Zukunft keinen Schlüssel bieten kann. Bei einem Geist wie dem meinigen ist alles Nachsinnen von Übel. Ich werde niemals – ja, ich weiß es, niemals diese Gedanken und Vorstellungen zu einem Abschluss bringen. Doch ist es durchaus nicht verwunderlich, wenn diese Vorstellungen unbestimmt sind, da sie so neuartigen Quellen entspringen. Ein neuer Begriff, eine neue Wesenheit, ist meiner Seele aufgegangen.

                Es ist lange her, seit ich das Deck dieses grausigen Schiffes zuerst betrat, und die Fäden meines Geschicks scheinen in einem Punkt zusammenzulaufen. Unbegreifliche Menschen! In einer Versunkenheit, deren Art und Ursache mir unergründlich ist, gehen sie an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Mich zu verbergen ist einfach Narrheit, denn das Volk will mich nicht sehen!

                Soeben erst bin ich dicht am Steuermann vorbeigegangen; und es ist noch nicht lange her, dass ich mich in die Privatkabine des Kapitäns hineinwagte und ihr das Material entnahm, um diese Aufzeichnungen nieder zu schreiben. Ich werde von Zeit zu Zeit dies Tagebuch fortsetzen. Es ist wahr: ich werde nicht leicht Gelegenheit finden, es der Welt bekannt zu geben, ich werde aber den Versuch nicht unterlassen. Ich werde das Manuskript im letzten Augenblick in eine Flasche schließen und diese ins Meer werfen.

                Wieder hat sich etwas ereignet, um meinen Grübeleien neue Nahrung zu geben. Sind solche Dinge das Werk blinden Zufalls? Ich hatte mich an Deck gewagt und mich, ohne dass man mir die geringste Beachtung schenkte, zwischen einem Stapel Webleinen und alter Segel auf den Boden der Schaluppe niedergeworfen.

                Während ich über mein eigenartiges Schicksal nachdachte, strich ich ganz unbewusst mit einem Teerpinsel, der mir irgendwie in die Hand geraten war, über den Knick eines sorgsam gefalteten Leesegels, das neben mir auf einer Tonne lag. Das Leesegel ist jetzt über dem Schiff ausgespannt, und die gedankenlosen Pinselstriche bilden das groß hingeschriebene Wort: Entdeckung.

                Über die Bauart des Schiffes habe ich in letzter Zeit viele Beobachtungen gemacht. Obgleich gut bewehrt, scheint es mir doch kein Kriegsschiff zu sein. Die Takelage, seine Form und allgemeine Ausrüstung sprechen dagegen. Was es nicht ist, kann ich leicht wahrnehmen; was es ist, lässt sich unmöglich sagen.

                Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wenn ich seine seltsame Gestalt, den eigentümlichen Bau seiner Spieren, seine riesenhafte Größe, seine unzähligen Segel, seinen streng einfachen Bug und sein altmodisches Heck betrachte, so sind mir das längst vertraute Dinge, und mit diesen unklaren Schatten von Erinnerung vermischt sich eine unbestimmte Vorstellung von alten Büchern und Chroniken und weit vergangenen Jahren.

                Ich habe die Schiffsrippen untersucht. Sie bestehen aus einem mir fremden Material. Das Holz hat eine eigenartige Struktur, die es gerade für den Zweck, dem es dient, ungeeignet erscheinen lässt. Ich meine seine ungemeine Porosität, die nicht zu verwechseln ist mit dem wurmstichigen Zustand aller Schiffe in diesen Gewässern und auch nichts mit dem natürlichen Altersverfall zu tun hat.

                Die Bemerkung mag vorwitzig erscheinen, doch ich behaupte, das Holz hätte von der Sumpfeiche sein können, wenn es möglich wäre, Sumpfeichenholz durch irgendwelche Mittel biegsam zu machen.

