Mai 2020 | AVENTIN Blog --

Typenpsychologie - Erkenntnis

Typenpsychologie – R.M.F – Alltagspsychologie - Erkenntnis
Typenpsychologie 

Typenpsychologie – R.M.F – Alltagspsychologie - Erkenntnis 


Man verüble nicht, wenn versucht wurde, die tausendfältige Farbenpracht der menschlichen Typen auf einige Grundfarben zurückzuführen, gleichsam die Farbtöpfe zu bestimmen, in die die Pinsel getaucht wurden.

Es wird nicht gewagt zu behaupten, dass alle Grundfarben aufgezählt wurden, deren Mischung die unzähligen Nuancen ergeben. Aber grundsätzlich wird geglaubt, dargebracht zu haben, wie eine Individualität zu erfassen ist.

Nur für sentimentale Gemüter wird die Natur ärmer dadurch, dass wir sie in ihrem Schaffen belauschen und ihre Rezepte ein wenig zu durchschauen suchen. Wer Klarheit liebt, für den wird die Natur fesselnder und reicher dadurch, dass in allem scheinbaren Chaos ein Gesetz erscheint.

Wie reich ein Mensch ist, merkt er erst dann, wenn er es unternimmt, seine Schätze zu zählen, gesetzt auch, dass ihm dabei zu Bewusstsein kommt, dass seinem Reichtum auch Grenzen gesetzt sind.

Nicht zerstören wollen wir die Wunder des Lebens, indem wir sie zu verstehen suchen; wir wollen nur an Stelle jenes Begriffs vom »Wunder«, der ihn im Unerklärlichen sucht, einen anderen setzen, dem das wahre Wunder nicht das Gesetzwidrige, sondern das Gesetz selbst ist.

Des Wunderbaren, auch des unerklärlich Wunderbaren, bleibt trotzdem genug; aber es scheint uns ein tieferer Grund zu ehrfurchtsvoller Bewunderung und ergriffenem Staunen zu sein, wenn wir erkennen, dass sich die Planeten in gesetzlichen Bahnen drehen und jeder Stein nach dem gleichen Gesetz fällt, als wenn wir statt dessen chaotische Willkür fänden.

Nur dürftige Hirne spüren die Nähe der Allmacht dort, wo sich in verdunkeltem Zimmer ein Tisch scheinbar aller Naturgesetzlichkeit zum Trotz in die Höhe hebt. Edlere Denker ahnten schon frühzeitig die Nähe einer kosmischen Kraft gerade in der Gesetzlichkeit der Welt, auch wenn sie nur einen engen Kreis dieser Welt zu erhellen vermochten.

Das Wunder der menschlichen Seele wird uns nicht geringer, sondern tiefer dadurch, dass wir in ihrer unendlichen Vielfältigkeit doch geheime Ordnung am Werk finden, wie uns ein großes Kunstwerk, eine Symphonie etwa, nur darum schöner wird, weil wir verstehen, dass sie kein Chaos von Tönen, sondern ein gesetzlicher Wunderbau ist.

Als gesetzlich-symphonisches Kunstwerk wollen wir das Menschenleben verstehen lernen, zeigen, dass es in all seinem Wechsel und seinen letzten Aufschwüngen doch Variation und gesetzliche Entwicklung einiger Grundthemen ist, die sich wohl wundersam umformen und verschlingen, gleichsam ins Unendliche sich zu variieren vermögen, um deren Dasein und Wirkung wir aber wissen bzw. schauend wissen wollen.

Typenpsychologie – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie Erkenntnis


Autor*in: R.M.F

Bewertung des Redakteurs:

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    Man verüble nicht, wenn versucht wurde, die tausendfältige Farbenpracht der menschlichen Typen auf einige Grundfarben zurückzuführen, gleichsam die Farbtöpfe zu bestimmen, in die die Pinsel getaucht wurden.

    Reiselust - Reisepläne - Hermann Hesse

    Reiselust - Reisepläne - Hermann Hesse
    Reiselust  

    Reiselust - Reisepläne - Hermann Hesse 


    Wie jedes Jahr steigen wieder verlockende Reisepläne vor mir auf: Warum nicht dem nasskalten Klima hier entrinnen und den Winter verkürzen, da es doch wärmere Länder, Eisenbahnen und Schiffe gibt?

    Nachdenklich hole ich den Globus und dann eine Karte von Italien her, suche den Gardasee, die Riviera, Neapel, Korsika und Sizilien. Da ließe sich die Zeit bis Weihnachten verbringen! Sonnige Strandwege am blauen Meer, laue Stunden auf süditalienischen Küstendampfern und in Fischerbarken, ernste Palmwipfel in der tiefen Mittagsbläue ruhend.

    Es wäre nicht übel, immer einige Meilen südwärts zu fahren, und dann mitten im Winter sonnenverbrannt in die heimische Ofenbehaglichkeit zurückzukehren.

    Ach, die echte Reiselust ist nicht anders und nicht besser als jene gefährliche Lust, unerschrocken zu denken, sich die Welt auf den Kopf zu stellen und von allen Dingen, Menschen und Ereignisse Antworten haben zu wollen.

    Die Reiselust wird nicht mit Plänen und nicht aus Büchern gestillt, die fordert mehr und kostet mehr. Man muss schon Herz und Blut daran rücken.

    Ich höre den Föhn gehen, sehe ferne, selige Seen und Ufer in südlichen Farben glänzend liegen. Ich sehe Menschen mit klugen, geistigen Gesichtern wandeln und schöne, feine Frauen. Ich sehe Straßen laufen und Pässe über Alpen führen und Eisenbahnen durch Länder hasten, alles zugleich und jedes doch für sich deutlich.

    Und hinter allem sehe ich die unbegrenzte Ferne eines klaren Horizontes, von treibenden Wolken durchschnitten. Lernen, schaffen, schauen und wandern — die ganze Fülle des Lebens glänzt in flüchtigem Silberblick vor meinen Augen auf. Und wie in Kinderzeiten zittert etwas in mir mit unbewusst mächtigem Zwang der großen Weite der Welt entgegen.

    Reiselust - Reisepläne - Hermann Hesse Reise Lust Story

    Autor*in: Hermann Hesse

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      Wie jedes Jahr steigen wieder verlockende Reisepläne vor mir auf: Warum nicht dem nasskalten Klima hier entrinnen und den Winter verkürzen, da es doch wärmere Länder, Eisenbahnen und Schiffe gibt?

      TaoTeKing - 5 - Möglichkeit - Laotse

      TaoTeKing – 5 – Möglichkeit – Laotse
      TaoTeKing - Möglichkeit - Laotse

      TaoTeKing – 5 –
      Die Wirkung der Möglichkeit – Laotse


      Nicht Liebe nach Menschenart
      liegt in der Natur:
      Ihr sind die Geschöpfe
      wie Opfergaben aus Stroh.

      Nicht Liebe nach Menschenart
      fühlt der Berufene in sich:
      Ihm sind die Menschen ebenfalls
      wie Opfergaben aus Stroh.

      Ist nicht der Raum zwischen Himmel
      und Erde wie ein Blasebalg?
      Er ist zwar leer,
      fällt aber doch nicht in sich zusammen.

      Jedoch, je mehr er sich bewegt,
      um so mehr kommt daraus hervor.
      Zu viele Worte und Ansichten
      erschöpfen sich daran.

      Besser ist es, auf die Stimme
      seiner Seele zu hören
      und diese zu achten.

      TaoTeKing – 5 – Die Wirkung der Möglichkeit – Laotse

      Autor*in: Laotse

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        Nicht Liebe nach Menschenart liegt in der Natur: Ihr sind die Geschöpfe wie Opfergaben aus Stroh. Nicht Liebe nach Menschenart fühlt der Berufene in sich: Ihm sind die Menschen ebenfalls wie Opfergaben aus Stroh.

        Perseus und Andromeda - Sage

        Perseus und Andromeda – Griechische Sage
        Perseus und Andromeda 

        Perseus und Andromeda – Griechische Sage


        Nachdem Atlas in einen Berg verwandelt worden war, setzte Perseus seinen Weg zur Küste Äthiopiens fort. Dort sah er ein gar schönes Mädchen, das an einen Felsen gefesselt war.

        Sofort trat er hinzu und begann sie zu befragen: »Wer bist Du? Welchen Namen trägst Du, schönes Mädchen? Welches grausame Schicksal hält dich hier fest?«

        Zuerst verbat die Scham dem Mädchen zu antworten. Dann aber gab sie Antwort: »Mein Name ist Andromeda. Ich bin die Tochter des Kepheus, des Königs von Äthiopien. Höre den Grund meines Unglücks!«

        »Meine Mutter Kassiopeia rühmte ihren schönen Körper vor den Göttinnen des Meeres. Sie sagte, dass keine Frau ihr ebenbürtig sei. Und weil meine Mutter sich selbst höher einschätzte als die göttlichen Frauen, riefen diese von Zorn entflammt ihren Gott Poseidon herbei.«

        »Auf Veranlassung des Gottes ist dann ein Exempel statuiert worden. Unsere Heimat wurde durch eine Überschwemmung fast vernichtet und ich an diesen Felsen gebunden. Poseidon hat nämlich beschlossen, mich einem schrecklichen Drachen zum Fraß vorzuwerfen, um auf diese Weise meine Mutter zu bestrafen.«

        Kaum hatte das Mädchen dies gesagt, als auch schon ein gewaltiger Drache aus den tiefen Wellen des Meeres seinen Kopf erhob und sich der Küste zu nähern begann. Andromeda, gar heftig erschreckt, schrie laut auf und ihre Eltern eilten im Laufschritt herbei.

        Perseus rief ihnen mit lauter Stimme zu: »Der Drache wird bald da sein. Hört meine Worte: Ich bin Perseus, ein Sohn des Zeus. Ich habe die grausame Medusa besiegt und ich werde auch Andromeda retten, wenn es mir erlaubt ist, sie zu heiraten. Ich bin zum Kampf bereit!«

        Der Vater der Andromeda antwortete: »Du wirst nicht gegen meinen Willen meine Tochter heiraten. Wenn du unsere Andromeda von dem Drachen befreist, wirst du noch zu meinen Lebzeiten auch mein ganzes Königreich besitzen.«

        Und schon war der Drache da. Perseus erhob sich mit den Flügelschuhen in die Luft und griff mit gewaltigem Schlag seines Schwertes das große Tier an. Obwohl das Ungeheuer große Flammen ausstieß, konnte der tapfere junge Mann es aber dennoch töten.

        Andromeda und ihre Eltern konnten das alles von der Küste aus verfolgen und sahen auch, wie der tote Drache in den Wellen des Meeres versank. Als Perseus sodann Andromeda von ihren Fesseln befreite, war das Mädchen von Liebe zu ihm entbrannt. Die glücklichen Eltern dankten dem jungen Mann und wenig später sollte die Hochzeit stattfinden.

        Aber kurz vor dem fröhlichen Hochzeitsfest drängte sich plötzlich Phineus, der Bruder des Königs, mit seinen Soldaten unter die Gäste und schrie laut: »Andromeda hat ohne mein Wissen irgendeinen Mann geheiratet. Ich bin nun der Ehre wegen hierher gekommen, um die gerechte Hinrichtung dieses Perseus zu vollziehen.«

        Da begann sofort ein heftiger Streit zwischen den Gästen und den Soldaten. Die Anzahl der Krieger des Phineus aber war so groß, dass sich Perseus und die Gäste kaum verteidigen konnten und ein Gemetzel drohte.

        Als dies Perseus erkannte, wandte er sich schnell ab, suchte seinen Rucksack, ergriff den Kopf der Medusa und streckte diesen den Feinden entgegen. Und sofort wurden Phineus und seine Soldaten in Felsblöcke verwandelt.

        Endlich konnte das glückliche Paar heiraten. Wenig später fand Perseus auch seine Mutter Danaë wieder und lebte mit Andromeda glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende.

        Perseus und Andromeda – Griechische Sage - Mythologie Sage

        Autor*in: Griechische Sage

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          Nachdem Atlas in einen Berg verwandelt worden war, setzte Perseus seinen Weg zur Küste Äthiopiens fort. Dort sah er ein gar schönes Mädchen, das an einen Felsen gefesselt war. Sofort trat er hinzu und begann sie zu befragen: »Wer bist Du? Welchen Namen trägst Du, schönes Mädchen? Welches grausame Schicksal hält dich hier fest?«

          Der junge Fuchs - Fabel

          Der junge Fuchs – Ulrich Megerle – Fabel
          Der junge Fuchs 


          Der junge Fuchs – Ulrich Megerle – Fabel Wunsch 


          »Vater«, sagte eines Tages der junge zum alten Fuchs, »Vater, ich will fliegen!«

          »Du junger Fantast!« antwortete der Alte, »du vorwitziger Bengel! Was fällt dir ein?«

          »Vater, ich will aber fliegen«, wiederholte der kleine Narr.

          »Du Naseweis, du Grünschnabel«, schalt der Alte, »du hast nicht so viel Verstand in deinem Kopf wie Haare an deinem Schweif, aber du willst fliegen!«

          Der junge Fuchs schwieg, aber er hörte nicht auf, den Vögeln nachzugucken, und an dem Tag, als er seine erste Maus gefangen hatte und sich daher für sehr erwachsen und klüger als die Alten hielt, sagte er wieder: »Vater, ich will fliegen!«

          »Narr«, antwortete der alte Fuchs, »weißt du denn nicht, dass man dazu Flügel braucht?«

          »Vater, ich will fliegen«, beharrte der eigensinnige Fuchs. »Und um meine Flügel lass dir keine grauen Haare wachsen. Du hast ohnehin schon zuviel weiße Haare in deinem Pelz.«

          Der junge Flederwisch verfertigte sich sodann ein paar Flügel aus den Hühnerfedern, die vor dem Fuchsbau lagen. Dann stieg er auf einen Turm, schwang sich zum Fenster hinaus und schlug heftig mit den selbst gebastelten Flügeln.

          Aber das alles half nichts, er sauste wie ein Stein auf den Boden hinunter. Unglücklicherweise hatte gerade zur selben Zeit unter dem Turmfenster ein Rechenmacher sein Standquartier bezogen und dort seine Waren ausgebreitet, einen Rechen mit spitzen Zähnen neben dem anderen.

          Der fliegende Fuchs stürzte geradewegs in die Rechenzähne hinein, und, nachdem er sich von seinem Schrecken und seiner Betäubung erholt hatte, schlich er leicht winselnd und blutend von dannen.