                Beim Überlesen dieses letzten Satzes kommt mir auf einmal ein Kernspruch ins Gedächtnis, den ein alter, wetterharter holländischer Seemann anzuwenden pflegte: »Es ist so gewiss«, sagte er, sobald jemand an seiner Wahrhaftigkeit zweifelte, »so gewiss, als es ein Meer gibt, in welchem das Schiff selbst in seinem Gebälk wächst, wie der lebendige Leib des Seefahrers.«

                Vor etwa einer Stunde war ich kühn genug, mich in eine Gruppe der Mannschaft hineinzudrängen. Sie zollten mir nicht die geringste Aufmerksamkeit und schienen, obgleich ich mitten unter ihnen stand, keine Ahnung von meiner Gegenwart zu haben. Sie alle trugen, gleich dem einen, den ich zuerst im Schiffsraum gesehen hatte, untrügliche Zeichen hohen Alters.

                Ihre Knie wankten vor Schwäche; ihre Schultern waren von Alter und Hinfälligkeit tief gebeugt; ihre zusammengeschrumpfte Haut rasselte im Wind; ihre Stimmen waren leise, zittrig und heiser, ihre Augen glanzlos und triefend, und ihre dünnen grauen Haare sträubten sich furchtbar im Sturm. Rund um sie her, überall an Deck verstreut, lagen mathematische Instrumente von wunderlicher und ganz veralteter Konstruktion.

                Ich erwähnte vor einiger Zeit das Hissen des Leesegels. Seit jener Zeit hat das Schiff, vom Winde umher geworfen, seinen schrecklichen Lauf nach Süden fortgesetzt; alle Segel, selbst die armseligsten Fetzen, sind vom Royalsegel bis zur untersten Leesegelspiere gehisst, und jeden Augenblick tauchen seine Bramsegel-Rahenfocks in die schaudervollste Wasserhölle, die Menschengeist sich nur vorstellen kann. Ich komme soeben von Deck, wo es mir unmöglich war, Fuß zu fassen, obgleich die Mannschaft wenig Unbehagen zu verspüren scheint.

                Es ist ein unerhörtes Wunder, dass unser ungeheures Schiff nicht sofort von den Wogen verschlungen wird. Sicherlich sind wir verdammt, für immer am Rande der Ewigkeit dahinzuschweben, ohne den letzten Sprung in den Abgrund tun zu dürfen. Von Wogen, tausendmal höher als ich sie je gesehen, gleiten wir herab mit der Sicherheit einer Seemöwe, und die gewaltigen Wasser bäumen sich über uns wie Dämonen der Tiefe, doch wie Dämonen, die nur drohen, aber nicht zerstören dürfen. Ich komme dahin, unsere auffallende Rettung aus jeder Gefahr der einzig natürlichen Ursache solcher Wirkung zuzuschieben: ich muss annehmen, das Schiff befinde sich in irgendeiner Strömung von mitreißender Gewalt.

                Ich habe dem Kapitän von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden in seiner eigenen Kabine – aber es kam, wie ich erwartete: er schenkte mir keine Beachtung. Obgleich ein zufälliger Beobachter in seiner Erscheinung nichts Außergewöhnliches sehen wird, so mischte sich doch in die Bewunderung, mit der ich zu ihm aufsah, ein unwiderstehliches Gefühl von Ehrerbietung und Scheu.

                An Leibesgröße kommt er mir fast gleich; er hat also etwa fünf Fuß acht Zoll. Seine Gestalt ist stark und wohl gebaut, weder besonders robust noch sonstwie bemerkenswert. Es ist der eigenartige Gesichtsausdruck – ist die starke, wundersame, ergreifende Gewissheit so hohen, so ungeheuren Alters, die sich meiner Seele unauslöschlich einprägen. Seine nur wenig gefurchte Stirn scheint wie von Myriaden von Jahren gezeichnet. Seine grauen Haare sind Urkunden der Vergangenheit, und seine graueren Augen Sibyllen der Zukunft.

                Auf dem Boden der Kabine lagen allenthalben seltsame Folianten mit Eisenschlössern und verrostete Instrumente und veraltete, längst vergessene Karten. Er stützte den Kopf in die Hand und brütete mit fieberndem, unruhigem Blick über einem Pergamentblatt, das einen Befehl zu enthalten schien, wenigstens trug es die Unterschrift eines Monarchen. Er murmelte vor sich hin – ganz wie der erste Seemann, den ich im Schiffsraum gesehen hatte –, und wieder waren es unverständliche Worte einer fremden Sprache; und ob gleich der Mann dicht neben mir war, schien seine Stimme wie aus Meilenferne zu mir her zu dringen.