          »Nun, Bürschchen«, fragte ihn der alte Fuchs, »wie gefällt dir das Fliegen?«

          »Das Fliegen«, antwortete das Füchslein noch immer leicht benommen, »war herrlich und ist mir außerordentlich sanft vorgekommen. Aber das Landen hat der Teufel erfunden!«

          »Das geschieht dir recht«, wies ihn der Vater zurecht, »warum hast du nicht auf mich gehört? Oder glaubst du, dass wir Alten nicht doch ein bisschen mehr im Kopf haben als so ein junger Naseweis wie du?«

          Der junge Fuchs – Ulrich Megerle (Abraham a Sancta Clara) – Fabel Wunsch

          Autor*in: Ulrich Megerle (Abraham a Sancta Clara)

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            »Vater«, sagte eines Tages der junge zum alten Fuchs, »Vater, ich will fliegen!« »Du junger Fantast!« antwortete der Alte, »du vorwitziger Bengel! Was fällt dir ein?« »Vater, ich will aber fliegen«, wiederholte der kleine Narr. »Du Naseweis, du Grünschnabel«, schalt der Alte.

            Hauptformen der Erlebnisse

            Hauptformen der Erlebnisse – R.M.F – Alltagspsychologie
            Hauptformen der Erlebnisse 

            Hauptformen der Erlebnisse – R.M.F – Alltagspsychologie


            Nicht bloß kennen wollen wir die Menschen, das heißt sie nach ihrem seelischen Typus klassifizieren, wie Zoologen ihre Tiere, wir wollen sie auch »verstehen«.

            Wir wollen wissen, wie sich dieser Typus heraus gebildet hat, und wenn wir auch bei keinem an den Urquell seines Lebens, der unendlich weit jenseits von Geburt und Mutterleib liegt, zurück gehen können, vermögen wir doch, aus dem Einfluss formbildender Erlebnisse uns seine Geschichte ein wenig verständlich zu machen.

            Wie es den Biologen gelungen ist, die Entstehung der Arten in wesentlichen Zügen aufzuhellen, indem sie die Faktoren der Entwicklung klar gelegt haben, so muss es auch dem Psychologen gelingen, wenigstens grundsätzlich die Faktoren zu bestimmen, die dem individuellen Lebenslauf seine Gestalt geben.

            Vorauszusetzen also ist eine als solche niemals genau zu errechnende Struktur des leiblich-seelischen Organismus, das Erbgut der Ahnen, eine Struktur, die sich als einigermaßen bestimmte, wenn auch mannigfach variable »Richtung des Lebenswillens« darstellt.

            Das so gerichtete Individuum nun wird von früh auf umdrängt von Einflüssen, unter denen es auswählt, die aber auch sein Wesen beeinflussen. Geschieht das, so sprechen wir von »Erlebnissen«, die wir nun, je nach dem Verhältnis, das zwischen Richtung und Einfluss bestehen kann, in folgende Gruppen sondern:

            Zunächst gibt es richtungsgemäße und richtungsverstärkende Erlebnisse, das heißt, das Ich wird durch äußere Einwirkungen in seiner Eigenart unterstützt. Ein von Natur zu heiterer Selbstsicherheit veranlagter Mensch wird durch heitere und glückliche Jugendeindrücke noch heiterer und sicherer gemacht, eine von Natur zur Ängstlichkeit veranlagte Seele durch düstere Eindrücke noch mehr verschüchtert.

            Andere Erlebnisse wirken richtungbesondernd, sei es, dass sie einer von Natur wenig ausgeprägten Struktur erst ein bestimmtes Gepräge ausbilden helfen, sei es, dass sie eine allgemeine Anlage in eine speziellere Richtung drängen. So gibt es Menschen mit sehr allgemeiner künstlerischer Anlage, die unentschieden schwanken, welcher Art der Kunst sie sich zuwenden wollen: Goethe, Richert Wagner, Otto Ludwig oder Gottfried Keller sind Beispiele dafür.

            Ein bestimmter äußerer Anlass kann da richtungsgebend wirken, indem er aus mehreren Möglichkeiten eine einzelne hervorhebt. Die Wahl des Berufs wirkt bei den meisten Menschen richtungbesondernd, da der Beruf zwar ungefähr der Anlage gemäß gewählt zu werden pflegt, aber doch zugleich dieser Anlage ein spezielleres Gepräge gibt.

            Diese Richtungsbeeinflussung kann jedoch auch eine Richtungsablenkung sein, indem eine Anlage in eine ihr nicht völlig gemäße, wohl aber verwandte Bahn gedrängt wird. Diese Ablenkung kann von leichter Abdrehung bis zu völliger Entgleisung führen. Es kann ein geborener Bildhauer durch starke äußere Einflüsse in die Malerei getrieben werden, was sich in seinem Werk später stets geltend macht. Es kommt jedoch auch vor, dass ein geborener Künstler in die Wirtschaft oder die Politik abgetrieben wird, was stets zu schmerzlichen Konflikten, oft zum Ruin des Lebens führt.

            Damit kommen wir bereits an die konträren Erlebnisse heran, das heißt Einflüsse, die sich von außen aufzwingen und die angeborene Struktur völlig zerrütten können. Gewiss kann der Fall eintreten, dass das Ich auch dieser Erlebnisse Herr wird, dass sie es nicht umwerfen, sondern stärker machen, was meist erst nach schweren Kämpfen geschieht. Es kann jedoch auch sein, dass die konträren Erlebnisse im Individuum sehr seltsame Brüche und Risse erzeugen, die niemals ausheilen, sondern als seelische Wunden ein ganzes Leben hindurch eitern und oft unheimliche Folgen zeigen.

            Besonders beachtet hat man unter den konträren Erlebnissen gerade die, die am schwersten zu ermitteln sind, die verdrängten Erlebnisse, das heißt solche, die vom Bewusstsein, das sie nicht, wie der Organismus einen Splitter auseitert, auszustoßen vermag, gleichsam eingekapselt und ins Unterbewusstsein abgeschoben werden, von wo aus sie jedoch oft genug unter seltsamen Verkappungen wieder ins Bewusstsein drängen.

            Die moderne Psychoanalyse glaubt, die Störungen, die durch solche verdrängten Erlebnisse hervorgerufen werden, dadurch heilen zu können, dass sie die versenkten Komplexe wieder ausgräbt, ins Bewusstsein zieht und dadurch Gegenkräfte auslöst. Das mag manchmal heilend wirken, es kann jedoch den latenten Konflikt auch geradezu verstärken und noch akuter machen.

            Eine besondere Gattung von Erlebnissen bildet sich dort aus, wo die adäquaten Eindrücke ganz ausbleiben, ohne dass ablenkende oder konträre Einflüsse sich durchsetzen. Dann schafft sich, besonders bei starker Fantasiebegabung, das Individuum selbst seine Erlebnisse, wenn auch nur in der Vorstellung, obwohl es oft genug diese Vorstellung in der Wirklichkeit zu finden glaubt, sie in die Wirklichkeit hinein zieht.

            Man spricht in diesem Fall von imaginativem Erlebnis (Imago). So kommt es vor, dass Menschen, die ihren Ehrgeiz in der Realität nicht durchzusetzen vermögen, sich in ein eingebildetes Erleben hinein fantasieren, das für sie die Wirklichkeit bis zu gewissem Grad ersetzt.

            Als letzte Gattung von Erlebnissen sei noch das wiederkehrende, typische Erlebnis genannt, das sich oft in rhythmischer Folge wiederholt, wie das Thema in einem Rondo, also dass ein Individuum immer wieder in die gleichen Konflikte gerät, immer wieder in die gleichen Gruben fällt.

            Dass das möglich ist, ist leicht aus dem Wesen des »Erlebens« einzusehen, das stets mehr von innen als von außen bestimmt ist, das selber auswählt nach seinen Instinkten und daher, auch wenn es noch so trübe Erfahrungen gemacht hat, mit Notwendigkeit stets wieder in die gleichen Lebenslagen kommt.

            Aus hier wieder gilt es, diese Erkenntnisse, damit sie lebendig werden, am Leben selbst zu erproben. Man überschaue das eigene Leben, das seiner Bekannten oder das bedeutender Menschen, das uns in Biographien offen liegt, und man wird den Einfluss solcher Erlebnisse überall bestätigt finden. Man wird finden, dass sich die Entwicklung in ihren oft seltsamen Zickzackbewegungen von hier aus begreifen lässt.

            Es sei hier nur kurz an einer Gattung von Erlebnissen, und zwar den erotischen, illustriert, weil diese sich verhältnismäßig spät, also dem Bewusstsein am meisten zugänglich, abspielen. Oft ist besonders das erste Liebeserlebnis bestimmend für ein ganzes Dasein. Zunächst ist natürlich wesentlich, dass überhaupt ein solches Erlebnis eintritt, dass der Trieb durch eine geeignete Begegnung in normaler, gesunder Weise entwickelt wird.

            Bleibt, bei Ausschluss vom anderen Geschlecht, in sehr eingeengten Erziehungsanstalten zum Beispiel, die natürliche Erfüllung aus, so sind oft Ablenkungen und krankhafte Ersatzbildungen die Folge.

            Halten wir uns jedoch zunächst an den normalen Fall, dass ein im großen und ganzen richtungsgemäßes Erlebnis eintritt, so erfährt diese Richtung doch eine Besonderung durch die Art des Wesens, auf das es sich richtet. Es ist nicht gleichgültig, ob der erste Gegenstand der Liebe eines Jünglings eine Dirne oder ein edles Mädchen ist. Die Richtung des erotischen Instinktes und damit des ganzen Charakters kann durch solche erste Begegnungen für das ganze Leben beeinflusst werden.

            Blicken wir ins Leben Goethes hinein, so ist sicherlich tief bedeutsam für seine Entwicklung, dass seine erste Neigung einem Mädchen galt, das eine ungeistige Sinnlichkeit vor allem weckte, was bis in des Dichters späte Ehe hinein nachwirkte. Freilich ist schwer zu sagen, ob diese Besonderung des Triebs nicht bereits eine Ablenkung war. Die spätere, jahrelange Neigung zu der sehr unsinnlichen Charlotte von Stein lässt es fast annehmen.

            Tief tragisch werden oft Erlebnisse, die nicht geringe Ablenkung, sondern völlige Pervertierung zur Folge haben. Es ist ja eine umstrittene Frage, ob solche Abirrungen der normalen Triebe angeboren sein können. In den meisten Fällen treten sie durch Erlebnisse ein, frühe Verführung, besonders bei Ausschluss richtungsgemäßer Erlebnisse. Gewiss kann derartiges später »verdrängt« werden, es kann überwunden und ins Unterbewusstsein abgeschoben werden, aber auch von dort her wirkt es oft noch störend und quälend ins bewusste Leben hinein.

            In helleren Regionen bleiben wir, wenn wir die wiederkehrenden, typischen Erlebnisse beachten, dass die meisten Männer einen »Typus« der Frau haben, den sie immer wieder umwerben.

            Es ist freilich oft schwer festzustellen, was das »Typische« im Erleben ausmacht. Oft sind auch mehrere Typen nebeneinander wirksam, aber es ist zum Beispiel keineswegs ein Zufall, dass — um wieder Goethe heranzuziehen — Marianne von Willemer der Christiane Vulpius unzweifelhaft äußerlich ähnlich war.

            Letztlich die imaginativen Erlebnisse! Sie treten ein, wenn ein geeignetes Objekt fehlt, und schaffen sich oft reine Fantasiegestalten. Oft aber umsinnen sie auch ein reales, aber ganz unadäquates Objekt mit fantastischen Schleiern, so dass dieses für den Liebenden völlig verwandelt ist und in himmlischen Höhen zu schweben scheint.

            Gerade die »Blindheit«, die »Vergötterung« in der Liebe zeigt deutlich, dass im Geistigen wie im Physischen die »Disposition« fast alles, die »Infektion« sehr wenig ist.

            Hauptformen der Erlebnisse – R.M.F – Alltagspsychologie - Psychologie

            Autor*in: R.M.F

            Bewertung des Redakteurs:

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              Wir wollen wissen, wie sich dieser Typus heraus gebildet hat, und wenn wir auch bei keinem an den Urquell seines Lebens, der unendlich weit jenseits von Geburt und Mutterleib liegt, zurück gehen können, vermögen wir doch, aus dem Einfluss formbildender Erlebnisse uns seine Geschichte ein wenig verständlich zu machen.

              Augenblicke – Rainer Maria Rilke

              Augenblicke – Rainer Maria Rilke – Kaprizen
              Augenblicke  

              Augenblicke - Rainer Maria Rilke - Kaprizen 


              Ich liebe diese Stunde, die anders ist, kommt und geht. Nein, nicht die Stunde, diesen Augenblick liebe ich, der so still ist. Diesen Anfangs-Augenblick, diese Initiale der Stille, diesen ersten Stern, diesen Anfang.

              Ich liebe dieses Etwas in mir, das aufsteht, wie junge Mädchen aufstehen in ihrer weißen Mansarde. In der weißen Mansarde, in der sie wohnen, seit sie erwachsen sind. Oh, das kam eines Tages sehr geschwind und dann verwandelte sich das ganze Haus.

              Nun aber ist die weiße Mansarde das Leben und wenn man am Morgen an das immer offene Fenster tritt, so sieht man die Welt. Große Bäume sieht man, die immer noch wachsen, Vögel sieht man und große Zweige schwanken von ihrem Abflug, und es ist, als wäre der Wind in einem Tier und in den Stämmen die Stille.

              Ich liebe diesen Wind, diesen weiten verwandelnden Wind, der dem Frühling vorangeht. Ich liebe das Geräusch dieses Windes und seine ferne Gebärde, die mitten durch alle Dinge geht als wären sie nicht.

              Diese Nacht liebe ich. Nein, nicht diese Nacht, diesen Nachtanfang, diese eine lange Anfangszeile der Nacht, die ich nicht lesen werde, weil sie kein Buch für Anfänger ist.

              Diesen Augenblick liebe ich, der nun vorüber ist und von dem ich, da er verging, fühlte, dass er erst sein wird.

              Augenblicke – Rainer Maria Rilke – Kaprizen - Essay

              Autor*in: Rainer Maria Rilke

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              URL: https://aventin.blogspot.com/2020/05/augenblicke.html

                Ich liebe diese Stunde, die anders ist, kommt und geht. Nein, nicht die Stunde, diesen Augenblick liebe ich, der so still ist. Diesen Anfangs-Augenblick, diese Initiale der Stille, diesen ersten Stern, diesen Anfang.