                Das Schiff und alles auf ihm ist mit Greisenhaftigkeit geladen. Die Mannschaft gleitet hin und her wie Gespenster begrabener Jahrhunderte; ihre Augen haben einen gierigen, rastlosen Ausdruck, und wenn ihre Gestalten im unsicheren Schein der Laternen meinen Weg kreuzen, beschleicht mich ein Gefühl, wie ich es nie zuvor empfunden, obwohl ich mich mein Leben lang mit Altertümern befasst und in Balbek und Tadmor und Persepolis die Schatten zerfallener Säulen in mich aufgesogen habe, bis meine Seele selber zur Ruine wurde.

                Ich blicke um mich und schäme mich meiner früheren Besorgnisse. Wenn ich schon vor dem Wind zitterte, der uns bisher begleitete, muss ich nicht vor Entsetzen vergehen in diesem Chaos von Sturm und Meer, demgegenüber Bezeichnungen wie Wirbelwind und Samum bedeutungslos sind? In nächster Nähe des Schiffes ist alles Nacht und unergründlich schwarzes Wasser; in der Entfernung von etwa einer Meile aber, zu beiden Seiten des Schiffes, sieht man undeutlich und in Abständen ungeheure Eiswälle in den trostlosen Himmel ragen, wie Mauern, die das Weltall umschließen.

                Es ist, wie ich annahm: das Schiff befindet sich in einer Strömung – wenn man diesen Namen anwenden kann auf eine Flut, die heulend und kreischend zwischen den Eiswällen gen Süden donnert, mit der Geschwindigkeit eines sich überstürzenden Wasserfalls.

                Das Grauen meiner Empfindungen zu begreifen, ist, wie ich annehme, ganz unmöglich; dennoch wird selbst meine Verzweiflung von der Neugier beherrscht, in die Geheimnisse dieser schaudervollen Gegend einzudringen, von einer Neugier, die mir die entsetzlichste Todesart erträglich macht.

                Es ist Tatsache, dass wir irgendeiner unerhörten Erkenntnis entgegeneilen – irgendeinem unenthüllbaren Geheimnis, dessen Enträtselung Untergang bedeutet. Vielleicht führt dieser Strom uns bis zum Südpol selbst. Ich muss bekennen, dass diese augenscheinlich so absurde Vorstellung alle Wahrscheinlichkeit für sich hat.

                Die Mannschaft wandert mit rastlosen, zitternden Schritten an Deck auf und ab; ihre Gesichter aber tragen eher den Ausdruck leidenschaftlicher Hoffnung, als den mutloser Verzweiflung.

                Wir treiben noch immer vor dem Wind, und da wir mit Segeln ganz bepackt sind, wird das Schiff zuweilen geradezu in die Luft gehoben! Grauen über Grauen! – Die Eismauern rechts und links hören plötzlich auf, und wir wirbeln in ungeheuren konzentrischen Kreisen dahin – rund um den Rand eines riesigen Amphitheaters, dessen gegenüberliegende Seite sich in Dunkel und Ferne verliert.

                Doch wenig Zeit bleibt mir, über mein Schicksal nachzudenken! Die Spiralen werden enger und enger – wir stürzen mit rasender Eile in den Strudel – und mitten im Donnergeheul von Meer und Sturm erbebt das Schiff, wankt und – oh Gott! – versinkt!

                Edgar Allan Poe – Das Manuskript in der Flasche - Novelle

                Autor*in: Edgar Allan Poe

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                  Von meiner Heimat und meiner Familie lässt sich wenig sagen. Schlechte Behandlung hat mich von dieser vertrieben, und Jahre der Trennung haben mich jener entfremdet. Ererbter Reichtum verpflichtete mich aber zu einem außergewöhnlich sorgfältigen Bildungsgang, und mein grüblerischer Geist ermöglichte es mir, die Schätze frühen Studiums gründlich zu verarbeiten.