                Malaria - Anopheles Mücke - Satire

                Malaria - Anopheles Mücke - Lorenz Keiser - Satire
                Malaria - Anopheles  

                Malaria - Anopheles Mücke - Lorenz Keiser - Satire 

                Jedes Jahr werden etliche tausend Fälle von Malaria aus den Tropen in unsere Breitengrade eingeschleppt. Damit ist die Malaria für den Tropenreisenden eine sehr gefährliche Infektionskrankheit.

                Etwa sieben Tage nach einer Infektion treten beim Erkrankten Fieber, Durchfall und Erbrechen auf, die akute Form der Malaria kann sogar innerhalb von Stunden zu Bewusstlosigkeit und Kreislaufkollaps führen.

                Malaria wird durch die Anopheles-Stechmücke übertragen. Die Mücke sticht einen Malariakranken, nimmt aus dessen krankem Blut die Erreger auf und überträgt diese dann bei weiterem Herumstechen auf gesunde Personen.

                Weshalb die Mücke Malaria übertragen kann, ohne selbst erbrechen zu müssen und Fieber zu bekommen, konnte bis heute von der Wissenschaft nicht geklärt werden. Es bleibt anzunehmen, dass die Mücken in diesen verseuchten Gebieten eine ausgiebige und wirksame Malariaprophylaxe betreiben.

                Daraus lernen wir, dass auch für uns Menschen eine gute Malariaprophylaxe nur nützlich sein kann. Glücklicherweise existiert diese Prophylaxe tatsächlich in Form verschiedener Medikamente, von denen man je nach Reisegebiet das eine oder andere einnimmt. Leider bietet aber keines dieser Medikamente einen hundertprozentigen Malariaschutz, so dass für jeden Tropenreisenden ein erhebliches Restrisiko bleibt.

                Eigentlich würde es sich hier aufdrängen, die Mücken zu fragen, mit welchen Wirkstoffen sie sich zu schützen pflegen, aber offensichtlich kommt wieder einmal niemand auf diese Idee.

                Nun gibt uns ein glücklicher Umstand der Natur jedoch noch eine weitere, absolut sichere Methode gegen die Malaria in die Hand. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen nämlich beginnen Anopheles-Mücken immer erst nach Sonnenuntergang zu stechen.

                So können wir uns am sichersten und einfachsten schützen, indem wir nur tagsüber in die Tropen reisen. Abgesehen vom perfekten Malariaschutz sieht man dann sowieso mehr als nachts.

                Malaria - Anopheles Mücke - Lorenz Keiser - Satire

                Autor*in: Lorenz Keiser

                Bewertung des Redakteurs:

                URL: https://aventin.blogspot.com/2020/05/malaria-anopheles.html

                  Jedes Jahr werden etliche tausend Fälle von Malaria aus den Tropen in unsere Breitengrade eingeschleppt. Damit ist die Malaria für den Tropenreisenden eine sehr gefährliche Infektionskrankheit.

                  Die Rose von Homers Grab

                  Die Rose von Homers Grab – Hans Christian Andersen - Märchen
                  Die Rose von Homers Grab  

                  Die Rose von Homers Grab 

                  Hans Christian Andersen

                  Märchen

                  In vielen Liedern des Orients erklingt die Liebe der Nachtigall zu der Rose. In den schweigenden, sternklaren Nächten bringt der geflügelte Sänger seiner duftenden Blume eine Serenade dar.

                  Nicht weit von Smyrna, unter den hohen Platanen, wo der Kaufmann seine belasteten Kamele treibt, die stolz ihre langen Hälse erheben und schwerfällig über eine Erde stampfen, die heilig ist, sah ich eine blühende Rosenhecke. Wilde Tauben flogen zwischen den Zweigen der hochstämmigen Bäume, und die Flügel der Tauben glänzten, wenn ein Sonnenstrahl darüber hinglitt, als seien sie aus Perlmutter gemacht.

                  In der Rosenhecke war eine Blüte von allen die schönste, und für sie sang die Nachtigall von ihrem Liebesschmerz, aber die Rose war stumm, nicht ein Tautropfen lag, wie eine Träne des Mitleidens, auf ihren Blättern, sie neigte sich auf ihrem Zweig über einige große Steine.

                  »Hier ruht der Erde größter Sänger!« sagte die Rose, »über seinem Grab will ich duften, meine Blätter will ich darauf verstreuen, wenn der Sturm sie mir abstreift. Der Ilias‘ Sänger wurde zu Erde in dieser Erde, aus der ich sprieße!«

                  »Ich, eine Rose von Homers Grab, bin zu heilig, um für eine armselige Nachtigall zu blühen!«

                  Und die Nachtigall sang sich zu Tode!

                  Ein Kameltreiber kam mit seinen beladenen Kamelen. Sein kleiner Sohn fand den toten Vogel und beerdigte ihn in Homers Grab; und die Rose bebte im Wind. Der Abend kam. Die Rose faltete ihre Blätter dichter zusammen und träumte.

                  Sie träumte, es wäre ein herrlicher Sonnentag. Eine Schar fremder Menschen kam her, sie hatten eine Pilgerreise zu Homers Grab gemacht. Unter den Fremden war ein Sänger aus dem Norden, aus der Heimat der Nebel und Nordlichter. Er brach die Rose, presste sie in einem Buch und nahm sie so mit sich nach einem anderen Weltteil hinüber, mit nach seinem fernen Vaterland.

                  Und die Rose welkte vor Kummer und lag in dem engen Buch, das er in seinem Heim öffnete, und er sagte: »Hier ist eine Rose von Homers Grab.«

                  Sieh, das träumte die Blume und sie erwachte und zitterte im Wind. Ein Tautropfen fiel von ihren Blättern auf des Sängers Grab.

                  Da ging die Sonne auf, und die Rose blühte schöner als zuvor. Der Tag wurde heiß, es war ja im heißen Asien.

                  Da schallten Fußtritte, fremde Menschen kamen, wie sie die Rose im Traum gesehen hatte, und unter diesen Fremden war ein Dichter aus dem Norden.

                  Dieser brach die Rose, drückte einen Kuss auf ihren duftenden Blütenkelch, und führte sie mit sich in die Heimat der Nebel und der Nordlichter.

                  Wie eine Mumie ruht nun die Blumenleiche in seiner Ilias, und wie im Traum hört sie ihn das Buch öffnen und sagen: »Hier ist eine Rose von Homers Grab!«

                  Die Rose von Homers Grab – Hans Christian Andersen - Märchen

                  Autor*in: Hans Christian Andersen

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                    Der Kormoran – Jean de La Fontaine

                    Der Kormoran – Jean de La Fontaine – Vertrauen
                    Der Kormoran 

                    Der Kormoran 

                    Jean de La Fontaine – 

                    Vertrauen 

                    Ein Kormoran, ein wahrer Wassergeier,
                    ließ keinen Teich und keinen Weiher
                    rings in der Nachbarschaft,
                    den er nicht ausgefischt.

                    Allein, der Kormoran war alt,
                    sein Auge schwach, sein Schnabel stumpf,
                    und kalt sein Blut.

                    Und da es ihm an Netz und Reusen fehlte,
                    so quälte bald bitterer Hunger ihn.
                    Allein die Not gab ihm zum Glück
                    noch eine Kriegslist ein;
                    denn Not, sagt die Sentenz, bricht Eisen,
                    Not macht den Dummen oft zum Weisen.

                    Es sah einmal der Kormoran
                    am Ufer einen Krebs spazieren.
                    »Hör!« spricht er. »Sei so gut mein Alter,
                    und sag dem ganzen Wasservolke an,
                    es solle sich beizeiten retirieren (flüchten).
                    In vierzehn Tagen wolle man den Teich ablassen.«

                    »So? » Der Krebs eilt, was er kann und schlägt Lärm.
                    »Was ist zu tun? Wer ratet und wer rettet?«
                    Zuletzt schickte man zum Kormoran:
                    »Wisst Ihr es denn gewiss? Und hättet
                    Ihr keinen Ausweg, keinen Rat?
                    So helft uns doch!«

                    »Ich kann euch nichts versagen,
                    vertraut euch mir!
                    Ich will euch, eins bei eins,
                    in meine sichere Wohnung tragen.
                    Da seid ihr vor dem Blick der Welt,
                    des Sonnenscheins geborgen.
                    Wasser gibt’s bei mir in Menge,
                    so kommt ihr denn mit eins bei eins
                    zu mir aus eurem Gedränge.«

                    Das Wasservolk hat eben nicht
                    in Klugheit schwer geladen,
                    und spricht mit Freuden ja!
                    Spricht ja sich zum Ruine!

                    Der Kormoran, mit heuchlerischer Miene,
                    schleppt nun seine Beute,
                    Fisch bei Fisch, zu seinem Weiher hin
                    und deckt damit auf Jahre seinen Tisch.
                    Er braucht nur mit dem Schnabel langen,
                    kein Fischen kann ihm hier entgehn.

                    Zu spät lernt jedes nun,
                    betrogen und gefangen:
                    Man traue nicht dem Wort der Mächtigen.
                    Sie mögen sich auch noch so gut
                    und bieder stellen,
                    sie sehn die Kleinen doch als Fische an
                    und handeln in den meisten Fällen
                    wie unser alter Kormoran.

                    Der Kormoran – Jean de La FontaineFabel Vertrauen

                    Autor*in: Jean de La Fontaine

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                      Der Sargtischler - Alexander Puschkin

                      Der Sargtischler – Alexander Puschkin - Novelle
                      Der Sargtischler 

                      Der Sargtischler – Alexander Puschkin 

                      Die letzten Habseligkeiten des Sargtischlers Adrian Prochorov wurden auf den Leichenwagen geworfen, und das hagere Gespann schleppte sich zum vierten Mal von der Basmanaja in die Nikitskaja, wohin der Sargtischler mit seinem ganzen Haus übersiedelte.

                      Er sperrte den Laden zu, heftete eine Bekanntmachung an das Tor, nach der das Haus zu verkaufen oder zu vermieten sei, und begab sich zu Fuß zu seinem neuen Heim.

                      Als er sich dem gelben Häuschen näherte, das seine Phantasie so lange beschäftigt hatte, bis es endlich um einen ordentlichen Batzen von ihm erstanden wurde, stellte der alte Sargtischler verwundert fest, dass er sich gar nicht freute.

                      Als er dann gar die ihm noch fremde Schwelle seiner neuen Behausung überschritt, und darin auf eine schreckliche Unordnung stieß, da sehnte er sich wieder nach seiner baufälligen Hütte zurück, wo achtzehn Jahre alles in strengster Ordnung verlaufen war. Er schalt seine beiden Töchter und die Magd wegen ihrer Trödelei und packte selbst mit an; so dass bald Ordnung herrschte.

                      Der Schrein mit den Heiligenbildern, der Geschirrkasten, Diwan und Bett nahmen die für sie bestimmten Plätze im hinteren Zimmer ein; in der Küche und im Wohnzimmer wurden die Erzeugnisse des Hausherrn untergebracht: Särge aller Farben und jeder Größe, auch die Schränke mit den Trauerhüten, Mänteln und Fackeln.

                      Über dem Haustor wurde ein Schild angebracht, auf dem ein beleibter Amor mit einer zu Boden gehaltenen, verlöschenden Fackel in Händen dargestellt war, und das die Inschrift trug: ‘Hier werden einfache und gestrichene Särge verkauft, überzogen, auch vermietet, sowie alle ausgebessert.’

                      Die Mädchen gingen in ihre Kammer, Adrian besah noch einmal seine Wohnung, setzte sich dann ans Fenster und befahl den Samowar aufzustellen.

                      Der gebildete Leser weiß, dass Shakespeare und Walter Scott ihre Totengräber als lustige und spaßige Leute darstellten, um durch diesen Gegensatz unsere Phantasie stärker zu reizen. Aus Achtung vor der Wahrheit können wir aber ihrem Beispiel nicht folgen und müssen gestehen, dass der Charakter unseres Sargtischlers durchaus seinem düsteren Handwerk entsprach.

                      Adrian Prochorov war stets mürrisch und abweisend gelaunt, er unterbrach sein Schweigen nur, um entweder seine Töchter zu schelten, wenn sie müssig am Fenster standen und den Vorübergehenden nachschauten, oder für seine Erzeugnisse einen übermäßigen Preis von denen forderten, die das Unglück (aber bisweilen auch das Vergnügen) hatten, ihrer zu bedürfen.

                      Während Adrian am Fenster saß und schon die siebente Tasse Tee trank, wurde er seinem Charakter entsprechend von traurigen Gedanken befallen. Er dachte an den Gussregen, der vor einer Woche das Begräbnis des verabschiedeten Brigadiers gerade am Schlagbaum überrascht hatte. Davon waren mehrere Mäntel zu eng geworden, und viele Hüte hatten ihre Form eingebüßt.

                      Er sah unvermeidliche Ausgaben kommen, denn sein alter Vorrat an Bestattungsausrüstungen befand sich in einem kläglichen Zustand. Er hoffte den Verlust durch die alte Kaufmannsfrau Trjuchina wettzumachen, die schon ein Jahr lang todkrank darniederlag. Aber die Trjuchina wohnte auf dem Razgulaj, und Prochorov fürchtete, dass die Erben trotz ihres Versprechens zu faul sein könnten, so weit nach ihm zu schicken, und statt dessen mit einem näher wohnenden Leichenbestatter abschließen würden.

                      Diese Überlegungen wurden ganz unerwartet von drei freimaurerischen Schlägen an die Tür unterbrochen. “Wer da?” fragte der Sargtischler. Die Tür öffnete sich, und ein Mann, dem man auf den ersten Blick den deutschen Handwerker ansehen konnte, betrat die Stube und ging mit fröhlicher Miene auf den Leichenbestatter zu.

                      “Entschuldigen Sie, lieber Herr Nachbar,” sagte er in jenem Russisch, das wir bis auf den heutigen Tag nicht hören können, ohne zu lachen, “entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe… Ich hatte den Wunsch, möglichst schnell mit Ihnen bekannt zu werden. Ich bin Schuhmacher, mein Name ist Gottlieb Schulz, und ich wohne über der Straße, in jenem Häuschen, das Sie durch Ihr Fenster stehen können. Morgen feiere ich meine silberne Hochzeit und bitte Sie und Ihre Töchter, bei mir gemütlich zu Mittag zu speisen.”

                      Die Einladung wurde gnädig angenommen. Der Sargtischler bat den Schuhmacher Platz zu nehmen und eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Dank dem offenen Charakter von Gottlieb Schulz kamen sie auch bald in ein freundschaftliches Gespräch.

                      “Wie gehen die Geschäfte, Euer Gnaden?” fragte Adrian.

                      “Eh, hehe”, antwortete Schulz, “so, so. Ich kann mich nicht beklagen. Allerdings ist meine Ware nicht so wie die Eurige: ein Lebender kommt ohne Stiefel aus, aber ein Toter kann ohne Sarg nicht leben.”

                      “Das ist wahr,”, erwiderte Adrian, “aber wenn der Lebende kein Geld hat, um sich Stiefel zu kaufen, bracht man sich aber auch nicht zu ärgern, denn er geht auch barfuß; ein toter Bettler jedoch verlangt den Sarg umsonst.”

                      Auf diese Art setzten sie ihr Gespräch noch längere Zeit fort; endlich erhob sich der Schuster und verabschiedete sich vom Sargtischler, indem er seine Einladung wiederholte.

                      Am nächsten Tag, Schlag zwölf Uhr, schritten der Sargtischler und seine Töchter durch die Pforte des neugekauften Hauses und begaben sich zum Nachbarn.

                      Ich werde weder den russischen Kaftan des Adrian Prochorov beschreiben, noch die europäische Kleidung Akulinas und Darjas, womit ich in diesem Fall von der Gewohnheit der heutigen Romanschreiber abweiche. Als nicht überflüssig erachte ich den Hinweis, dass beide Mädchen gelbe Hüte und rote Schuhe trugen, was sie nur bei festlichen Gelegenheiten taten.

                      Das enge Quartier des Schuhmachers war voller Gäste, größtenteils deutsche Handwerker mit ihren Frauen und Gesellen. Von russischen Beamten war nur der Polizist Jurko anwesend, ein Finne, der sich ungeachtet seiner bescheidenen Stellung die besondere Gunst des Hausherrn erworben hatte.

                      An die fünfundzwanzig Jahre hatte er treu und ehrlich gedient wie der Postillion Pogorelskijs. Der Brand des Jahres 1812, der die alte Hauptstadt vernichtete, hatte auch sein gelbes Wächterhäuschen zerstört. Aber sofort nach der Vertreibung des Feindes erschien auf dem alten Platz ein neues, grau gestrichenes, mit weißen Säulen im dorischen Stil, und Jurko begann wiederum, neben ihm in voller Uniform, mit Hellebarde und einem Panzer bewaffnet, auf- und abzuschreiten.

                      Fast alle Deutschen, die um das Nikita-Tor wohnten, kannten ihn; manche von ihnen mussten sogar mitunter vom Sonntag zum Montag bei Jurko übernachten. Adrian machte sich sofort bekannt mit ihm als ein Mann mit dem man früher oder später einmal zu tun haben könnte, und als die Gäste sich zu Tisch setzten, nahmen sie nebeneinander Platz.

                      Herr und Frau Schulz und ihr Töchterlein, das siebzehnjährige Lottchen, speisten gemeinsam mit den Gästen, bewirteten sie und halfen der Köchin bedienen. Das Bier floss reichlich. Jurko aß für vier, Adrian gab ihm nichts nach; seine Töchter zierten sich; die deutsch geführte Unterhaltung wurde von Stunde zu Stunde lauter.

                      Plötzlich bat der Hausherr um Aufmerksamkeit, entkorkte eine versiegelte Flasche und sagte laut auf Russisch: “Auf das Wohl meiner guten Luise!” Der künstliche Champagner schäumte. Der Hausherr küsste zärtlich das frische Gesicht seiner vierzigjährigen Gefährtin, und die Gäste tranken lärmend auf das Wohl der guten Luise.

                      “Auf das Wohl meiner lieben Gäste!” rief der Hausherr, eine zweite Flasche öffnend, und die Gäste dankten ihm, indem sie von neuem ihre Gläser leerten. Dann folgte ein Wohl eines jeden Gastes im besonderen, man trank auf das Wohl Moskaus und eines ganzen Dutzends deutscher Städtchen, man trank auf das Wohl der Meister und Gesellen.

                      Adrian trank eifrig mit, bis er so lustig war, dass er selbst einen spaßigen Toast ausbrachte. Da erhob einer der Gäste, ein dicker Bäcker, sein Glas und rief: “Auf das Wohl derer, für die wir arbeiten, unsere Kundschaft!”

                      Der Vorschlag wurde, wie alle anderen, freudig und einstimmig angenommen. Die Gäste begannen, sich voreinander zu verbeugen, der Schneider vor dem Schuster, der Schuster vor dem Schneider, der Bäcker vor beiden, alle vor dem Bäcker und so weiter. Während dieser Verbeugung wandte sich Jurko an seinen Nachbarn und rief ihm zu: “Also los, Väterchen, trink doch auf das Wohl deiner Toten!”

                      Alles lachte mit, aber der Sargtischler fühlte sich beleidigt und zog die Stirn kraus. Niemand bemerkte es; die Gäste tranken weiter, und man läutete schon zur Vesper, als die Tafel aufgehoben wurde.

                      Die Gäste trennten sich spät, die meisten waren angeheitert. Der dicke Bäcker und ein Buchbinder, dessen Gesicht in einem roten Saffian-Einband zu stecken schien, führten Jurko untergefasst in sein Wächterhäuschen, wobei sich in diesem Fall das russische Sprichwort bewahrheitete: Die Schuld wird durchs Bezahlen schön.

                      Der Sargtischler kam betrunken und zornig nach Hause. “Ja, warum denn eigentlich,” grübelte er laut, “wieso ist mein Handwerk weniger ehrenhaft als jedes andere? Ist denn der Sargtischler ein Bruder des Henkers? Worüber lachen diese Mamelucken? Ist denn der Sargtischler ein Kirchweihgaukler? Ich hatte mir vorgenommen, sie alle zur Einzugsfeier zu laden und ihnen ein üppiges Festmahl vorzusetzen: damit ist es nun vorbei! Aber ich werde jene einladen, für die ich arbeite: die rechtgläubigen Toten!”

                      “Was hast du denn, Väterchen?” fragte die Magd, die ihm gerade die Stiefel auszog. “Was phantasierst du da! Bekreuzige dich! Tote zur Einzugsfeier zu laden! Was für ein Frevel!”

                      “Bei Gott, ich werde sie einladen”, fuhr Adrian fort, “und gleich für morgen. Ich bitte ergebenst meine Wohltäter, morgen abends bei mir zu speisen; ich werde euch mit allem bewirten, was mir Gott gegeben hat.”

                      Mit diesen Worten begab sich der Sargtischler zu Bett und begann bald zu schnarchen. Draußen war es noch dunkel, als Adrian geweckt wurde. Die Kaufmannsfrau Trjuchina war eben diese Nacht gestorben, und ein berittener Bote ihres Verwalters kam mit der Nachricht zu Adrian gesprengt.

                      Der Sargtischler gab ihm dafür einen Groschen Trinkgeld, zog sich eilends an, nahm einen Kutscher und fuhr nach dem Razgulaj. Vor dem Haustor der Verewigten stand schon die Polizei, Kaufleute gingen ein und aus wie Raben, die Aas wittern. Die Verstorbene lag auf dem Tisch, gelb wie Wachs, aber noch nicht entstellt von der Verwesung. Um sie herum drängten sich die Verwandten, Nachbarn und Hausleute. Alle Fenster standen offen; die Kerzen brannten: die Priester lasen Gebete.

                      Adrian ging auf den Neffen der Trjuchina zu, einem jungen Kaufmann in modischem Rock, und meldete ihm, dass der Sarg, die Kerzen, die Decken und das andere Bestattungszubehör sofort geliefert würden. Der Erbe dankte ihm zerstreut, indem er bemerkte, dass er um den Preis nicht feilschen und sich in allem auf Adrians Gewissenhaftigkeit verlassen werde.

                      Der Sargtischler schwur wie gewöhnlich, keinen überflüssigen Groschen von ihm zu nehmen, wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit dem Verwalter und fuhr davon, um alles Nötige zu veranlassen. Den ganzen Tag fuhr er vom Razgulaj zum Nikita-Tor und zurück; gegen Abend hatte er alles in Ordnung gebracht und ging, nachdem er seinen Kutscher entlassen hatte, zu Fuß nach Hause.

                      Es war eine helle Mondnacht. Der Sargtischler kam glücklich bis zum Nikita-Tor, an der Himmelfahrtskirche rief ihm unser Bekannter Jurko, der ihn erkannt hatte, ein “Gute Nacht” zu. Es war spät.

                      Der Sargtischler näherte sich schon seinem Haus, als es ihm plötzlich schien, als ob jemand zu seinem Tor ging, die Pforte öffnete und hinter ihr verwand. “Was könnte das bedeuten?” dachte Adrian. “Wer braucht mich denn schon wieder? Es wird sich doch nicht ein Dieb bei mir eingeschlichen haben! Oder sollten am Ende gar Liebhaber zu meinen Närrinnen kommen? Das werden die richtigen sein!”

                      Und der Sargtischler dachte schon daran, seinen Freund Jurko zu Hilfe zu rufen. In diesem Augenblick kam wieder jemand zur Pforte geeilt und wollte hinein; als er aber den Hausherrn herbeilaufen sah, blieb er stehen und zog grüßend seinen Dreispitz. Adrian kam sein Gesicht bekannt vor, aber in der Eile hatte er keine Zeit, es genau zu betrachten.

                      “Sie geruhen zu mir zu kommen?” sagte Adrian keuchend. “Treten Sie gütigst ein, bitte!”

                      “Mach keine Geschichten, Väterchen!” antwortete jener hohl! Adrian hatte keine Zeit, viele Umstände zu machen. Die Pforte war offen, er ging zur Treppe und jener kam hinter ihm her. Adrian kam es vor, als ob in seinen Zimmern Leute hin und her gingen. “Was ist das für ein Teufelsstücklein!” dachte er und beeilte sich einzutreten…

                      Da knickte er zusammen: das Zimmer war voll Verstorbener! Der Mond beschien durch das Fenster ihre gelben und blauen Gesichter, die eingefallenen Wangen, die trüben, halbgeschlossenen Augen und die hervorspringenden Nasen…

                      Adrian erkannte in ihnen mit Entsetzen die Leute, die er bestatten geholfen, und in dem Gast, der zusammen mit ihm hereingekommen war, den während des Platzregens beerdigten Brigadier. Sie alle, Damen und Herren, umdrängten den Sargtischler und begrüßen ihn mit Verbeugungen und Kratzfüßen; nur ein armer Schlucker, der vor kurzem umsonst bestattet werden musste und sich jetzt seiner Lumpen wegen sorgte und schämte, stand demütig im Winkel, ohne näherzukommen.

                      Alle übrigen waren gut angezogen: die verstorbenen Damen in Hauben und Bändern, die verstorbenen Beamten in Uniform, aber unrasiert, die Kaufleute in ihren Festtags-Kaftanen.

                      “Siehst du, Prochorov,” sagte der Brigadier im Namen der ganzen ehrenwerten Gesellschaft, “wir alle haben uns auf deine Einladung hin erhoben; nur jene sind zu Hause geblieben, die nicht mehr können, weil sie schon ganz auseinander gefallen und nur mehr Knochen ohne Haut sind; aber selbst da hat es einer nicht ausgehalten, er wollte zu gerne bei dir sein…”

                      In diesem Augenblick schob sich ein kleines Skelett durch die Menge und näherte sich Adrian. Sein Schädel grinste den Sargtischler freundlich an. Fetzen roten und hellgrünen Tuches und alter Leinwand hingen an ihm herunter wie an einer Stange, und die Knochen der Beine schlugen in den großen Kanonenstiefeln wie Stößel in Mörsern.

                      “Erkennt du mich nicht, Prochorov?” sagte das Skelett. “Erinnerst du dich des pensionierten Garde-Sergeanten Petr Petrowitsch Kurilkin, des nämlichen, den du im Jahre 1799 deinen ersten Sarg verkauft hast, und dazu noch einen fichtenen anstatt eines eichenen?”

                      Mit diesen Worten wollte der Verstorbene ihn in seine knöchernen Arme ziehen; aber Adrian nahm alle Kräfte zusammen, schrie auf und stieß ihn von sich. Petr Petrowitsch taumelte, schlug hin und fiel ganz auseinander.

                      Unter den Verstorbenen erhob sich ein unwilliges Gemurmel; alle traten für die Ehre ihres Kameraden ein, drängten sich schimpfend und drohend an Prochorov heran, und der bleiche Hauswirt, betäubt von ihrem Geschrei und fast erdrückt, verlor die Besinnung, fiel selbst auf die Knochen des pensionierten Garde-Sergeanten und blieb ohnmächtig liegen…

                      Die Sonne beschien schon längst das Bett, auf dem der Sargtischler lag. Endlich öffnete er die Augen und erblickte vor sich die Magd, die den Samowar entfachte. Mit Schrecken gedachte Prochorov all der gestrigen Ereignisse. Die Trjuchina, der Brigadier und der Sergeant Kurilkin spukten noch in seiner Phantasie. Er wartete schweigend darauf, dass die Magd mit ihm ein Gespräch über die letzten nächtlichen Abenteuer beginnen würde.

                      “Du hast aber schön verschlafen, Väterchen Adrian Prochorovitsch!” sagte Aksinja, indem sie ihm den Schlafrock reichte. “Der Nachbar Schneider war schon hier, und der Polizist kam mit der Nachricht gelaufen, dass der Reviervorsteher Namenstag hat; aber du geruhtest zu schlafen, und wir wollten dich nicht wecken.”

                      “Und hat man von der verewigten Trjuchina nicht nach mir geschickt?”

                      “Der verewigten? Ja, ist sie denn gestorben?”

                      “Ach du Närrin! Hast du mir nicht gestern selbst geholfen, ihr Begräbnis vorzubereiten?”

                      “Ja Väterchen, bist du um den Verstand gekommen, oder ist dein gestriger Rausch noch nicht verflogen? Was soll denn gestern für ein Begräbnis gewesen sein! Du hast den ganzen Tag bei dem Deutschen geschmaust, bist betrunken nach Hause gekommen, hast dich ins Bett gewälzt und bis jetzt geschlafen; eben haben sie zum Amt geläutet.”

                      “Wirklich?” sagte der Leichenbestatter erfreut.

                      “Nicht anders”, entgegnete die Magd.

                      “Ja, wenn es so ist, dann gib mir den Tee und ruf die Töchter.”

                      Der Sargtischler – Alexander Puschkin - Novelle - Sarg Leben Tod

                      Autor*in: Alexander Puschkin

                      Bewertung des Redakteurs:

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                        Die letzten Habseligkeiten des Sargtischlers Adrian Prochorov wurden auf den Leichenwagen geworfen, und das hagere Gespann schleppte sich zum vierten Mal von der Basmanaja in die Nikitskaja, wohin der Sargtischler mit seinem ganzen Haus übersiedelte.